Nachricht | Parteien / Wahlanalysen - UK / Irland Schottland vor der Unterhaus-Wahl

Der Wunsch, die Tories abzuwählen, beschert der Labour-Partei auch in Schottland einen Aufschwung. Aber die Scottish National Party lässt sich nicht so einfach ignorieren.

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Adam Ramsay,

Ein Anhänger der schottischen Unabhängigkeit zeigt Fahne während eines Marsches für die Unabhängigkeit in Stirling, Schottland, 11.09.2021. Foto: IMAGO / NurPhoto

Nimm dein Handy, öffne deine Karten-App und gib Schottland ein. Zoome dann kurz auf Edinburgh. Im Nordosten der Stadt wirst du auf Portobello stoßen, einen Stadtteil an der Küste, berühmt für seinen langen Sandstrand, an dem die Einheimischen das ganze Jahr über baden. Hier bin ich gerade.

Adam Ramsay ist ein in Schottland lebender Journalist. Er war zuvor Sonderkorrespondent für «openDemocracy» und arbeitet derzeit an einem Buch mit dem Titel «Abolish Westminster»

Am Dienstagabend haben Mitglieder der Gruppe Surfers Against Sewage (Surfer*innen gegen Abwasser) vier Plastikstühle an der Promenade oberhalb des Strandes aufgestellt und eine Soundanlage aufgebaut. Etwa 50 Personen haben sich hier versammelt, um die Kandidat*innen zu einem der vielen Themen zu befragen, die die britische Politik derzeit umtreiben: die Tatsache, dass regelmäßig ungeklärtes Abwasser in unsere Flüsse und Meere fließt.

Obwohl Surfers Against Sewage in Küstengemeinden des gesamten Vereinigten Königreichs aktiv ist und auf das Thema aufmerksam macht, ist die Debatte an diesem Strand etwas anders als in England. Tatsächlich hat die schottische Politik in den letzten 20 Jahren einen maßgeblichen Wandel vollzogen, der auch bei der Wahl im Juli zum Tragen kommen wird.

Die Politik der Scottish National Party

Die Scottish National Party, eine Mitte-links-Partei und überzeugte Verfechterin der schottischen Unabhängigkeit, gibt es in England natürlich nicht. Und auch in Schottland spielte sie bis 1999 eine eher unbedeutende Rolle. Als Labour 1997 unter Tony Blair an die Macht kam, verdoppelte sich die Zahl der SNP-Vertreter*innen unter den 72 schottischen Abgeordneten im britischen Unterhaus von drei auf sechs. Im Zuge einer lang anhaltenden politischen Kampagne und des Referendums von 1997, in dem sich eine große Mehrheit in Schottland dafür ausgesprochen hatte, führte die Labour-Regierung 1999 das erste schottische Parlament ein, dessen Befugnisse denen eines deutschen Landesparlaments ähneln.

Anders als das britische Parlament in Westminster wird das schottische Gremium nach dem Verhältniswahlrecht gewählt. 1999 war die SNP noch zweitstärkste Kraft nach Labour. 2007 griffen die Nationalist*innen Blairs Labour-Partei dann von links an: Im Wahlkampf prangerten sie den Irakkrieg an, versprachen die Abschaffung der Studiengebühren und positionierten sich als Gegner*innen von Teilprivatisierungen – damit trugen sie einen knappen Sieg davon. 2011 konnte die SNP ihre Machtposition festigen, indem sie auch im britischen Unterhaus die Mehrheit der schottischen Abgeordneten stellte und David Cameron ein Unabhängigkeitsreferendum abrang.

Die Rechtsextremen haben in Schottland viel weniger Zulauf als in England und sogar Wales.

Damals wünschten sich etwa 30 Prozent der Bevölkerung einen unabhängigen schottischen Staat. Die Wahlerfolge der SNP beruhten aber eher auf ihrer populären Mitte-links-Politik als auf der breiten Unterstützung ihres zentralen Programmpunkts. Mit einer energischen Kampagne, die auch von Teilen der schottischen Linken außerhalb der SNP getragen wurde, stieg die Befürwortung der Unabhängigkeit in Umfragen kurz über die 50-Prozent-Marke. Letztlich stimmten 45 Prozent dafür.

Die SNP und die Grünen, die sich klar als Unabhängigkeitsparteien positionierten, hatten also dem Anschein nach das Referendum verloren, während Labour und die Konservativen, die Parteien eines Vereinigten Königreichs, gewonnen hatten. Aber so fühlte es sich nicht an. In den Tagen nach der Abstimmung erhielt die SNP mächtig Zulauf, ihre Mitgliederzahl sprang von 25.000 auf 120.000, während die Anzahl der grünen Parteimitglieder von 1.000 auf fast 10.000 anstieg. Bei der britischen Parlamentswahl 2015 konnte die SNP ihre bescheidenen sechs Sitze auf 56 ausbauen, während Labour von 41 und die Liberaldemokraten von elf auf jeweils einen einzigen Sitz schrumpften.

Ein ganzes Jahrhundert lang hatte die Labour-Partei die schottische Politik dominiert. Die Liberale Partei wiederum (die sich 1988 mit der Sozialdemokratischen Partei zur Liberaldemokratischen Partei zusammenschloss) hatte im 19. Jahrhundert jede einzelne Wahl in Schottland gewonnen und konnte dort noch bis 2015 mehr Hochburgen halten als in England. 2015 änderte sich also das Wahlverhalten, das zwei Jahrhunderte lang die politische Landschaft Schottlands geprägt hatte.

Am Portobello-Strand wiederum glänzte die konservative Kandidatin durch Abwesenheit. Während die Tories in den meisten englischen Wahlkreisen mit dem ersten oder zweiten Platz rechnen können, zeichnet sich hier ein Kopf-an-Kopf-Rennen zwischen SNP und Labour ab. Die Noch-Regierungspartei konnte sich nicht einmal dazu aufraffen, ihre Kandidatin zur Debatte zu schicken – sie hat dort keinerlei Hoffnung auf einen Sieg. Zwar schneiden die Tories in einigen schottischen Wahlkreisen gut ab, aber die Partei des englisch-britischen Nationalismus hatte hier nie den Rückhalt, auf den sie sich in England von 1833 bis, wie es scheint, 2024 verlassen konnte.

Auch der Vertreter von Nigel Farages rechtsextremer Partei Reform UK ist nicht erschienen: Die Rechtsextremen haben in Schottland viel weniger Zulauf als in England und sogar Wales.

Sozialdemokratie in einem Lande

Der zweite große Unterschied zwischen der Debatte um das Abwasser, das hier am Strand von Portobello ins Meer fließt, und ihren englischen Pendants besteht darin, dass in England die Wasserversorgung gänzlich privatisiert wurde und dementsprechend profitorientiert verwaltet wird, während die schottische Wasserversorgung in öffentlicher Hand liegt. Und das ist nur ein Beispiel für die weitgehend sozialdemokratische Politik, die hier betrieben wird und die sich auch in höheren Steuern für Wohlhabende und einem großzügigeren Sozialversicherungssystem ausdrückt.

Der dritte Unterschied ist, dass die Wasserversorgung – wie viele andere Themen, die die Wählerschaft beschäftigen – in den Zuständigkeitsbereich der schottischen Regierung fällt und somit bei der Wahl zum britischen Unterhaus nicht relevant ist. Überwiegend rührt die starke Unterstützung für die SNP und die schottische Unabhängigkeit (die in der Regel knapp die Hälfte der Bevölkerung befürwortet) von einem Gefühl her, dass diese uns vor den schlimmsten Auswirkungen der neoliberalen Scheiße aus Westminster schützen – im wahrsten Sinne des Wortes.

Viele Stimmen von Wähler*innen, die für den schottischen Verbleib im Vereinigten Königreich sind, werden von den Tories an Labour fallen, was die Entwicklung in England widerspiegelt.

Die Kandidat*innen auf der improvisierten Bühne wollen sich als beste Lösung für das Abwasserproblem präsentieren. Im Grunde genommen will jede*r beweisen, linker als die anderen zu sein.

Tommy Sheppard ist seit 2015 der SNP-Abgeordnete der Region und stellt die Fäkalien-Frage in einen breiteren Kontext: Er wünsche sich eine Gesellschaft, in der 50 Prozent des Bruttoinlandsprodukts aus öffentlichen Ausgaben bestehe, und er sei fest davon überzeugt, dass ein solcher Wandel in einem unabhängigen Schottland viel leichter möglich sei. Der Labour-Kandidat wirbt für die Pläne seiner Partei, eine Sondersteuer für Ölunternehmen einzuführen, um damit Investitionen in eine grüne Infrastruktur zu fördern.

Labours Aufschwung

Hinter den Politiker*innen erstreckt sich der gelbe Sand bis zum granitgrauen Wasser des Firth of Forth, des Fjords, an dem wir leben. Auf der anderen Seite ist im Norden Fife zu sehen, im Süden verläuft die Küste von East Lothian. Beide Orte waren noch vor einer Generation für ihre Kohlefelder berühmt – und bis heute werden Klumpen des schwarzen Gesteins an den Strand gespült. Soweit das Auge reicht, wurden hier bis vor zehn Jahren alle Wahlkreise von Labour-Kandidat*innen vertreten. Seit 2019 hat jedoch – wie auch in den meisten anderen Wahlkreisen in Schottland – die SNP die Oberhand gewonnen.

Jetzt schau noch einmal auf deine Karte: Du wirst sehen, dass Schottlands zweite große Stadt, Glasgow, nur 80 Kilometer weiter im Westen liegt. Zieh eine Linie von Küste zu Küste, die auch die beiden Städte verbindet – ungefähr quer durch die Taille des Landes. Dieses Gebiet nennt man den Central Belt, den Zentralen Gürtel Schottlands. Hier leben über drei Millionen der 5,5 Millionen Einwohner*innen Schottlands, und auch die meisten Abgeordneten kommen aus dieser Gegend. Fast alle Sitze wurden hier über Jahrzehnte von Labour-Abgeordneten eingenommen, bis sie 2015 in die Hände von SNP-Mitgliedern übergingen. Die Labour-Partei hofft, diese Sitze jetzt zurückzuerobern, und vielerorts dürft ihr das auch gelingen.

Dafür gibt es mehrere Gründe.

Erstens werden viele Stimmen von Wähler*innen, die für den schottischen Verbleib im Vereinigten Königreich sind, von den Tories an Labour fallen, was die Entwicklung in England widerspiegelt. Auch wenn die Konservativen in den meisten dieser Wahlkreise nur die drittstärkste Partei sind, so reichen die Stimmen, die sie verlieren, in vielen Fällen aus, um Labour zur Führung zu verhelfen. Ironischerweise könnte dasselbe Mehrheitswahlrecht, das der SNP eine große Mehrheit in der schottischen Delegation im britischen Parlament beschert hat, den aktuellen Umschwung gegen sie jetzt noch verschärfen.

Der zweite Grund liegt darin, dass die SNP seit 2007 in Schottland regiert und sich insbesondere seit dem Rücktritt der Ersten Ministerin Nicola Sturgeon politische Unzufriedenheit breitmacht. Nur wenige Wochen vor der Wahl hat die SNP eine Koalitionsvereinbarung mit den Grünen platzen lassen und damit den Rücktritt von Sturgeons Nachfolger, Humza Yousaf, erzwungen, der als erster Muslim ein westliches Land regierte. Sein Amt übernahm der ehemalige Finanzminister und stellvertretende Erste Minister John Swinney, der erst ein Jahr zuvor seinen Rücktritt verkündet hatte.

Drittens liegt einer der Gründe für das generelle Unbehagen in der Tatsache, dass bisher jeder Weg zur schottischen Unabhängigkeit vom britischen Staat blockiert wurde. Das knappe Ergebnis des Unabhängigkeitsreferendums hatte eine beachtliche Welle der Begeisterung ausgelöst. Zwei Jahre danach sprach sich Schottland mit großer Mehrheit gegen den Brexit aus, musste aber trotzdem gemeinsam mit England und Wales die EU verlassen. Sowohl die meisten schottischen Abgeordneten in Westminster als auch die Mehrheit der Grünen und der SNP im Regionalparlament in Holyrood befürworteten die Unabhängigkeit. Deshalb war ein Großteil der Wähler*innen überzeugt, dass mit einer letzten kleinen Anstrengung das Ziel der Unabhängigkeit zu erreichen sei. In den zehn Jahren nach dem Referendum haben die britischen Regierungen sich allerdings wiederholt gegen eine erneute Abstimmung gestellt und damit die klaren Mehrheiten der schottischen Abgeordneten sowohl in Westminster als auch in Holyrood missachtet, die auf Basis ebendieser Programmatik gewählt worden waren. So ist der anfängliche politische Elan mit der Zeit verflogen.

Ich kenne Leute, die sich zwar weiterhin die schottische Unabhängigkeit wünschen, aber trotzdem diesmal Labour wählen werden, weil sie es als den einfachsten Weg sehen, die schreckliche Tory-Regierung loszuwerden (auch wenn sie überwiegend in Wahlkreisen leben, in denen die Tories noch nie eine Chance hatten).

Man sollte die SNP nicht unterschätzen

Die SNP versucht jetzt, diese Stimmen wieder zurückzugewinnen, indem sie Keir Starmers Labour-Partei von links angreift – bzw. genauer: indem sie darauf hinweist, wie weit sich die Partei in ihrem Kampf um englische Tory-Stimmen nach rechts bewegt hat. Vor der Vorstellung des Wahlprogramms erklärte Swinney, dass seine SNP die «am weitesten links stehende» der großen Parteien sein werde. Das Dokument spricht sich für mehr öffentliche Ausgaben und gegen Privatisierungen aus, will Drogenkonsum entkriminalisieren und die Rechte von Migrant*innen stärken. Swinneys Kolleg*innen haben sich viel deutlicher gegen die israelischen Kriegsverbrechen in Gaza ausgesprochen als die Labour-Abgeordneten.

Einem Gespräch mit einer Frau auf der Promenade von Portobello konnte ich entnehmen, dass nicht viel von der anstehenden Wahl zu ihr durchgedrungen ist – bis auf den Eindruck, dass Labour unter Keir Starmer sich zu einer blassen Kopie der Tory-Partei entwickelt hat. Damit mag man andernorts punkten können, hier aber nicht.

Der Central Belt erstreckt sich über eine größere Region, die Lowlands, die von zwei diagonal von Südwesten nach Nordosten verlaufenden Linien begrenzt werden: der Grenze zu England im Süden und der Highland Line im Norden. Wenn dein Handy auch die Topografie anzeigen kann, solltest du letztere erkennen können: Sie markiert die südliche Grenze zu der bergigen Region der Highlands.

Die SNP ist wahrscheinlich die erfolgreichste Mitte-links-Partei im modernen Europa.

Südlich des Central Belts in Richtung der englischen Grenze und nördlich davon bis zur Highland Line liegt eine Reihe von Wahlkreisen, in denen das Rennen zwischen Konservativen und SNP entschieden wird. Die meisten davon votierten in den letzten 20 Jahren mal für die eine, mal für die andere Partei. Angesichts des enormen Einbruchs der Tories in den derzeitigen Umfragen ist hier fast überall abzusehen, dass die SNP den Sieg davontragen wird.

Nördlich der Highland Line befinden sich die Highlands und die Inseln. Sie machen zwar die Hälfte der schottischen Landmasse aus, allerdings leben dort nur zehn Prozent der Bevölkerung. In den meisten dieser Wahlkreise findet die Auseinandersetzung hauptsächlich zwischen den Liberaldemokraten – deren Stärke in diesen Gebieten auf die Landreformbewegungen im 19. Jahrhundert zurückgeht – und der SNP statt. Angesichts des Rückgangs der SNP in den letzten Umfragen (und der Wahrscheinlichkeit, dass Tory-Stimmen an die Liberaldemokraten gehen, die sich grundsätzlich für einen Verbleib Schottlands im Vereinigten Königreich aussprechen) könnten die Liberalen hier durchaus Gewinne erzielen.

Obwohl sie die viertstärkste Partei im nach dem Verhältniswahlrecht gewählten schottischen Parlament sind (noch vor den Liberaldemokraten), werden die Grünen bei dieser Wahl wohl kaum Zugewinne verzeichnen können. Während sich die schottischen Wähler*innen sowohl bei der Wahl zum schottischen Parlament als auch bei den Kommunalwahlen an ein Fünf-Parteien-System gewöhnt haben, ermutigt sie das Mehrheitswahlrecht von Westminster dazu, gegen die am meisten verhasste Option zu stimmen, anstatt für das, was sie eigentlich wollen.

Die SNP ist wahrscheinlich die erfolgreichste Mitte-links-Partei im modernen Europa. Sie regiert seit 2007 entweder allein oder im Bündnis mit den weiter links stehenden schottischen Grünen. Bei dieser Wahl tritt sie mit einem Programm an, das im Großen und Ganzen für Steuern und Ausgaben, für Einwanderung und für die EU ist.

Der politische Erfolg der SNP ist umso bemerkenswerter, als sie Gegenwind vom politischen Establishment in Westminster erfährt. Denn dieses macht keinen Hehl daraus, dass es nicht viel von einer Dezentralisierung der politischen Machtstrukturen des Landes hält. Es kann gut sein, dass die SNP bei dieser Wahl ins Straucheln gerät, und das dürfte auch den schottischen Unabhängigkeitsbestrebungen einen Dämpfer versetzen. Die Kluft zwischen der schottischen und der englischen Politik ist allerdings so groß wie schon seit Jahrhunderten nicht mehr. Es ist schwer vorstellbar, dass ein Premierminister Starmer hier auf Dauer Rückhalt findet.

Übersetzung von Charlotte Thießen und André Hansen für Gegensatz Translation Collective.