Nachricht | Partizipation / Bürgerrechte - Migration / Flucht - Osteuropa Polen - ein bikulturelles Land, aber kein multikulturelles Land

Über den unterschiedlichen Umgang mit Hilfesuchenden

Information

Abgenutze Kleidung im Białowieża-Urwald, Polen, 16. August 2022
Abgenutzte Kleidung von Said, einem Geflüchteten aus dem Kongo, der vier Tage lang in den Wäldern herumirrte, um polnischen Grenzpatrouillen zu entgehen. Er versteckt sich vor den Behörden und der gewaltsamen Rückschiebung nach Belarus. Białowieża-Urwald, Polen, August 2022, Foto: IMAGO / ZUMA Wire

Zum ersten Mal in der Nachkriegsgeschichte ist Polen zu einem Staat mit mehr als einer Kultur geworden. Dies wurde durch Wladimir Putins völkerrechtswidrigen Krieg gegen die Ukraine und den von Alexander Lukaschenko in Belarus ausgeübten Terror bewirkt. Die Flüchtlinge aus der Ukraine, die den Polen kulturell, historisch und sprachlich nahestehen, werden gut aufgenommen, erhalten Hilfe von der Öffentlichkeit und ein relativ hohes Maß an Empathie.

Auch Belaruss*innen, die vor der Verfolgung durch Präsident Lukaschenko fliehen, werden freundlich aufgenommen, wenngleich ihre Anzahl mit der der Flüchtlinge aus der Ukraine nicht zu vergleichen ist. Ganz anders sieht es mit mehreren Tausend Flüchtlingen aus anderen Ländern aus, die seit August 2021 versuchen, über die polnisch-belarussische Grenze zu gelangen. Menschen beispielsweise aus Syrien, Irak, Äthiopien, Jemen, Afghanistan, der Türkei, Iran und Eritrea sowie Palästinenser*innen und Kurd*innen, die von Menschenhändlern nach Minsk gebracht wurden, waren für den belarussischen Diktator eine Möglichkeit, das Grenzgebiet zu destabilisieren, und – wie Militärexpert*innen sagen – für Putin ein Test auf die Reaktion Polens vor seinem Angriff auf die Ukraine. Wir haben den Test nicht bestanden, da wir die Grenze geschlossen und die Geflüchteten zurückgewiesen haben, auch Frauen und Kinder. Aber überraschenderweise haben wir den späteren Test, Millionen von Ukrainer*innen zu helfen, gut gemeistert.

Stacheldraht an der EU-Grenze

Allerdings funktioniert die Flüchtlingsroute aus Minsk bis heute, da helfen keine Sperren mit Stacheldraht, Sumpfgebiete und Grenzschutzpatrouillen. In einer routinemäßigen Mitteilung der Grenzschutzbehörde vom 24. April 2023 heißt es: «Die Grenzschutzbeamten der Dienststelle Podlasie haben festgestellt, dass 78 Personen versucht haben, illegal von Belarus nach Polen zu gelangen. Vier Personen haben den Grenzfluss Svisloch überquert. Die Ausländer, die die Grenze unseres Landes illegal überquert haben, wurden an den von den Grenzschutzposten geschützten Abschnitten in Białowieża, Krynki, Mielnik, Bobrowniki, Dubicze Cerkiewne, Czeremcha und in Narewka ermittelt. Im Bereich des Grenzschutzpostens in Bobrowniki haben vier Emigranten aus Äthiopien (...) den Grenzfluss Svisloch überquert. Seit Anfang 2023 haben Bürger aus 38 verschiedenen Ländern versucht, den Grenzabschnitt von Podlasie der polnisch-belarussischen Grenze zu überqueren.» Eine weitere Information teilte die Grenzschutzbehörde am 2. Mai mit: «Gestern wurden 101 Versuche unternommen, illegal über die Grenze von Belarus nach Polen zu gelangen. Am Sonntag (30. April 2023) wurden 56 Vorfälle illegaler Emigration registriert, am Samstag 31, und am Freitag 75. In dem vom Grenzschutzposten in Bobrowniki geschützten Grenzabschnitt versuchten Ausländer, illegal über den Grenzfluss Svisloch nach Polen einzureisen – drei Personen (ein Kongolese, ein Togolese und ein Sudanese) am Montag, dem 1. Mai, und zwei Personen (aus Gabun und Guinea) am Sonntag, dem 30. April dieses Jahres. Sechs Helfer, die an der Organisation des illegalen Grenzübertritts beteiligt waren, wurden ebenfalls festgenommen».

Zuzanna Dąbrowska, polnische Journalistin, absolvierte ein Studium der Sozialpolitik an der Universität Warschau. In den 1980er Jahren war sie aktiv in der demokratischen Opposition – sie war Mitbegründerin der Bewegung für Freiheit und Frieden und der Polnischen Sozialistischen Partei. Derzeit schreibt sie für die polnische Tageszeitung Rzeczpospolita.

Daraus kann man schließen, dass im Frühjahr durchschnittlich etwa 100 Personen pro Tag versuchten, die Grenze zu überqueren, trotz der strengen Grenzschutzkontrollen, der gefährlichen Sperren und der natürlichen Sumpf-, Überschwemmungs- und Wassergebiete in den Grenzabschnitten. Somit wird dieser Weg für den Menschenschmuggel immer noch genutzt und es ist möglich, die Grenze zur Europäischen Union auf diese Weise zu überqueren. Oder die Entschlossenheit der Flüchtlinge ist so groß, dass sie trotz der Informationen über die Zurückweisungen unter Lebensgefahr, immer noch versuchen, diesen Weg in eine bessere Welt zu nehmen. Die polnischen Behörden schweigen auf die Frage nach der geschätzten Anzahl von Menschen, denen die Flucht gelungen ist. Humanitäre Organisationen berichten, dass seit Beginn der Krise mehr als 220 Menschen an der polnisch-belarussischen Grenze getötet wurden.

Familien von Vermissten, wie zum Beispiel von Mohammed Sabah aus Äthiopien, sind in das Grenzgebiet gekommen. Sein Onkel Rekaut Rahid sucht nach ihm. Mohammed wird seit November 2021 vermisst, seit der polnische Grenzschutz ihn nach Belarus abgeschoben hat. Am 16. Februar wurde ein Toter im Białowieża-Urwald gefunden. DNA-Tests sollen klären, ob es sich um Mohammed handelt. Die polnische Botschaft in Äthiopien hat bei der Ausstellung von Visa für seinen Onkel und seinen Bruder geholfen.

Der 58-jähriger syrischer Flüchtling Mohammad hatte an der Grenze einen Unfall. Die Ärzt*innen kämpften drei Wochen lang auf der Intensivstation des Universitätsklinikums in Bialystok um sein Leben. Seine Frau Fatima erhielt kein polnisches Visum, weder als er um sein Leben kämpft, noch als sie zu seiner Beerdigung kommen wollte. Die polnische Botschaft in Syrien weigerte sich strikt, das Dokument auszustellen.

Die Beerdigung der 42-jährigen Livine aus Kamerun, die am 16. Februar an der Grenze gestorben ist, fand am 9. Mai statt. An der Beerdigung nahmen Ehrenamtliche sowie Verwandte der Verstorbenen teil, für deren Reise das Geld gemeinschaftlich gesammelt worden ist. Es für die Beerdigungskosten wurde Geldgesammelt. Auf dem Weg zum Flughafen wurde die Familie vom Grenzschutz festgehalten. Erst nach Intervention ihrer Vorgesetzten konnte die Familie ihren Weg fortsetzen.

Flucht vor dem Krieg

Der Krieg in der Ukraine dauert jetzt seit über einem Jahr und das Ausmaß der Emigration übersteigt alle bisherigen Erfahrungen des polnischen Staates. Seit dem 24. Februar 2022 als die russische Aggression begann, haben nach Angaben des Grenzschutzes 11,34 Millionen Flüchtlinge aus der Ukraine die polnisch-ukrainische Grenze überschritten. Nach Angaben des Grenzschutzes handelt es sich bei den Flüchtlingen hauptsächlich um Frauen und Kinder.

Wie entwickelt sich der Grenzverkehr an der polnisch-ukrainischen Grenze derzeit? Ein Beispiel für den Personentransfer von Ende April 2023: «Am 23. April kamen im Laufe des Tages 2.760 Menschen in Polen an. Am selben Tag verließen 26.100 Menschen Polen in Richtung Ukraine. Insgesamt sind seit Beginn des Krieges 9,569 Millionen Menschen in die Ukraine zurückgekehrt». Oft handelt es sich um Personen, die für kurze Zeit zurückkehren, um beispielsweise ihre von der Armee beurlaubten Ehemänner oder ihre Familien zu sehen oder um offizielle Angelegenheiten zu erledigen. Mehr als drei Millionen Flüchtlinge sind dauerhaft in Polen geblieben. Im vergangenen Jahr belief sich die öffentliche Hilfe Polens für die Ukraine auf 30 Milliarden Zloty (zuzüglich etwa 10 Milliarden Zloty aus der privaten Tasche der Pol*innen), das ist ungefähr ein Prozent von Bruttoinlandsprodukts. Seit März dieses Jahrs müssen sich Ukrainer, die länger als 120 Tage in Polen leben, an den Unterkunfts- und Verpflegungskosten beteiligen. Seit dem 1. Mai 2023 müssen Flüchtlinge, deren Aufenthalt 180 Tage übersteigt, 75 Prozent der Kosten tragen, jedoch nicht mehr als 60 Zloty pro Tag und Person. Dies resultiert aus dem Gesetze über die Hilfe für ukrainische Staatsbürger*innen. Es gilt für Personen, die in der Obhut des Staates und der lokalen Behörden sind. Nach Angaben des Ministeriums für Inneres und Verwaltung leben immer noch fast 82.500 Menschen in polnischen Studentenwohnheimen, Wohnheimen oder Hallen.

Dabei ist festzuhalten, dass sich schon vor Ausbruch des Krieges mehr als anderthalb Millionen Ukrainer, hauptsächlich Männer, in Polen aufhielten, vor allem aus beruflichen Gründen. Seit dem Überfall Russlands auf die Ukraine ist die Zahl der Menschen ukrainischer Herkunft in Polen um 1.602.976 gestiegen. Der größte Anstieg wurde im Mai 2022 verzeichnet, er betrug 3.468.068. Ab August letzten Jahres begann sich die Situation zu stabilisieren. Im Februar 2023 betrug die Zahl der Flüchtlinge schließlich 3.166.418, es waren hauptsächlich Frauen und Kinder. Offiziellen Angaben zufolge (nicht alle nehmen die Gelegenheit wahr, sich registrieren zu lassen) sind nur etwa 58.000 älter als 60 Jahre, fast 385.000 sind Frauen im erwerbsfähigen Alter, die größte Altersgruppe machen die 35-bis-49-Jährigen aus. Mehr als 120.000 sind Männer. Die meisten Männer im Alter von 19 bis 24 Jahren (fast 26.000) sind Studenten, die nicht unter die Mobilisierungspflicht und das Verbot von Reisen außerhalb der Ukraine fallen. Seit Beginn des Krieges haben mehr als 900.000 Menschen ukrainischer Herkunft Polen in andere Länder verlassen, was auf die von der Europäischen Union eingeführten Erleichterungen beim Grenzübertritt zurückzuführen ist.

Die Bevölkerung Polens beträgt nach Angaben des Statistischen Zentralamtes 37,767 Millionen. Es kann die These aufgestellt werden, dass sich durch das riesige Ausmaß der ukrainischen Emigration die Bevölkerungsstruktur Polens verändert hat.

Ein Land, eine Nation

Das Phänomen der Massenmigration, mit dem Polen derzeit konfrontiert ist, sollte aus der historischen Perspektive betrachtet werden. Die Grenzen Polens nach dem Zweiten Weltkrieg wurden auf den Konferenzen der Großen Drei, der Westmächte und der UdSSR, in Teheran (28. November bis 1. Dezember 1943), Jalta (4. bis 11. Februar 1945) und schließlich in Potsdam (17. Juli bis 2. August 1945) festgelegt. Als Ostgrenze Polens wurde die so genannten Curzon-Linie festgelegt, die die östlichen Gebiete des Landes auf ethnisch polnische Gebiete beschränkte. Die Bürger*innen der Volksrepublik Polen waren praktisch «auf sich allein gestellt», fast ohne nationale Minderheiten, andere Religionen, Sprachen und Sitten. Der Grenzverlauf stimmte weitgehend mit den deutsch-sowjetischen Vereinbarungen vom 28. September 1939 überein, einer Klausel aus dem berühmten Molotow-Ribbentrop-Pakt. Und somit wundert es auch nicht, dass dieses Konzept Stalin am besten gefiel.

Die Behörden der Volksrepublik Polen pflegten diese ethnische Einheitlichkeit sorgfältig und vertraten im Wesentlichen dieselbe Auffassung von der Nation wie die Nationalist*innen der Vorkriegszeit, angeführt von ihrem wichtigsten Aktivisten Roman Dmowski. Er war es, der in der Zwischenkriegszeit in den «Gedanken eines modernen Polen» schrieb: «Wenn sich Polen in erheblichem Maße nach Osten, in sprachlich nichtpolnische Gebiete, bewegen würde und die autochthonen polnischen Gebiete im Westen nicht in seine Grenzen einschließen würde, würde es aufhören, ein Nationalstaat zu sein, und – angesichts der politischen Entwicklung in Europa – bald aufhören, überhaupt ein Staat zu sein.» Dieser Gedanke, der den Staat auf die polnisch stämmige Bevölkerung beschränkt, wurde zur Grundlage Polens nach 1945.

Es sei daran erinnert, dass vor dem Zweiten Weltkrieg 35 Prozent der polnischen Bevölkerung nationalen Minderheiten bestand, wobei die jüdische Diaspora die größte war. Die jüdischen Überlebenden des Holocaust wurden von den Behörden der Volksrepublik Polen in zwei großen Wellen vertrieben: in den späten 1950er Jahren und bei den so genannten «März-Ereignissen» im Jahr 1968. Die Geschichte der polnisch-ukrainischen Spannungen und Konflikte in der Zwischenkriegszeit ist ein politischer Thriller, nicht ohne Attentate und gewaltsame Todesfälle – man denke nur an die Ermordung von Bronisław Pieracki, einem Politiker der Piłsudski nahestand, im Jahr 1934. Er war Innenminister und wurde im Zentrum von Warschau von einem Mitglied der Organisation ukrainischer Nationalisten (OUN), Hryhoriy Maciejka, erschossen und starb an seinen Verletzungen. Die größte Tragödie in den polnisch-ukrainischen Beziehungen ist jedoch vor allem das Massaker von Wolyn, der 1943 von ukrainischen Nationalisten mit aktiver Unterstützung der örtlichen ukrainischen Bevölkerung an der polnischen Minderheit verübte Völkermord. Infolge dieser Ereignisse wurden nach Schätzungen von Historikern etwa 50.000 Pol*innen und – als Vergeltungsmaßnahme – mehrere Tausend Ukrainer*innen getötet. Die Wahrheit über diese Ereignisse blieb Forschern und der Öffentlichkeit viele Jahre lang verborgen, und ihre schrittweise Offenlegung seit den 2000er Jahren hat auf beiden Seiten zu Spannungen und nationalistischen Zwischenfällen geführt.

Nach der Volkszählung 2021 waren die zahlreichsten nationalen Minderheiten in Polen Deutsche, Ukrainer*innen und Belaruss*innen. Allerdings gaben mehr als 97,7 Prozent der Bürger*innen bei der Volkszählung eine polnische Abstammung an. Am 24. Februar 2022 begann der Prozess der Umwandlung Polens in eine binationale Gesellschaft. Wie wird er ausgehen? Der Ausgang des Krieges, die Entscheidungen internationaler Institutionen wie der NATO oder der Europäischen Union, die Hilfe für die Ukraine nach dem Krieg und die persönlichen Entscheidungen der Ukrainer*innen werden darüber entscheiden. Im Moment sind die polnischen Behörden mit verschiedenen Herausforderungen konfrontiert, die sowohl mit der Anwesenheit von Flüchtlingen als auch mit den wirtschaftlichen Folgen des Krieges zusammenhängen, zum Beispiel mit der Überschwemmung des polnischen Marktes mit Lebensmitteln, vor allem mit Getreide.

Wer sind die Flüchtlinge?

Die Rzeczpospolita veröffentlichte im April einen Bericht auf der Grundlage von Mobilfunkdaten, die von Selectivv zusammengestellt wurden. Daraus geht hervor, dass nur einer von fünf ukrainischen Staatsbürger*innen unter denjenigen, die sich im Januar 2023 in Polen aufhielten, auch schon ein Jahr zuvor, im Januar 2022, im Land war. Die Analyse der Nutzer von Mobilgeräten der Ukrainer*innen in Polen basiert auf Geolokalisierungsdaten, der Gerätesprache, Besuchen in der Ukraine und der Nutzung ukrainischer SIM-Karten. Die Untersuchung verglich die in Polen lebenden Ukrainer*innen vor dem 24. Februar 2022 und heute.

Die Zeitung zitiert den Präsidenten von Selectivv, Aleksander Luchowski, der der Meinung ist, dass «wir zwei völlig unterschiedliche Gruppen von Ukrainern in Polen haben». Er weist darauf hin, dass die Analyse zeige, dass der materielle Status der neuen Emigrat*innen aus der Ukraine sich sehr von dem derer unterscheide, die schon vor dem Krieg in Polen waren. Während im Januar 2022 nur sechs Prozent der ukrainischen Bevölkerung in Polen einen sehr guten materiellen Status hatten, 24 Prozent einen guten und 64 Prozent einen durchschnittlichen, wurden bereits ein Jahr später erhebliche Veränderungen festgestellt. Der Anteil derjenigen mit einem sehr guten materiellen Status stieg um sieben Prozentpunkte auf 13 Prozent, der mit einem guten materiellen Status sogar um 30 Prozentpunkte auf 54 Prozent, so Luchowski. «Man kann also davon ausgehen, dass es sich bei den Kriegsflüchtlingen, die in den letzten zwölf Monaten nach Polen gekommen sind, größtenteils um Menschen mit einem guten und sehr guten materiellen Status handelt», erklärt der Experte in dem Artikel der Rzeczpospolita. Miroslaw Skroka, Vorsitzender des Verbandes der Ukrainer in Polen, sagte zu den Ergebnissen: «Ukrainische Studien zeigen, dass rund 70 Prozent der Emigrantinnen eine höhere Bildung haben. Daher ihre Interessen, zum Beispiel an der Kultur».

Die bessere materielle Situation beeinflusst die Art und Weise, wie sie ihre Freizeit verbringen: Der Anteil der Besucher*innen von Schwimmbädern und Fitnessstudios stieg von fünf Prozent im Jahr 2022 auf 18 Prozent, der Anteil der Besucher*innen von Kinos und Theatern von einem Prozent auf vier Prozent. Dagegen ging der Anteil der Kneipen- und Restaurantbesucher*innen zurück um ganze 30 Prozentpunkte von 36 Prozent auf sechs Prozent zurück.

Kinder, die nicht zur Schule gehen

Eine große Veränderung in der Bevölkerung ukrainischer Herkunft besteht darin, dass die Zahl der unter 18-Jährigen innerhalb von 12 Monaten von etwa 200.000 auf 1,4 Millionen gestiegen ist. Die Analysen zeigen auch, dass im Laufe des Jahres Nicht-Eltern eher Polen verlassen haben.

Leider fand sich eine große Gruppe ukrainischer Kinder außerhalb des polnischen Bildungssystems wieder. Experten schätzen, dass sich bis zu 300.000 Kinder im schulpflichtigen Alter in dieser Situation befinden könnten. Nur 200.000 von ihnen besuchen polnische Schulen, die übrigen geben in der Regel an, dass sie online lernen, was unter Kriegsbedingungen jedoch nur sehr schwer zu überprüfen ist.

Amnesty International (AI) hat zu diesem Thema einen Bericht verfasst, der sich unter anderem auf Daten des Ministeriums für Bildung und Wissenschaft (MEiN) stützt, die aber leider sehr spärlich sind. Dies liegt daran, dass das Ministerium «die Zahl der Kinder und Jugendlichen, die ab dem 24. Februar 2022 aus der Ukraine nach Polen kommen und nicht in polnischen Bildungseinrichtungen eingeschrieben sind, nicht überwacht» - wie AI als Antwort auf eine Anfrage mitgeteilt wurde. MEiN sammelt auch keine Informationen darüber, wie viele ukrainische Flüchtlinge und weibliche Flüchtlinge im schulpflichtigen Alter, die sich in Polen aufhalten, im ukrainischen Bildungssystem online lernen.

Das Fehlen eines Überblicks oder auch nur von Versuchen, Informationen zu diesem Thema zu sammeln, ist umso gefährlicher, weil, wie Amnesty betont, «einige ukrainische Kinder trotz der großen Hilfe und herzlichen Aufnahme durch die polnische Gesellschaft Diskriminierung und Feindseligkeit seitens polnischer Schulkinder und ihrer Eltern erfahren». In Anbetracht dessen erscheint es notwendig, eine systematische interkulturelle und Antidiskriminierungserziehung einzuführen. Leider fehlt dies in den polnischen Schulen. Ein solcher Unterricht wird nur auf Eigeninitiative der Schulen in Zusammenarbeit mit Nichtregierungsorganisationen eingeführt. «In der Zwischenzeit konzentriert sich das Ministerium auf die Einführung von mehr Kontrollen in den Schulen und drängt auf eine Änderung des Bildungsgesetzes, gegen die der polnische Präsident zweimal ein Veto eingelegt hat und deren Verabschiedung die Durchführung eines solchen Unterrichts erheblich erschweren würde», warnt die Organisation.

AI weist auch darauf hin, dass nach den Empfehlungen des Ministeriums für Bildung und Nationales Erbe nur diejenigen ukrainischen Schüler*innen und Student*innen, die sich gut genug auf Polnisch verständigen können, um am Unterricht teilzunehmen, so genannte gemischte Klassen besuchen sollten, das heißt Klassen gemeinsam mit polnischen Kindern. Inzwischen besucht die Mehrheit der Kinder gemischte Schulen nicht wegen ihrer guten polnischen Sprachkenntnisse, sondern aus Mangel an Einrichtungen zur Vorbereitung. Im Vergleich zum letzten Schuljahr ist die Zahl dieser Einrichtungen deutlich von 2414 auf 956 gesunken, wobei nur 15.000 ukrainische Kinder diese besuchen.

Diese Einrichtungen zur Vorbereitung sind eine ziemliche Herausforderung, denn «Polen hat seit Jahren mit einem gravierenden Personalmangel in den Schulen zu kämpfen, insbesondere in den Großstädten. Ein weiteres Problem ist die unzureichende Infrastruktur. Deshalb besuchen Schüler und Studenten, die kein Polnisch verstehen, den Unterricht in dieser Sprache zusammen mit den polnischen Kindern», heißt es in dem AI-Bericht.

Desinformation und Hassreden

Meinungsumfragen zeigen weiterhin eine allgemein positive Haltung der polnischen Öffentlichkeit gegenüber Flüchtlingen aus der Ukraine. Wie der Leiter des Meinungsforschungsinstituts IBRiS, Marcin Duma, betont, kann man seit Ausbruch des Krieges drei Phasen der Stimmung in der Öffentlichkeit unterscheiden. Zunächst gab es eine «weit verbreitete Mobilisierung der Hilfe», Selbstorganisation und die Entschlossenheit, die aus den Kriegsgebieten fliehenden Menschen so gut wie möglich zu versorgen. Nach und nach wurde diese Haltung jedoch durch Ängste vor den Folgen der Emigration und des Krieges selbst, zum Beispiel. Engpässen bei der Energieversorgung getrübt. Solche Ängste gab es vor allem im Herbst, als die Aussicht auf Kohle- und Gasknappheit drohte. Im Winter hat sich jedoch herausgestellt, dass viele dieser Bedrohungen nicht eingetreten sind. Wir befinden uns jetzt in der Phase der Beruhigung und Rationalisierung der Einstellung zur Massenmigration.

Das Schüren von Ängsten und Vorurteilen wurde durch die Desinformationskampagnen im Internet beeinflusst, die sowohl von «Kreml-Trollen» als auch von bestimmten politischen Kreisen in Polen durchgeführt wurden, darunter die Anti-Impf-Bewegung, die in Ermangelung eines Anlasses, um den Menschen Angst vor den Folgen der Covid-19-Impfung zu machen, dazu übergegangen ist, den Ukrainern Angst zu machen.

Der Verein Demagog erstellt zusammen mit dem Institut für Medienbeobachtung systematische Berichte über Desinformationen über Ukrainer*innen. So wurde beispielsweise im November 2022 eine Analyse erstellt, aus der hervorging, dass im Berichtsmonat nicht weniger als 73.000 polnisch sprachige Beiträge und Kommentare ermittelt wurden, die sich «negativ auf die ukrainische Gemeinschaft bezogen». «Zu den beliebtesten Twitter-Accounts (ein Medium, in dem sich mehr als 90 Prozent der anti-ukrainischen Posts konzentrieren), die Desinformationen über die Ukrainer*innen verbreiten, gehört der Account von Grzegorz Braun, einem Mitglied des polnischen Parlaments, einem der Vorsitzenden der Konfederacja-Koalition», schreiben die Autoren. Seine Partei hat auch eine Broschüre verfasst, in der es unter anderem heißt, dass «die Anwesenheit einer großen ukrainischen Minderheit in Polen zu einem negativen Import zahlreicher Beeinträchtigungen des gesellschaftlichen Lebens von jenseits der Ostgrenze führen wird; von Korruption und Kriminalität bis hin zu Forderungen nach einem leichteren Zugang zur Abtreibung». Als charakteristisches Beispiel für politische Einflussnahme führen die Autoren des Berichts die Ämter der Bildungsbeauftragten Barbara Nowak der Region Małopolska an, die von Bildungsminister Przemysław Czarnek (Partei «Recht und Gerechtigkeit») mehrfach wegen extremer Äußerungen in Schutz genommen werden musste. So schrieb Nowak zum Beispiel: «Die Welle von Ukrainern, die vor dem Krieg fliehen, hat einheimische antipolnische Kreise mit der Hoffnung erfüllt, zumindest einen Teil des Polentums auszurotten. Unter dem Vorwand, sich um die Gefühle der Ukrainer zu kümmern, fordern sie das Ende des Unterrichts der polnischen Geschichte und Literatur. Wir stimmen nicht zu, das Polentum aufzugeben».

Im dritten Bericht über antiukrainische Propaganda wurden nach Angaben des Instituts für Medienbeobachtung IMM vom 1. November 2022 bis zum 31. Januar 2023 insgesamt fast 180.000 Beiträge und Kommentare verzeichnet, die die Ukraine und die Ukrainer*innen abwerten. Im Januar wurden durchschnittlich 77 Beiträge und Kommentare pro Stunde veröffentlicht, die sich negativ auf die Ukraine und die Ukrainer*innen bezogen.

Die Autoren des Berichts weisen darauf hin, dass antiukrainische Inhalte oft nicht von den Administratoren der Seiten moderiert werden. Dies war im Januar unter anderem bei Poranny.pl, Money.pl, GazetaWroclawska.pl und Dziennik.pl der Fall, wo antiukrainische Kommentare, die im Januar veröffentlicht wurden, am 14. März, zum Zeitpunkt der Erstellung des Berichts, immer noch sichtbar waren. «Wir haben wieder die zehn beliebtesten Facebook- und Twitter-Konten identifiziert, die antiukrainische Propaganda verbreiten. Die meisten von ihnen waren bereits im November und Dezember letzten Jahres in unserer Liste vertreten, was bedeutet, dass die meisten Akteure der antiukrainischen Propaganda konstant sind. Unter ihnen befand sich erneut das Konto des Abgeordneten Grzegorz Braun auf Twitter und Facebook sowie die Konten der im Sejm vertretenen Parteien, die Teil der Konfederacja sind», berichten die Autoren der Studie.

Das änderte sich auch in der nächsten Ausgabe des Berichts nicht. Im Februar und März dieses Jahres wurden fast 120.000 antiukrainische Beiträge und Kommentare beobachtet. Im Durchschnitt erschienen jede Stunde mehr als 80 Beiträge, die sich negativ auf die ukrainische Nation bezogen. Auf der Grundlage der gesammelten Daten errechnen die IMM-Analysten, dass sich täglich über tausend Personen auf diese Weise in den polnischen sozialen Medien äußern. «Sowohl im Februar als auch im März gab es über 110.000 Tweets (einschließlich Retweets), was 92 Prozent aller identifizierten Beiträge und Kommentare ausmacht. Was die Zahl der antiukrainischen Veröffentlichungen angeht, liegt Facebook mit 6.200 Beiträgen in beiden Monaten (fünf Prozent) weit hinter Twitter», betont IMM.

Was verstärkt die negativen Kampagnen im Internet? Im Februar 2023 beispielsweise erschien die meisten negativen Posts am 3. Februar und fielen mit dem Besuch des stellvertretenden Ministerpräsidenten und Ministers für nationale Verteidigung Mariusz Błaszczak in Kiew zusammen. Im darauffolgenden Monat war die hasserfüllte Berichterstattung vom 18. und 19. März am stärksten, zeitgleich mit einer von Bürger*innen aus der Ukraine in Kraków organisierten Demonstration, bei der die Freilassung ukrainischer Gefangener in russischen Gefängnissen gefordert wurde. «Während der beiden Ereignisse gab es einen deutlichen Anstieg antiukrainischer Beiträge im Internet. Aus unseren Berichten geht klar hervor, dass Ereignisse und Nachrichten im Zusammenhang mit der Ukraine immer wieder zu einem Brennpunkt erhöhter Aktivität von Internetnutzern werden, die am häufigsten negative Meinungen über die Ukraine veröffentlichen», sagt Monika Ezman, Direktorin des Qualitätsmanagementzentrums und des Analysebereichs des Instituts für Medienbeobachtung.

Das Problem wurde auch von der Vereinigung «Never Again» in Zusammenarbeit mit SentiOne untersucht. Demnach erschienen in den letzten zwölf Monaten «fast 400.000 anti-ukrainische Äußerungen im polnischen Internet mit etwa 550 Millionen Seitenaufrufen». Dem Verband zufolge sind die beliebtesten fremdenfeindlichen Slogans im Internet #stopukrainizacjiPolski, banderowcy, banderyzm und banderyzacja sowie Ukropol/Ukrpold (ukropol ist eine Verschwörungstheorie, der zufolge Ukrainer*innen «Polen anstelle von Polen*innen regieren» werden).

Nach Angaben des staatlichen Forschungsinstituts NASK wiederum werden antiukrainische desinformierende Inhalte größtenteils von Menschen und nicht von Bots veröffentlicht. «In den polnischen sozialen Medien hat NASK seit Beginn des Krieges in der Ukraine 1.592 hochgradig schädliche Konten ausfindig gemacht, aber wichtig ist, dass es sich bei keinem von ihnen um Bots handelt», berichtet das Branchenportal Virtual Media. 521 Desinformationsfälle wurden von der NASK an die öffentlichen Verwaltungsbehörden gemeldet.

Hilfe nicht für jeden

Trotz der Probleme, die sich im Zusammenhang mit der massenhaften Kriegsmigration aus der Ukraine aufgrund historischer Hintergründe und aktueller Gegebenheiten ergeben, kann der gesamte Prozess bisher durchaus positiv bewertet werden. Die Kriegsflüchtlinge haben die notwendige Unterstützung erhalten und sind in Polen gut aufgenommen worden. Die polnische Wirtschaft und das Rentensystem profitieren von dem Zustrom neuer Arbeitskräfte, derzeit vor allem Frauen, die Beschäftigungslücken im Dienstleistungssektor, im Gesundheitswesen oder im Handel schließen. Die schwerwiegendsten Spannungen betreffen makroökonomische Phänomene im Zusammenhang mit der Öffnung der EU-Grenzen für ukrainische Lebensmittel. Dies wirkt sich negativ auf die zwischenstaatlichen Beziehungen aus, hat aber kaum Auswirkungen auf die Atmosphäre zwischen den Menschen und den Aufbau neuer sozialer Beziehungen.

Der Aufbau eines Unterstützungssystems für Flüchtlinge, das zwar unzureichend ist, es ihnen aber ermöglicht, zu leben, sich niederzulassen und eine Beschäftigung aufzunehmen, beweist, dass Polen in der Lage ist, Menschen aufzunehmen, die vor Krieg fliehen oder bessere wirtschaftliche Möglichkeiten suchen. Umso erstaunlicher ist es, dass die Behandlung von Emigranten anderer Hautfarbe, die die polnisch-belarussische Grenze illegal überschreiten, so unterschiedlich ist. Natürlich, der Krieg spricht das Mitgefühl direkt an. Aber auch Menschen aus dem Nahen Osten oder Afrika kommen meist von Orten, an denen ihr Leben und ihre Lebensgrundlage bedroht sind. Da es weit weniger von ihnen gibt, besteht kaum Zweifel daran, dass Polen kaum Probleme hätte, sie in seinem Hoheitsgebiet aufzunehmen. Es ist auch nicht sicher, dass die polnischen Bürger*innen den Flüchtlingen aufgrund ihrer kulturellen Unterschiede das Recht verweigern würden, in der polnischen Gesellschaft zu leben. Rassistische Vorfälle kommen in Polen zwar vor, aber nicht häufiger als in anderen europäischen Ländern. Aber anstatt es zu versuchen, haben sich die Behörden darauf konzentriert, Angst vor ihnen zu schüren und zu beweisen, dass die Flüchtlinge nicht einmal elementare humanitäre Hilfe verdienen, da das Lukaschenko-Regime hinter der Organisation ihres Schmuggels stecke. Und selbst wenn sie nicht nach Belarus zurückgeschickt werden, landen sie in den meisten Fällen in bewachten Zentren, ohne Kontakt zu ihren Familien, und werden wie Kriminelle behandelt. Aus diesem Grund kommt es 2022 und im Frühjahr 2023 immer wieder zu Protesten und Hungerstreiks in diesen Haftanstalten. Im April befanden sich mindestens zwanzig Personen in den Haftanstalten in Przemyśl, Wędrzyn, Białystok und Krosno Odrzańskie im Hungerstreik. Sie alle forderten ihre Freilassung, da sie nicht verstehen, warum sie noch immer inhaftiert sind. Wie die Demonstrant*innen in Lesznowola schrieben, fordern sie «ein Ende der ungerechtfertigten Verlängerung der Inhaftierung, die für Menschen, die um internationalen Schutz bitten, völlig unverständlich ist».

Die Geschichte der beiden Migrationsbewegungen an der polnischen Ostgrenze beweist, dass es keine einheitliche Migrationspolitik gibt, die auf rationalen, humanistischen Gründen beruht, und dass die Vorschriften der Europäischen Union nicht ausreichen, um sicherzustellen, dass an ihren Grenzen die gleichen Verfahren für alle Kriegsopfer angewandt und dass Menschen mit unterschiedlichem kulturellen Hintergrund und unterschiedlicher Hautfarbe gleichbehandelt werden.