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Die neue Koalition in Polen steht vor großen Herausforderungen

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Unterzeichnen Koalitionsvertrag: Szymon Holownia , Vorsitzender der liberal-technokratischen Polska 2050 («Polen 2050»), Wladyslaw Kosiniak-Kamysz, Vorsitzender der christlich-demokratischen Polskie Stronnictwo Ludowe («Polnischen Volkspartei»), Donald Tusk, Vorsitzender der liberalen, zentristischen Koalicja Obywatelska («Bürgerkoalition»), Wlodzimierz Czarzasty und Robert Biedron, Ko-Vorsitzende der sozialdemokratischen Nowa Lewica («Neuen Linken»), Warschau, 10. November 2023
Unterzeichnen Koalitionsvertrag: Szymon Holownia , Vorsitzender der liberal-technokratischen Polska 2050 («Polen 2050»), Wladyslaw Kosiniak-Kamysz, Vorsitzender der christlich-demokratischen Polskie Stronnictwo Ludowe («Polnischen Volkspartei»), Donald Tusk, Vorsitzender der liberalen, zentristischen Koalicja Obywatelska («Bürgerkoalition»), Wlodzimierz Czarzasty und Robert Biedron, Ko-Vorsitzende der sozialdemokratischen Nowa Lewica («Neuen Linken»), Warschau, 10. November 2023 picture alliance / ZUMAPRESS.com | Attila Husejnow

Erst am 13. Dezember 2023, fast zwei Monate nach den Parlamentswahlen, wurde die neue polnische Koalitionsregierung unter Donald Tusk vereidigt. Die nationalkonservative Partei «Recht und Gerechtigkeit» (Prawo i Sprawiedliwość, PiS) war aus der Wahl zwar erneut als stärkste Partei hervorgegangen, hatte jedoch deutlich die erforderliche absolute Mehrheit der Sitze verfehlt. Da auch die rechtsextreme und extrem marktliberale «Konföderation» (Konfederacja) hinter ihren hohen Umfragewerten des Sommers zurückblieb und somit als Steigbügelhalter einer erneuten PiS-Regierung ausfällt, gibt es keine rechte parlamentarische Mehrheit mehr.

Viele Beobachter*innen im In- und Ausland zeigten sich erleichtert, da eine PiS-Regierung unter Beteiligung der «Konföderation» eine weitere Rechtsverschiebung der polnischen Regierungspolitik bedeutet hätte – sehr zum Nachteil von sozial Ausgegrenzten, Arbeitnehmer*innen, Frauen, Migrant*innen und queeren Menschen.

Politshow und Klientelpolitik

Den neuen Mehrheitsverhältnissen zum Trotz ernannte Staatspräsident Andrzej Duda (PiS) zunächst Mateusz Morawiecki (PiS) zum Ministerpräsidenten.

Dies war möglich, weil nach der polnischen Verfassung die Ernennung eines Ministerpräsidenten nach der Wahl zunächst das Vorrecht des Präsidenten ist. Erwartungsgemäß scheitere die Regierung Morawiecki jedoch am erforderlichen Vertrauensvotum durch das polnische Parlament, den Sejm, wodurch die Initiative zur Wahl einer neuen Regierung direkt ans Parlament überging. Nach der Wahl durch den Sejm war Präsident Duda dann gezwungen, Donald Tusk von der «Bürgerplattform» (Platforma Obywatelska, PO) und seine Regierung zu vereidigen.

Achim Kessler leitet das Regionalbüro der Rosa-Luxemburg-Stiftung in Warschau, Piotr Janiszewski ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter des Regionalbüros.

Nach Meinung vieler Expert*innen und Kommentator*innen handelte es sich bei dieser Verzögerung um mehr als eine Politshow. Denn die PiS nutzte die Zeit, um erhebliche Mittel in Projekte zu lenken, die ihrer nationalkonservativen Agenda nahestehen, zahlreiche Ernennungen aus den eigenen Reihen in Schlüsselpositionen vorzunehmen und Verfahrensregeln einzuführen, die der neuen Regierung die Arbeit erschweren sollten. So versuchte etwa der scheidende PiS-Kulturminister – wenn auch vergeblich –, Änderungen in den Statuten des polnischen Fernsehens und Rundfunks gerichtlich durchzusetzen, die es der neuen Regierung erschwert hätten, diese umzugestalten und personelle Veränderungen vorzunehmen. In den letzten acht Jahren fungierten die öffentlichen Medien in Polen de facto als Medien der PiS.

Die neue Koalition – und ihre Fallstricke

Die sogenannte Demokratische Opposition, ein loses Bündnis aus konservativen, liberalen, sozialdemokratischen und linken Parteien und Parteienverbindungen, erreichte bei der Wahl die absolute Mehrheit. Mit Abstand stärkste Parteienverbindung wurde die liberale, zentristische «Bürgerkoalition» (Koalicja Obywatelska), die in früheren Regierungen für empfindliche Sozialkürzungen verantwortlich gewesen war. Auch der «Dritte Weg» (Trzecia Droga), ein Bündnis der christlich-demokratischen «Polnischen Volkspartei» (Polskie Stronnictwo Ludowe) und des liberal-technokratischen «Polen 2050» (Polska 2050), erzielte ein beachtliches Ergebnis. Enttäuschend war hingegen das Ergebnis des Parteienbündnisses «Linke» (Lewica), bestehend aus der sozialdemokratischen «Neuen Linken» (Nowa Lewica) – Nachfolgepartei der polnischen kommunistischen Partei und ebenfalls für manche Sozialkürzungen der Vergangenheit verantwortlich – und der weiter links stehenden Partei «Gemeinsam» (Razem).

Erklärtes gemeinsames Ziel der «Demokratischen Opposition» war die Ablösung der PiS-Regierung und ihres massiven Abbaus des Rechtsstaats, der parteipolitischen Einflussnahme auf die öffentlich-rechtlichen Medien und viele andere staatliche Institutionen. Dieses von allen demokratischen Oppositionsparteien ins Zentrum des Wahlkampfs gestellte Ziel setze sie nach der Wahl unter starken öffentlichen Druck, sich im Hinblick auf die Bildung einer gemeinsamen Regierung zu verständigen, obwohl politische Übereinstimmungen zwischen diesen Parteien nur schwer auszumachen sind.

Trotz dieser programmatischen Unterschiede verlief die Bildung der neuen Koalitionsregierung überraschend zügig und reibungslos. Der größte Koalitionspartner, Tusks Bürgerkoalition, erhielt die meisten wichtigen Ministerien, den drei kleineren Partnern wurden jedoch erhebliche Zugeständnisse gemacht. Der Vorsitzende der Polnischen Volkspartei, Władysław Kosiniak-Kamysz, wurde Verteidigungsminister und erster stellvertretender Ministerpräsident. Das Ministerium für Familie, Arbeit und Soziales wurde von Nowa Lewica übernommen. Das Amt des Sejm-Sprechers wird Szymon Hołownia, Vorsitzender von Polen 2050, übernehmen. Nach zwei Jahren soll dieses prestigeträchtige Amt an Włodzimierz Czarzasty, den Co-Vorsitzenden von Nowa Lewica, übergehen. Der Grad der Polarisierung der polnischen Politik hat dazu geführt, dass das Ziel, «die PiS von der Macht fernzuhalten», ausreichte, um ein Parteienbündnis von links bis Mitte-rechts zu bilden.

Es steht jedoch zu erwarten, dass eine so breite und vielfältige Koalition angesichts großer politischer Herausforderungen sowohl im Bereich der Wirtschafts- und Sozialpolitik als auch in den Bereichen Kultur und Menschenrechte mit vielen internen Gegensätzen konfrontiert sein wird.

Die Frage des rigiden Abtreibungsrechts, das 2020 Massenproteste auslöste und selbst nach Ansicht einiger rechter Kommentator*innen die Ursache für die Wahlniederlage der PiS darstellt, ist bereits jetzt ein Problem. Während Nowa Lewica und die Bürgerkoalition das Gesetz ändern wollen, um es den europäischen Standards anzugleichen, drängen die Volkspartei und Polen 2050 darauf, die Entscheidung durch ein Referendum an die Wähler*innen zu «delegieren». Es ist zu erwarten, dass die Fragen im Zusammenhang mit Frauenrechten und mit der queeren Gemeinschaft in Zukunft zu vielen Spannungen innerhalb der sogenannten Koalition des 15. Oktober führen werden.

Herausforderungen in der Innen- und Außenpolitik

Die neue polnische Regierung muss sich sehr schnell zahlreichen Herausforderungen stellen. Obwohl die Inflationsrate deutlich gesunken ist, liegt sie noch immer bei über sechs Prozent (November 2023). Die Regierung muss den Kampf gegen die Inflation führen und gleichzeitig die im Wahlkampf gemachten Sozialversprechen einhalten, darunter die Erhöhung des Kinderbetreuungsgeldes und Gehaltserhöhungen für Lehrer*innen und andere Angestellte des öffentlichen Sektors.

Sie steht ferner vor der Aufgabe, die katastrophale Wohnungssituation zu lösen. Während der Transformation wurden die meisten Wohnungen gegen einen symbolischen Preis an die Bewohner*innen übertragen, mit der Folge, dass es in Polen nur ungefähr zehn Prozent Mietwohnungen gibt. Viele Menschen waren deshalb gezwungen, eine Wohnung zu kaufen, was in einer Zeit billiger Kredite für die meisten von ihnen kein großes Problem darstellte. Infolge der hohen Inflation, sinkender Reallöhne und steigender Zinsen können viele Menschen die Kredite für ihre Eigentumswohnungen nun jedoch nicht mehr bedienen und sind von Obdachlosigkeit bedroht.

Während der PiS-Regierung fiel Polen bei der Entwicklung erneuerbarer Energien weit zurück. Da das Land aufgrund seiner reichen Kohlevorkommen einen Großteil des Energiebedarfs über Kohlekraftwerke deckt, ist die Umstellung auf erneuerbare Energien ein schwieriges Unterfangen, das zudem von gravierenden sozialen Problemen im Kohlebergbau begleitet wird. Selbst linke Parteien propagieren die hochriskante Atomenergie als Ausweg aus dieser Situation.

An der polnisch-belarussischen Grenze herrscht weiterhin eine humanitäre Katastrophe. Angesichts der bevorstehenden Wintermonate steht zu befürchten, dass es zu weiteren Todesfällen von Flüchtlingen kommen wird, die versuchen, die Grenze zu überqueren. Gleichzeitig hat Polen in den letzten Jahren sehr viele Geflüchtete aus der Ukraine aufgenommen, was zu hohen Kosten für das Sozialsystem führte, zumal es keine langfristige Strategie für die Integration Geflüchteter gibt.

Die Beziehungen Polens zur Europäischen Union sowie zu vielen EU-Staaten, insbesondere zu Deutschland, haben sich in den letzten acht Jahren deutlich verschlechtert. Es wird allgemein erwartet, dass Donald Tusk als früherer EU-Ratspräsident diese Beziehungen verbessern wird. Aber angesichts der vielen Interessengegensätze innerhalb der EU steht die neue polnische Regierung vor der Herausforderung, sich zu zahlreichen Fragestellungen etwa in der Klima-, Wirtschafts-, Landwirtschafts- und Strukturpolitik, die die weitere Entwicklung Polens maßgeblich mitbestimmen werden, neu zu positionieren. In welche Richtung diese Entwicklung gehen wird, ist angesichts der großen programmatischen Unterschiede zwischen den Regierungsparteien noch nicht absehbar und dürfte weitere Konflikte verursachen.

Fest steht, dass auch die Regierung Tusk die Ukraine nach Kräften unterstützen und Geflüchtete aus der Ukraine aufnehmen wird. Auch aus historischen Gründen gibt es über alle Parteigrenzen hinweg ein tiefes Misstrauen gegenüber Russland, sodass in dieser Frage keine Konflikte zwischen den Koalitionspartnern zu erwarten sind. Ebenso deutlich zeichnet sich ab, dass Polens Außenpolitik weiterhin stark auf die USA ausgerichtet sein wird. Auch eine Abkehr von der massiven Aufrüstung scheint sehr unwahrscheinlich.

Rechter Widerstand gegen die Demokratisierung

Eines der wichtigsten Versprechen der Bürgerkoalition und ihrer Verbündeten besteht darin, die von der PiS vorgenommenen antidemokratischen institutionellen Veränderungen in den Bereichen Justiz, öffentliche Medien und Bildung rückgängig zu machen. Diese Versuche stoßen auf den erbitterten Widerstand seitens der PiS.

Doch die PiS ist nicht das einzige Problem. Zwar verfügen im polnischen Verfassungssystem die Regierung beziehungsweise das Parlament über die größte Macht; diese kann jedoch durch andere Verfassungsinstitutionen eingeschränkt werden. So verfügt der Präsident über weitgehende Befugnisse in der Außen- und Verteidigungspolitik. Die neue Regierung wird sich hier also mit dem PiS-nahen Staatspräsidenten Duda verständigen müssen. Er kann außerdem gegen fast alle vom Parlament verabschiedeten Gesetze ein Veto einlegen. Ausnahmen hiervon sind lediglich der Staatshaushalt und Verfassungsänderungen. Sein Veto kann zwar mit einer Mehrheit von drei Fünfteln der Stimmen im Sejm aufgehoben werden, aber über so viele Stimmen verfügen die Regierungsfraktionen nicht.

Andrzej Duda hat bereits angedeutet, dass er kein einfacher Partner für die neue Regierung sein wird. Er dürfte kaum zögern, sein Veto gegen fortschrittlichere Gesetze in den Bereichen reproduktive Rechte von Frauen und Rechte der Queer-Community einzulegen. Die Demokratisierung des Justiz- und Bildungssystems sowie der öffentlichen Medien werden ebenfalls kaum seine Unterstützung finden.

Hinzu kommt: Auch das Verfassungsgericht und die Nationale Zentralbank werden von PiS-nahen Personen kontrolliert, was die Handlungsmöglichkeiten der Regierungskoalition bei der Reform des Justizsystems und der Finanzpolitik weiter einschränken wird.

Chancen für linke Politik

All das schränkt die Handlungsspielräume der neuen Regierungskoalition ein. Noch schwieriger ist die Ausgangssituation für die linken Parteien innerhalb der neuen Regierung. Denn die beiden linken Parteien, Nowa Lewica und Razem, stellen gemeinsam die kleinste Fraktion (Lewica, «Linke») innerhalb der Regierungskoalition. Im Vergleich zur Wahl 2019 verloren sie ein Drittel ihres Stimmenanteils, wodurch sich die Zahl ihrer Abgeordneten halbierte. Andererseits gibt es ohne sie keine Regierungsmehrheit. Zum ersten Mal seit 18 Jahren ist sie wieder an der Regierung beteiligt, stellt einen stellvertretenden Ministerpräsidenten und vier Kabinettsmitglieder.

Bereits während der Erarbeitung des Regierungsprogramms scheint es innerhalb der linken Fraktion zu einer Spaltung gekommen zu sein, in deren Folge Razem darauf verzichtete, Minister*innen für die Regierung zu benennen – und das, obwohl sie den Anteil ihrer Abgeordneten innerhalb der linken Fraktion im Vergleich zur letzten Wahl deutlich steigern konnte. Da die Koalitionspartner ihre Forderung nach Verbesserungen in der Gesundheits- und Wohnungspolitik nicht akzeptierten, entschied Razem, sich nicht an der Regierung zu beteiligen, trotzdem aber für die Tusk-Regierung zu stimmen und in der gemeinsamen linken Fraktion zu bleiben.

All das schränkt die Durchsetzungsperspektive für linke Politik deutlich ein. Und selbst wenn sich die linken Parteien innerhalb der Regierungskoalition mit ihren Forderungen durchsetzen können, ist mit dem Widerstand von Präsident Duda zu rechnen. Dies beeinträchtigt besonders die Erfolgsaussichten in der Frauen-, Migrations- und Queerpolitik. Auch die Re-Demokratisierung des polnischen Staates und seiner Institutionen wird einen langen Atem erfordern.

Eine Chance besitzen die linken Parteien im Bereich der Sozialpolitik, zumal sie mit Agnieszka Dziemianowicz-Bąk die zuständige Ministerin stellen. Denn die PiS-Regierung verdankte ihre vergangenen Wahlerfolge teilweise der Tatsache, dass sie die Sozialkürzungen ihrer Vorgängerregierungen rückgängig machte. Das könnten die linken Parteien innerhalb der Koalition nutzen, um sozialpolitische Forderungen durchzusetzen: Denn die anderen Koalitionsparteien können es sich kaum leisten, eine linke sozialpolitische Forderung abzulehnen, die anschließend von der PiS unterstützt und übernommen werden würde.

Eine große Chance für linke Politik liegt in der Mobilisierung der polnischen Gesellschaft für die Rechte von Frauen und Arbeitnehmer*innen, teilweise auch für die Rechte queerer Menschen, die in den letzten Jahren stattgefunden und zu einer gestiegenen Wahlbeteiligung geführt hat.

Wenn es den linken Parteien, insbesondere Razem, gelingt, diese gesellschaftliche Mobilisierung aufrechtzuerhalten, ihre Forderungen auf den Straßen gemeinsam mit Gewerkschaften, Menschenrechtsorganisationen, Frauengruppen, queeren Initiativen, Aktivist*innen der Housing-Bewegung und mit den Bürger*innen stark zu machen, dann haben sie auch innerhalb der Regierung eine bessere Chance, ihre Forderungen zur Regierungspolitik zu machen.