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Der Wahlsieger Javier Milei und seine Verbindungen zum globalen Rechtsextremismus

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Julia Almeida,

Wahlkampfabschlusskundgebung von Javier Milei in der Movistar Arena in Buenos Aires, Argentinien, 18.10.2023. Foto: IMAGO / SOPA Images

Seit dem 9. Dezember 2023 ist Javier Milei Argentiniens neuer Präsident. Internationale Nachrichtenagenturen stufen ihn als Radikal-Liberalen ein, allerdings nicht als Vertreter der weltweit vernetzten extremen Rechten. Genau das aber ist Milei.

Aus der argentinischen Präsidentschaftswahl ging am 19. November 2023 der Oppositionskandidat und selbst ernannte «Anarchokapitalist» Javier Milei als Gewinner hervor. Er erhielt 55,7 Prozent der gültigen Stimmen und gewann in 21 der 24 argentinischen Provinzen, nachdem er in der ersten Runde der Wahl noch lediglich 30 Prozent errungen hatte. Die vom bisherigen Wirtschaftsminister Sergio Massa angeführte Unión por la Patria konnte sich mit insgesamt 44,3 Prozent der Stimmen dagegen nur in drei Provinzen durchsetzen und verlor damit auch in zehn Provinzen, in denen sie bis dahin stärkste Kraft gewesen war. Diese Wahl wird das politische Gefüge des Landes neu definieren.

Julia Almeida ist Rechtsanwältin in Brasilien und Mitglied des Arbeitskreises für Forschung über Gewalt der Universität von Sao Paulo (NEV/USP).

Wer ist Javier Milei? Und wie hat er die Wahlen gewonnen?

Der Wahlsieg Mileis ist zum Großteil auf die soziale Unzufriedenheit mit der Vorgängerregierung zurückzuführen. Ein wichtiger Faktor war aber auch Mileis strategische Bündnis mit der rechtskonservativen PRO-Partei von Mauricio Macri (2015-2019 Präsident des Landes), das zudem von der diesjährigen Präsidentschaftskandidatin Patricia Bullrich unterstützt wurde, die mit 23,9 Prozent die drittmeisten Stimmen erhielt.

Die Kampagne von Mileis Partei La Libertad Avanza basierte auf der Mobilisierung junger Menschen (vor allem junger Männer) unter dem Motto «Viva la libertad, carajo!» [Es lebe die Freiheit, verdammt!] und auf einem radikal neoliberalen Programm, das die Einführung des US-Dollars als nationale Währung und die Schließung der argentinischen Zentralbank vorsieht. In der Stichwahl polarisierte Milei mit Slogans wie «Freiheit oder Kaste», «Wandel oder Kontinuität» und wiederholte unaufhörlich die Behauptung, dass sein Rivale Sergio Massa Lügen verbreite und die Bevölkerung einschüchtere.

Einige der größten Zeitungen der Welt betrachten Milei als «Anarchokapitalisten» oder «Radikalen», verorten ihn allerdings nicht in der globalen extremen Rechten. Vielmehr wird seine politische Agenda als liberal oder neoliberal angesehen. Das Hauptargument für diese Einordnung ist die Behauptung, dass die öffentliche Kampagne Mileis keine der Forderungen enthalte (u.a. Antifeminismus, Anti-LGBTQI+, Rassismus, Beziehungen zu Militär und Polizei sowie Liberalisierung des privaten Waffenbesitzes), die die Agenda der globalen extremen Rechten aktuell kennzeichnen.

Das genaue Gegenteil ist allerdings der Fall: Die Kandidatur von Javier Milei und seiner Vizepräsidentin Victoria Villarruel ist Teil der Strategie der südamerikanischen extremen Rechten; ihr Wahlprogramm weist sehr wohl autoritäre Züge auf, die charakteristisch für ebendiese ideologischen und politischen Grundsätze sind.

Die Krisen-Wahl

Die Wahlen fanden inmitten einer wirtschaftlichen und sozialen Krise statt. Diese ist gekennzeichnet durch die Abwertung des Argentinischen Peso und die Hyperinflation, die Auslandsverschuldung und die Zunahme von Armut und prekären Arbeitsbedingungen. Die rechten Kräfte machten für all das die amtierende Regierung von Alberto Fernández – und im weiteren Sinne den Peronismus und die Proteste der sozialen Bewegungen – verantwortlich.

Neben der Wirtschaftskrise bestimmte ein weiteres Thema die Agenda der letzten Jahre und damit auch den Wahlkampf: die Legalisierung von Schwangerschaftsabbrüchen im Jahr 2020. Die gesetzliche Legalisierung mobilisierte landesweit eine bedeutende Anzahl an Frauen*- und feministischen Organisationen, rief aber auch starken Widerstand konservativer Kräfte hervor, die wichtige Allianzen mit der Opposition (einschließlich der katholischen Kirche, die sich inzwischen jedoch gegen Javier Milei gestellt hat) schmiedeten.

Ein dritter Aspekt ist die Zunahme der politischen Gewalt in der Öffentlichkeit, die im September 2022 mit dem Attentat auf die Vizepräsidentin Cristina Fernández de Kirchner (die von 2007 bis 2015 Präsidentin war) ihren zugespitzten Ausdruck fand. In den sozialen Netzwerken, auf die Milei einen Großteil seiner Kampagne konzentrierte, erhielt er enormen Zuspruch, wie zuvor bereits viele Kandidat*innen der globalen extremen Rechten.

Kurz gesagt: Die Wirtschaftskrise und die Verantwortung der Regierung von Alberto Fernández, die Intensivierung der Debatten über die so genannte Agenda der Sitten – also die Verteidigung konservativer und von den evangelikalen Kirchen geprägter Werte –, die vor allem in den Auseinandersetzungen über die Legalisierung des Schwangerschaftsabbruchs zum Ausdruck kommt, sowie die Zunahme der politischen Gewalt sind zentral für ein Verständnis der argentinischen Wahlen und des Aufstiegs der extremen Rechten in diesem Land.

Das Gespenst der Antipolitik

Die Entwicklung eines autoritären sozialen Gefüges war eine weitere Voraussetzung für Mileis Durchbruch, auch wenn die Grundlagen für den Aufstieg der extremen Rechten bereits vor seiner Kandidatur bestanden. Dies belegen Umfragen des Laboratorio de estudios sobre democracia y autoritarismo [Forschungslabor für Demokratie und Autoritarismus, Universität San Martin in Buenos Aires]. Die Ergebnisse dieser Umfragen zeigen, dass die Auswirkungen der Wirtschaftskrise von einem bedeutenden Teil der Bevölkerung mit der Existenz einer «politischen Kaste» in Verbindung gebracht werden – eine Assoziation, die bereits im Jahr 2021 beobachtet wurde. Diese Denkmuster in Bezug auf die Ursachen der Wirtschaftskrise sind auch mit einer Ablehnung der restriktiven Politik im Kontext der Bekämpfung der COVID-19-Pandemie durch Teile der Bevölkerung (insbesondere der Jüngeren) verbunden.

Die Untersuchungen im Rahmen des mehrjährigen Forschungsprojekts (PIP-CONICET) zeigten außerdem, dass in der argentinischen Gesellschaft inzwischen die Ansicht weit verbreitet ist, dass es sich bei Sozialleistungen um Privilegien einer bestimmten Gruppe handele, die dem Staat Ressourcen entziehe. Dies wiederum hat den Abbau des Solidaritätsparadigmas in der Gesellschaft zur Folge. Daher findet Milei mit seiner Aussage, dass soziale Gerechtigkeit Diebstahl sei, ein Echo bei einem Teil der Bevölkerung – insbesondere bei der jungen Generation, die Sozialleistungen mit Ungerechtigkeit assoziiert. Die Untersuchung zeigt also, dass sich in der argentinischen Wählerschaft schon seit längerem die Vorstellung herauskristallisiert, dass Politiker*innen und staatliche Politik Teil des Problems und nicht Ausdruck demokratischer Entscheidungen seien.

Die radikal neoliberale Wirtschaftsagenda

Obwohl die Rolle der Wirtschafts- und Finanzpolitik der extremen Rechten weltweit je nach sozialer und wirtschaftlicher Zusammensetzung und den Eigenheiten der jeweiligen Staaten und ihrer Position in der Weltwirtschaft variiert, stehen neoliberale Programme (im Allgemeinen gekennzeichnet durch Steueranpassung, Privatisierungen und Deregulierung der Arbeitsbeziehungen) in peripheren und wirtschaftlich abhängigen Ländern auf ihrer Tagesordnung. Milei ist da keine Ausnahme: Er gewann die Präsidentschaftswahl mit dem Vorschlag, die Wirtschaft zu «dollarisieren», sprich: die argentinische Währung und die Zentralbank abzuschaffen. Außerdem will er den Staatsapparat auf ein Minimum reduzieren und lediglich acht Ministerien beibehalten, was große Veränderungen in der Sozialpolitik zur Folge hätte. Überdies will Milei das Gesundheits- und Bildungswesen privatisieren und sogar den Handel mit menschlichen Organen gesetzlich verankern.

Tatsächlich verfolgt nicht nur die extreme Rechte einen neoliberalen Kurs in der Wirtschafts- und Finanzpolitik, auch liberale Kandidat*innen und Parteien befürworten teilweise solche Maßnahmen. Doch zumindest in Lateinamerika ist es die extreme Rechte, die sich in den letzten Jahren radikalisiert und die politische Führung bei dieser Art von Finanz- und Wirtschaftspolitik übernommen hat. Sie favorisiert ein neoliberales Programm, das zur vollständigen Aneignung des Staates durch Teile der vermögenden Schichten führt. Das beste Beispiel hierfür bietet Brasilien während der Präsidentschaft Jair Bolsonaros. Es ist jedenfalls kein Zufall, dass gerade die extreme Rechte die Sektoren des Agrarexports und sämtliche Maßnahmen, die das Finanz- und transnationale Kapital begünstigen, ohne Abstriche verteidigt.

Geschichtsrevisionismus und die Beziehung zu Militär und Polizei

Das Verhältnis von Javier Milei und seiner Vizepräsidentin Victoria Villarruel zum Militär und zur Polizei hat schon im Wahlkampf Besorgnis hervorgerufen. Villarruel, die selbst aus einer Militärfamilie stammt, spielt dabei eine Rolle, die eher der klassischen extremen Rechten zuzuordnen ist: Sie vertritt rassistische Positionen, beispielsweise dass allein die europäische Abstammung für die Identität des argentinischen Volkes zähle, was indigene und afroargentinische Wurzeln delegitimiert. Überhaupt nimmt sie mit Blick auf die letzte argentinische Diktatur (1976-1983) eine verzerrte bzw. bewusst verfälschende, «negationistische» Position ein. So erklärte sie im Wahlkampf, das argentinische Militär habe «nur» 8.000 Menschen verschwinden und ermorden lassen, während Menschenrechtsorganisationen von mindestens 30.000 Opfern ausgehen. 8.000 ist auch die Zahl, die Milei in seinen öffentlichen Erklärungen zu diesem Thema anführt.

Diese Position bezüglich der Verbrechen der Diktatur bricht mit der Aufarbeitung der argentinischen Gesellschaft der letzten Jahrzehnte und gefährdet die Fortschritte, die von der Menschenrechtsbewegung sowie von Opfer- und Angehörigenorganisationen erzielt wurden. Diese negationistische und revisionistische Perspektive erregt insbesondere in Bezug auf mögliche Veränderungen unter der neuen Regierung große Besorgnis.

Die neue Verteidigungsministerin der Regierung Milei ist Patricia Bullrich, die diese Position schon einmal innehatte und für ihre extrem rassistischen Positionen bekannt ist. Die neue Vizepräsidentin Villarruel hat auch von der Notwendigkeit gesprochen, die Rolle der Streitkräfte insgesamt zu stärken. Darüber hinaus sind Maßnahmen wie erhöhte Strafen, die Verschärfung des Strafmaßes für gewöhnliche Verbrechen sowie die Legalisierung des Waffenbesitzes für Zivilist*innen Teil der Agenda der neuen Regierung, wobei eindeutig Parallelen zur Regierung von Bolsonaro in Brasilien und von Trump in den USA zu erkennen sind.

Ein autoritäres Konzept von Freiheit

«¡Viva la libertad, carajo!» [Es lebe die Freiheit, verdammt!], rief Javier Milei immer wieder in seinen Reden. Die Strategie der extremen Rechten, sich den Begriff der Freiheit auf die Fahne zu schreiben, ist nicht neu. Die Rechtsextremen haben allerdings ein ganz bestimmtes, autoritäres Verständnis von Freiheit. Es beruht auf einem extremen Individualismus und der Auffassung, dass die Grundfreiheit darin besteht, dass jede*r für sich alleine nach Möglichkeiten für sein Überleben, seinen Schutz und natürlich seinen Erfolg suchen solle. Es gibt dabei keine Solidarität, keine Gemeinschaft, keine Verantwortung des Staates oder der Einzelnen füreinander.

Familie, Gender und Sexualität

Mileis Kampagne befasste sich auch mit den Themen Gender, Sexualität und Familie. Neben dem Versprechen, die Legalisierung der Abtreibung rückgängig zu machen, verteidigte er die Ansicht, dass die umfassende Sexualerziehung in den Schulen und die Politik der sexuellen Vielfalt (mit Toleranz für Geschlechtsidentitäten und sexuelle Orientierungen) «den Geist der Kinder deformiere» und darauf abziele, einen wesentlichen Bestandteil der Gesellschaft, nämlich die Familie, zu zerstören. Auch wenn Milei selbst nicht verheiratet ist und keine Kinder hat, macht er es sich zunutze, dass die Verteidigung einer konservativen Familien- und Sexualpolitik von einem großen Teil der Wählerschaft unterstützt wird.

Die Frage der nationalen Identität: rassistische und fremdenfeindliche Politik

Schon im Jahr 2020 hatten die erwähnten Untersuchungen des Forschungslabors für Demokratie und Autoritarismus darauf hingewiesen, dass Fremdenfeindlichkeit in Argentinien ein großes Problem ist. Dass Migrant*innen, insbesondere aus anderen lateinamerikanischen Ländern, die wirtschaftlichen Vorteile Argentiniens ausnutzen wollten, während sie nichts zum Wachstum des Landes beitrügen, ist ein häufig anzutreffendes Vorurteil.

Villarruel hat diese Ansichten mit rassistischen Beiträgen und Äußerungen – wie das erwähnte Hervorheben der europäischen Abstammung bei der Identitätsbildung des argentinischen Volkes – gestützt. Die Verleugnung der afroargentinischen und indigenen Wurzeln als Teil der nationalen Identität steht in direktem Zusammenhang mit einem kaum verschleierten Rassismus und Nationalismus, der die Kolonisierung selbst als grundlegenden Meilenstein der eigenen Identität bezeichnet. Diese weiße, europäisch-rassistische Perspektive wird von Milei perfekt verkörpert. Seine Kampagne basiert auf der Bestätigung der Vorherrschaft weißer, heterosexueller Männer.

Verleugnung der ökologischen Krise und Ausbeutung der Natur

Wie in den meisten wirtschaftlich abhängigen Ländern gibt es auch in Argentinien harte Auseinandersetzungen über die Ausbeutung der natürlichen Ressourcen und Bodenschätze, insbesondere mit den indigenen Völkern, die um die Souveränität ihrer Territorien kämpfen, die – zumindest theoretisch – in der Verfassung festgelegt ist. Argentinien verfügt über wichtige Ressourcen in den Bereichen strategische Rohstoffe und Landwirtschaft. So ist das Land der weltweit größte Exporteur und drittgrößte Produzent von Sojaprodukten und der viertgrößte Produzent von Lithium.

Milei benutzte eine Kettensäge als Symbol für seine politische Kampagne, um damit auszudrücken, dass er die politische Kaste des Landes vernichten werde. Die Wahl des Werkzeugs könnte kaum symbolträchtiger sein: Wie Bolsonaros Gesten mit der Waffe steht die Kettensäge symbolisch für den Willen und die Bereitschaft zur Umweltzerstörung. Milei ist sogar so weit gegangen zu erklären, dass er weder die Agenda 2030 noch das Pariser Abkommen respektieren werde. Er hat auch behauptet, Umweltschutz sei Teil einer «postmarxistischen Agenda», die darauf abziele, die eigene Bevölkerung zu eliminieren, um den Planeten zu schützen.

Internationale Verbindungen zu rechtsextremen Bewegungen

Milei hat großen Einfluss auf die jüngere Generation und tritt direkt mit ihr in Dialog, insbesondere über das soziale Netzwerk TikTok. Er ist auch Teil eines Netzwerks rechtsextremer Bewegungen, die soziale Medien als Teil einer ausgeklügelten Strategie nutzen, welche seit den US-Wahlen 2016, als der Betrug von Cambridge Analytic aufgedeckt wurde, perfektioniert wurde.

Auch die Anhänger Bolsonaros verstanden es, dieses Netzwerk zu nutzen und mit den klassischen Medien zu konkurrieren. Es ist also nicht verwunderlich, dass Bolsonaro am 17. Oktober in den sozialen Netzwerken ein Video veröffentlichte, in dem er Mileis Kandidatur unterstützte und um Stimmabgabe für ihn warb.

Darüber hinaus unterhält Milei auch Beziehungen zu europäischen Parteien der extremen Rechten, insbesondere zur spanischen Vox.

Was wird kommen?

All das verdeutlicht Mileis enge Verbindungen zur globalen extremen Rechten. Seine Popularität resultiert dabei aus seiner Fähigkeit, klare Vorschläge für einen vermeintlichen Ausweg aus der schweren Wirtschaftskrise zu formulieren (auch wenn sie absurd sind) und jene konservative Basis zu mobilisieren, die auch in Argentinien aufgrund der aktuellen globalen Konjunktur einen Aufschwung erlebt.

Mileis Wahlsieg markiert eine Wende in der politischen Debatte in Lateinamerika, zumal sie auf den Sieg des Milliardärs Daniel Noboa in Ecuador folgt. Sollte Donald Trump nächstes Jahr erneut zum US-Präsidenten gewählt werden, würde sich das Kräfteverhältnis auf dem Kontinent weiter nach rechts verschieben. Fest steht indes, dass die Argentinier*innen mit der Wahl Mileis schweren Zeiten entgegengehen.
 

Dieser Artikel ist eine leicht gekürzte Version des spanischen Originalartikels. Übersetzung: Lisa Buhl