Publikation Stadt / Kommune / Region - Sozialökologischer Umbau - Spurwechsel Mobilitätswende in ländlichen Räumen

Das Beispiel Thüringen

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luxemburg beiträge

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Hendrik Sander,

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Die Mobilitätswende beginnt in den Städten. Hier findet nicht nur ein erheblicher Teil der Verkehrsleistung statt. Hier existiert in der Regel auch ein relativ gut ausgebauter öffentlicher Nahverkehr mit Bussen, Straßen- und teilweise U-Bahnen sowie mit Regional- und Fernzügen, der bereits als Grundlage für einen weiteren Ausbau und eine Mobilitätswende dienen kann. Auch der Fuß- und Radverkehr spielt in Städten eine größere Rolle. Es sind Städte, die international als Vorreiter einer Mobilitätswende Bekanntheit erlangt haben: Kopenhagen, Barcelona, Amsterdam, Tallin, Paris oder Karlsruhe. Auch das Berliner Mobilitätsgesetz kann als vorwärtsweisend für eine Transformation des Verkehrs betrachtet werden, auch wenn die Umsetzung die zahlreichen Schwierigkeiten erst sichtbar werden lässt (vgl. Sander 2020). Zudem engagieren sich in den Städten zahlreiche Mobilitätsinitiativen und andere politische Organisationen, die für eine Mobilitätswende und lebenswertere Städte, gar autofreie Innenstädte streiten, Kampagnen entwickeln, Demonstrationen organisieren oder Bürger- und Volkbegehren initiieren. Kurz: Hier besteht eine potenziell höhere Durchsetzungsmacht – und tatsächlich tut sich auch viel, wenn auch meist noch zu langsam. Es ist daher konsequent, sich vor allem auf die Mobilitätswende in der Stadt zu konzentrieren.

Doch ganz ohne den ländlichen Raum geht es dann doch nicht. Diskursiv nicht, weil sonst regelmäßig ein (falscher) Gegensatz zwischen Stadt und Land aufgebaut wird, Tenor: «Ja, in der Stadt könnt ihr das versuchen, aber auf dem Land geht das nicht.» Oder: «Ihr macht nur Politik für die Leute in den (Innen-)Städten, aber nicht für die Mehrheit in der Fläche, für die Pendler etc.» Gern wird in diesem Zusammenhang auch auf die Diskrepanz zwischen «grün-linkem Lifestyle» in den Innenstädten und konservativen (oder gar radikal rechten Protest-) Wähler*innen in den Außenbezirken oder auf dem Land verwiesen. Natürlich ist das reale Bild komplexer und bunter. Aber solche Erzählungen behindern die politische Auseinandersetzung für eine Mobilitätswende.

Die Mobilitätswende auf dem Land bietet sich als ein Einstiegsprojekt in die sozialökologische Transformation an. Es könnte zeigen, dass auch unter widrigen Bedingungen ein sowohl ökologisch nachhaltiger als auch sozial gerechter und inklusiver Wandel auf Basis öffentlicher Infrastrukturen und jenseits des Autos möglich ist.

Zudem ist das Problem des Verkehrs im ländlichen Raum bzw. des Verkehrs zwischen Räumen unterschiedlicher Besiedlungsdichte und Urbanisierungsgrade, das Pendeln, die erzwungene Mobilität, allein in quantitativer Hinsicht von hoher ökologischer Relevanz, nicht zuletzt in Flächenländern wie Thüringen. Der Verkehrssektor hat in Deutschland anders als alle anderen Sektoren gegenüber dem Jahr 1990 bisher keinen Beitrag zur Senkung der CO2-Emmissionen geleistet. Ein besonderes Klimaproblem ist die zunehmende Urbanisierung und zugleich Zersiedlung (urban sprawl) und infolgedessen das Berufspendeln. Seit dem Jahr 2002 sind die CO2-Emmissionen pro Weg in ländlichen Regionen sogar um 20 Prozent gestiegen, wie Hendrik Sander (2023: 18) in der vorliegenden Studie zeigt.

Der ÖPNV fristet auf dem Land «ein Schattendasein »: Nur 5 Prozent der Wege werden mit Bus oder Bahn zurückgelegt (ebd.: 12). In dünn besiedelten Räumen sind ca. 40 Prozent der Einwohner*innen nicht ausreichend mit öffentlichen Verkehrsangeboten versorgt (ebd.: 16). Die strukturelle Unterfinanzierung der Kommunen bzw. ein Steuer- und Ansiedlungswettbewerb zwischen Gemeinden, der die Ungleichheit von «reichen» und «armen» Kommunen noch verschärft, eine jahrelange Ausdünnung des ÖPNV- Angebots und ein stetiger Rückgang der Nachfrage bilden «einen Teufelskreis» (ebd.: 13). Tatsächlich kostet der Autoverkehr die öffentliche Hand dreimal so viel wie der öffentliche Verkehr. Die Gesellschaft subventioniert jedes Auto mit durchschnittlich 5.000 Euro jährlich (ebd.: 19). Der Klassenhintergrund hat dabei einen viel stärkeren Einfluss auf die zurückgelegten Kilometer als der Wohnort. «Mobilität ist in erster Linie eine Klassenfrage – und nur in zweiter Linie eine Frage von Stadt und Land!», so Sander (ebd.: 14). Die stetig wachsende Verkehrsleistung geht weit überproportional auf «die privilegierten Klassenmilieus auf dem Land zurück» (ebd.: 15). So nutzen in Thüringen mehr als zwei Drittel von ihnen fast ausschließlich das Auto (und sonst keine oder kaum andere Verkehrsmittel; ebd.: 48). Unter den Geringverdienenden, die 16 Prozent der Bevölkerung in Deutschland ausmachen, kann sich etwa ein Viertel kein eigenes Auto leisten (ebd.: 16). «Im Gegensatz zu urbanen Räumen besitzen auf dem Land auch viele ärmere Haushalte ein Auto» und nehmen angesichts des mangelnden Angebots an Alternativen «die hohen Kosten gezwungenermaßen in Kauf» (ebd.: 17). Zu guter Letzt ist dies auch eine Frage der Gerechtigkeit und der gleichwertigen Lebensverhältnisse, des Rechts auf eine sozialökologische und gerechte Mobilitätswende für alle. Kurz: Der Haltung «In der Stadt mag das gehen, auf dem Land braucht es das Auto» gilt es, konkrete Alternativen entgegenzusetzen. Aber wie geht das? [...]

Die vorliegende Studie untersucht unterschiedliche Ansätze und Beispiele des Ausbaus des öffentlichen Personenverkehrs im ländlichen Raum. Busse und Bahnen müssen hier oft und schnell fahren. Ziel einer (Wieder-)Ausbaustrategie für den öffentlichen Personenverkehr sollte entsprechend ein enger und zuverlässiger Takt auf allen wichtigen Bus- und Bahnstrecken sein. An ZU GUTER LETZT IST DIES AUCH EINE FRAGE DER GERECHTIGKEIT UND DER GLEICHWERTIGEN LEBENSVERHÄLTNISSE [...]. KURZ: DER HALTUNG, «IN DER STADT MAG DAS GEHEN, AUF DEM LAND BRAUCHT ES DAS AUTO» GILT ES, KONKRETE ALTERNATIVEN ENTGEGENZUSETZEN. ABER WIE GEHT DAS? wichtigen Verkehrsknotenpunkten sollten Bus- und Bahnverkehre abgestimmt aufeinandertreffen, um Umsteigezeiten gering zu halten. Diese Punkte wären als Mobilitäts- Hubs auszubauen, verbunden mit einem Rufbussystem für entlegenere Orte sowie einem Verleihsystem für Lastenräder und E-Bikes (und entsprechend ausgebauten Radwegen) – alles in einer (öffentlichen) All-in-one-App integriert. Busse müssen nicht mehr in jedes Dorf fahren, sondern sollten ein schnell erreichbares Netz bilden. Organisiert werden müssen die Wege zu den Haltestellen, flexible Systeme, ob Rufbus oder ein Leihrad (wenn es sein muss, auch ein E-Roller), ergänzen dann von dort bis zur Haustür. [...]

Die Umsetzung einer gerechten, sozialökologischen Mobilitätswende in ländlichen Räumen ist aufwendig, erfordert umfangreiche Investitionen und viel Überzeugungsarbeit und Partizipation – aber sie ist möglich und einfacher, als manche denken. Auch ohne eine strahlende Vision autonomer Fahrzeuge kann die Zukunft bereits jetzt beginnen.

(Aus dem Vorwort von Mario Candeias und Volker Hinck)