Aktuelle Nachrichten https://www.rosalux.de/ Hier finden Sie unsere aktuellen Nachrichten. de Copyright Sat, 29 Jun 2024 16:54:35 +0200 Sat, 29 Jun 2024 16:54:35 +0200 TYPO3 Aktuelle Nachrichten https://www.rosalux.de/fileadmin/sys/resources/images/dist/logos/logo_rss.jpg https://www.rosalux.de/ 144 109 Hier finden Sie unsere aktuellen Nachrichten. news-45259 Sat, 17 Aug 2024 16:53:00 +0200 @rosalux_klima auf Instagram folgen https://www.instagram.com/rosalux_klima/ news-52250 Wed, 26 Jun 2024 10:53:19 +0200 Populistische Parteien nach dem Euroskeptizismus https://www.rosalux.de/news/id/52250 Warum fiel die prognostizierte Rechtsverschiebung bei der Europawahl schwächer aus als erwartet? Die Europawahl bedeutet je nach Perspektive etwas anderes. Für das Brüsseler Pressekorps ist sie ein Anlass für fieberhafte Spekulationen darüber, wer nach tagelangem Kuhhandel und Hinterzimmerdeals die «Spitzenpositionen» erhält – die Präsidentschaften des Rates, der Kommission und des Parlaments sowie den Posten des Hohen Vertreters für Außen- und Sicherheitspolitik. Für die Staats- und Regierungschefs der Mitgliedstaaten bietet die Wahl eine Gelegenheit, ihrer Partei einen höheren Anteil Abgeordneter zu verschaffen und möglicherweise einer Fraktion vorzustehen – so gewinnen sie Macht, Prestige und ein Druckmittel bei Verhandlungen mit anderen europäischen Staaten. Für Oppositionspolitiker*innen bietet das EU-Parlament eine nützliche (und lukrative) Möglichkeit abzuwarten, bis sich daheim politische Optionen bieten. Der derzeitige italienische Außenminister, Antonio Tajani, war mehr als zwei Jahrzehnte Europaabgeordneter; Marine Le Pen und Nigel Farage saßen ebenfalls lange im Parlament.

Christopher Bickerton ist Professor für Modern European Politics und Fellow am Queens’ College der University of Cambridge.

Die EU-Bürger*innen sehen die Wahl jedoch oft als Möglichkeit, nationale politische Kämpfe auf einer anderen Ebene auszutragen. 2014 markierte den Durchbruch von Podemos und der Fünf-Sterne-Bewegung und ermöglichte es Syriza, die Pasok als führende linke Kraft in Griechenland zu verdrängen. In Großbritannien war die Wahl von 2019 praktisch ein zweites Referendum über den Brexit. 2024 sollten wir Zeug*innen eines reaktionären Überholvorgangs im kontinentalen Maßstab werden: Populist*innen und Extremist*innen würden die politischen Mainstream-Formationen des Parlaments zu Fall bringen. Ursula von der Leyen, die für eine zweite Amtszeit als Kommissionspräsidentin antrat, bezweifelte, dass sie ihre «Große Koalition» aus Zentrist*innen und Liberalen aufrechterhalten könne, und wandte sich vor der Wahl an die Italienerin Giorgia Meloni – mit der Aussicht auf einen Deal mit der extremen Rechten.

Rechter Erdrutschsieg bleibt aus

Doch nach der Wahl erwies sich das Gerede von einem Erdrutschsieg als übertrieben. In den Niederlanden erhielt Geert Wilders’ Partij voor de Vrijheid (Partei für die Freiheit) sechs Sitze, unterlag aber dem Bündnis aus Mitte-links-Parteien und Grünen. In Deutschland verbesserte sich die AfD von neun auf fünfzehn Sitze, blieb aber weit hinter der CDU/CSU zurück, die satte 29 Mandate errang. In Spanien konnte Vox zwei Sitze hinzugewinnen, aber der Stimmenanteil blieb unter zehn Prozent, während der Partido Popular (die konservative Volkspartei) mit vier Prozentpunkten vor der regierenden sozialdemokratischen PSOE stärkste Kraft wurde. Die Perussuomalaiset («Wahre Finnen») erhielten ebenfalls weniger als zehn Prozent der Stimmen und verloren einen Sitz, während die Sverigedemokraterna (Schwedendemokraten) einen Sitz hinzugewannen, aber hinter den etablierten Parteien des Landes und den Grünen auf dem vierten Platz landeten.

Die dominanten Gruppierungen im EU-Parlament haben sich ebenfalls als relativ beständig erwiesen. Die Mitte-rechts-Fraktion der Europäischen Volkspartei (EVP) gewann neun Sitze hinzu und kam damit auf 185 Sitze, während die sozialdemokratische Mitte-links-Fraktion (S&D) nur zwei Sitze verlor und 137 Sitze erzielte. Die größten Verlierer*innen waren das liberale Renew Europe und die Grünen, die 23 bzw. 19 Sitze einbüßten.

Die beiden größten rechtsextremen Formationen gewannen zusammen nur 13 Sitze hinzu; die Europäischen Konservativen und Reformer (EKR) verfügen nun über 73 Sitze, während auf Identität und Demokratie (ID) 58 Sitze entfallen. Es ist unwahrscheinlich, dass sich die beiden Gruppen zusammenschließen, und es ist immer noch unklar, wo sich die AfD – die keiner von beiden angehört – einreihen wird.

Die EKR wurden 2009 von den britischen Konservativen gegründet, denen die EVP zu proeuropäisch schien. Sie vertritt den gemäßigteren Flügel der extremen Rechten und hält sich nicht an die europäische Variante der Brandmauer, den sogenannten cordon sanitaire, der rechtsradikale Abgeordnete von einflussreichen Positionen im Parlament fernhalten soll. Zu ihnen gehören Melonis Fratelli d’Italia (Brüder Italiens) sowie die polnische Prawo i Sprawiedliwość (PiS, Recht und Gerechtigkeit). Die ID hingegen gilt als inakzeptabel und vereint Marine Le Pens Rassemblement National (RN, Nationale Sammlungsbewegung), Matteo Salvinis Lega und die Eesti Konservatiivne Rahvaerakond (Estnische Konservative Volkspartei).

Alles wie gehabt?

Im EU-Parlament kommt es also zu einer Rechtsverschiebung, wenn auch langsamer als erwartet und mit stark gespaltenen populistisch-nationalistischen Gruppierungen. Die Wahlergebnisse deuten darauf hin, dass es so weitergehen wird wie bisher. Von der Leyen betont, dass «die Mitte hält» und ihr Bündnis fortbestehe, möglicherweise mit Unterstützung der Grünen. Die politischen Hauptströmungen der EU scheinen ihre Differenzen beiseitezulegen, um ihre Hegemonie aufrechtzuerhalten. Wie viele in Brüssel wissen, kann die Strategie der Großen Koalition jedoch dazu führen, dass die politische Mitte noch mehr als eine undifferenzierte Masse von machthungrigen Politiker*innen erscheint, ihren Gegner*innen Zulauf verschafft und später Probleme verursacht.

Auf nationaler Ebene war besonders interessant, wo die Europawahl die politischen Entwicklungen daheim vorwegzunehmen schien. Vielleicht etwas voreilig galt das starke Abschneiden von Péter Magyar – einem Fidesz-Insider, der zum Gegner und Whistleblower wurde – als Zeichen dafür, dass Viktor Orbáns Dominanz allmählich schwindet. In Polen büßte die PiS fünf Sitze ein und verlor gegenüber Donald Tusks Platforma Obywatelska (Bürgerplattform) weiter an Boden. Meloni führte einen bemerkenswert persönlichen Wahlkampf und forderte ihre Anhänger*innen auf, «Giorgia» auf die Stimmzettel zu schreiben. Sie erhielt knapp 30 Prozent der Stimmen und 14 zusätzliche Sitze. Die SPD von Olaf Scholz wurde unterdessen sowohl von der größten Oppositionspartei als auch von der AfD überholt, was zu Spekulationen darüber führte, wie lange er noch im Amt bleiben kann.

Den Preis für das größte Drama auf nationaler Ebene konnte jedoch Frankreich einheimsen. Das RN bezeichnete die Wahl als Referendum über Macrons zweite Amtszeit und gewann mehr als doppelt so viele Stimmen wie das Wahlbündnis des Präsidenten. Raphaël Glucksmann von der Parti socialiste tauchte als neue Mitte-links-Figur auf und errang für seine gemeinsame Liste 13 Sitze – genauso viele wie Macron. Die anderen Parteien des zersplitterten NUPES-Bündnisses (Neue ökologische und soziale Volksunion) schnitten im Allgemeinen schlecht ab; nur La France insoumise (Unbeugsames Frankreich) erhielt zehn Prozent und neun Sitze.

Angesichts der Ergebnisse löste Macron das Parlament auf und beraumte für den 30. Juni und 7. Juli Neuwahlen an. Dies scheint ein Versuch zu sein, das RN direkt herauszufordern. Die extreme Rechte sagt, sie sei bereit zu regieren – sollte sie aber die anstehende Wahl gewinnen, könnte ihr Vorsitzender, Jordan Bardella, durchaus Ministerpräsident werden, und Macron weiß, dass es schwierig ist, in dieser Position populär zu bleiben.

Die Gretchenfrage: Pro oder contra EU

Weniger beachtet wird, was das für die grundsätzliche Spaltung in der europäischen Politik bedeutet: zwischen den Befürworter*innen und den Kritiker*innen der EU. Der Politikwissenschaftler Peter Mair stellte einmal fest, dass die besondere Struktur dieser überstaatlichen Organisation es den Bürger*innen erschwere, einzelne Maßnahmen zu gestalten oder dagegen vorzugehen. Infolgedessen nehme der Widerstand zwangsläufig die Form eines Widerstands gegen die EU insgesamt an. Während in der Nachkriegszeit hauptsächlich die Linke für Euroskeptizismus stand, übernahm ab den 1990er Jahren vermehrt die souveränistische und nationalistische Rechte solche Positionen, vor allem in Gestalt der britischen UKIP und der Freiheitlichen Partei Österreichs (FPÖ). Diese Verschiebung spiegelte einerseits die Implosion der parlamentarischen Präsenz kommunistischer Parteien auf dem Kontinent wider, veranschaulicht etwa durch den spektakulären Niedergang der Kommunistischen Partei Frankreichs, andererseits aber auch die Aufgabe des Prinzips der nationalen Souveränität durch die Linke im weiteren Sinne, die sich beispielhaft in der Entwicklung der Pasok von einer profunden Kritikerin der europäischen Integration in den 1970er Jahren zu einer loyalen Befürworterin Ende der 1980er Jahre vollzog.

In diesem Jahr haben die rechtsextremen Parteien zwar die größten Zuwächse in der Geschichte der EU erzielt, aber die Wahl zeigt auch, wie sehr sie sich an die Institution angepasst haben. Scharfer Euroskeptizismus wurde durch biederen Reformismus ersetzt, wie Melonis Wahlkampfslogan beispielhaft verdeutlicht: «Italien verändert Europa». Wilders, der einst einen Austritt der Niederlande aus der EU vertrat, gab diese Position mit Beginn des Wahlkampfs schnell auf. Auch Le Pen sprach sich bei der Europawahl 2014 noch für einen «Frexit» aus, verschreibt sich seitdem jedoch einer Politik des «Wandels von innen».

In dieser Hinsicht ahmen die rechtsextremen Parteien Westeuropas immer mehr die Strategien ihrer Pendants in Mittel- und Osteuropa nach. Recht und Gerechtigkeit liegt seit Jahren im Clinch mit Brüssel, hat aber nie ernsthaft einen «Polexit» in den Raum gestellt. Die Fidesz gerät häufig wegen Vertragsverstößen mit der EU aneinander, denkt aber nicht daran, auszutreten. Eine Ausnahme von diesem reformistischen Trend scheint die AfD zu sein, die nach wie vor eine harte Linie in Bezug auf den Austritt aus dem Euroraum und die Wiedereinführung der D-Mark vertritt. Das ist jedoch keineswegs der Hauptinhalt der Partei und auch nicht der Grund für ihren Erfolg, der vielmehr im Schüren deutscher Kulturkämpfe liegt.

Eine Ursache für diese mäßigende Tendenz ist der Brexit, der – indem er eine Verfassungskrise auslöste und die Zuwanderung nicht einzudämmen vermochte – der europäischen extremen Rechten vor Augen führte, dass sie den Austritt aus der EU nicht uneingeschränkt befürworten kann. Ein weiterer Grund ist der anhaltende Rückhalt der EU in der Bevölkerung der meisten Mitgliedstaaten. Da Parteien wie RN und Fratelli d’Italia versuchen, die traditionellen rechten Parteien zu verdrängen, indem sie Wechselwähler*innen umwerben, sind EU-feindliche Positionen zu einem Nachteil im Wahlkampf geworden. Die Vorsitzenden solcher Parteien werden oft als Hardliner und Ideolog*innen dargestellt, sind aber meist im Grunde flexible Pragmatiker*innen. Allzu rigide Persönlichkeiten, etwa Maxmilian Krah von der AfD, werden in der Regel an den Rand gedrängt.

In den letzten Jahren wurden die populistischen Kräfte Europas langsam in die Brüsseler Hierarchie eingegliedert. Vielleicht haben sie bei dieser Wahl nicht deren Führung übernommen, wie manche vorhergesagt hatten. Aber es hat sich gezeigt, dass sie bereit sind, zugunsten ihres Aufstiegs vom Euroskeptizismus Abstand zu nehmen.
 

Deutsche Erstveröffentlichung des Textes «After Euroscepticism», der zuerst von der «New Left Review» publiziert wurde. Die Zwischenüberschriften wurden redaktionell eingefügt. Übersetzung aus dem Englischen von André Hansen für Gegensatz Translation Collective.

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news-52184 Tue, 25 Jun 2024 18:17:00 +0200 Europas Linke stellt sich neu auf https://www.rosalux.de/news/id/52184 Die Wahlen zum Europaparlament haben auch das Kräfteverhältnis der linken Parteien untereinander verschoben Linke Wahlerfolge in Finnland und Schweden

Zwei Wochen nach den Europawahlen ist es eindeutig, wie grundlegend sich die Landkarte der linken Parteien in Europa verändert hat. Waren es lange die Die Linke aus Deutschland und die ab 2015 in Griechenland erfolgreiche Partei Syriza unter Alexis Tsipras, die eine größere Anzahl Abgeordnete in die linke Fraktion (früher GUE/NGL – heute The Left) im Europaparlament sendete, nehmen nun die französische La France Insoumise und die bei den Europawahlen sehr erfolgreichen nordischen Linken eine führende Rolle ein.

Johanna Bussemer leitet das Europa-Referat der Rosa-Luxemburg-Stiftung.

Denn die linke Gewinnerin dieser Europawahlen ist die finnische Linkspartei Vasemmistoliitto mit ihrer Spitzenkandidatin Li Andersson. Das Linksbündnis hat mit einem Wahlergebnis von spektakulären 17,3 Prozent (die Prognosen sagten um die 11 Prozent voraus) gezeigt, wie man mit einer klaren Positionierung zu den Kriegen in der Ukraine und in Gaza erfolgreich sein kann. Dank einer landesweit gut orchestrierten Kampagne ist es Vasemmistoliitto gelungen, sich in schwierigen Zeiten als zweitstärkste Kraft im Land zu behaupten. Li Andersson kündigte direkt nach ihrer Wahl an, in Brüssel eine «moderne Linksfraktion» im Parlament schaffen zu wollen.

Die Zustimmung zu Waffenlieferungen an die Ukraine auf der einen und eine Politik der Solidarität mit Palästina auf der anderen Seite teilt die finnische Linkspartei mit ihrer schwedischen Schwesterpartei Vänsterpartiet, die mit 10,9 Prozent auch ein sehr gutes Ergebnis einholte.

Frankreichs Neuwahlen sind entscheidend für die politische Ausrichtung Europas

Auch in Frankreich konnte La France Insoumise (LFI) mit 9,9 Prozent ein stabiles Ergebnis erreichen und wird in der zukünftigen linken Fraktion mit 9 Abgeordneten vertreten sein. Die Parti Communiste jedoch, Ende der 1970er Jahre mit stolzen 19 Abgeordneten im EP vertreten, verpasste den Einzug jetzt zum zweiten Mal.

In Frankreich hat sich nach der Ankündigung Macrons, wegen des schlechten Abschneidens seiner Partei Neuwahlen auszurufen, relativ rasch gezeigt, dass in der allergrößten Not breitere linke Bündnisse geschmiedet werden können. Denn abermals geht es darum, die Vorherrschaft des Rassemblement National und damit die Präsidentschaft Marine Le Pens zu verhindern. Während Macron der Brandmauer gegen Rechts und damit auch sich und seiner Regierung neuen Auftrieb verleihen könnte, stehen nun die Chancen für einen linken Wahlerfolg in Frankreich nicht schlecht, denn rechnerisch hatten Mitte-links Parteien bereits bei der Europawahl gemeinsam eine Mehrheit in Frankreich (9,9 Prozent La France Insoumise, Réveiller l'Europe 13,8 Prozent, EELV/Les Verts 5,5 Prozent, sonstige Linke 3,5 Prozent). Die Mitte-links Parteien in Frankreich hatten mit ihrem im letzten Jahr gemeinsam erarbeiteten Programm NUPES – die Bildung einer gemeinsamen Liste scheiterte auch hier letztendlich an den außenpolitischen Fragen Naher Osten und NATO –ein gutes Übungsprogramm für die nun so schnell anberaumten Wahlen.

Die nun gegründete Union Populaire liegt in aktuellen Umfragen auch nur knapp hinter dem RN. Allerdings tut die französische liberale Presse gerade alles, um diesen Erfolg aufzuhalten. Ihnen ist die potentielle Bewerbung Jean-Luc Mélenchons, der nicht selten als «linkspopulistischer Volkstribun» beschrieben wird, ein Dorn im Auge. Die französischen Medien machen sich damit zu einem billigen Steigbügelhalter für die Rechtsextremen.

Neue, linke Bündnisse in Europa?

Die bereits erwartete Initiative der Parteien, die seit längerem Kritik an der Europäischen Linkspartei geübt hatten, ließ nach den guten Wahlergebnissen nicht lange auf sich warten: die finnische Left Alliance, zuletzt als Beobachter in der Europäischen Linken, trat gleichzeitig mit dem portugiesischen Bloco aus der europäischen linken Partei aus. Gemeinsam mit La France Insoumise und der schwedischen Vänsterpartiet kündigten beide Parteien die Bildung einer neuen links-grünen europäischen Partei an. Dieser Entwicklung vorausgegangen war eine lange Periode des Ringens um gemeinsame Positionen innerhalb der europäischen Linken, in der zahlreiche kleine kommunistische und sozialistische Parteien vertreten sind, einige davon entfernt, Repräsentanten nach Brüssel zu senden. Zuletzt konnte in kaum einer zentralen außenpolitischen Frage mehr Einigkeit hergestellt werden. Insbesondere in Bezug auf das Verhältnis zu Russland gingen die Positionen seit Beginn des Angriffskrieges weit auseinander. Ein neues Bündnis schafft für die beteiligten Parteien die Möglichkeit, diese Konflikte abzuschütteln und an die Erfolge der linksgrünen Koalitionen auch auf der Ebene der europäischen Kooperation anzuknüpfen.

Denn tatsächlich gab es bei der Europawahl einen weiteren Überraschungserfolg: das 2022 gegründete linksgrüne Bündnis Alleanza Verdi e Sinistra in Italien erreichte 6,8 Prozent und errang damit 6 Mandate. Sinn Féin in Irland schnitt mit 11,1 Prozent ab, blieb jedoch weit hinter den Erwartungen zurück. Sinn Féin verfolgt im EP einen links-sozialdemokratischen Kurs, aber vor allem das Ziel, die irische Einheit voranzutreiben. Auch wenn es einige gegenteilige Spekulationen gegeben hat, ist ein Verbleib in der Gruppe von The Left wahrscheinlich, trotz des größeren Einsatzes der Sozialdemokratie für die Vereinigung.

Stabile Ergebnisse mehrerer linker Parteien

In anderen west- und südosteuropäischen Ländern schnitten linke Parteien mit Ergebnissen zwischen rund 4 und 8 Prozent ab. So erreichte das spanische Linksbündnis Sumar unter der charismatischen Arbeitsministerin Yolanda Díaz nur 4,7 Prozent der Stimmen. Díaz ist daraufhin von ihren Ämtern bei Sumar zurückgetreten, bleibt aber Sozial- und Arbeitsministerin in Spaniens Regierung. Sumar und Podemos waren nicht zusammen angetreten. Zwei der drei Parlamentarier von Sumar werden sich jedoch der grünen Fraktion anschließen.

Podemos erreichte 3,3 Prozent und kann sich damit genauso viele Plätze im Europäischen Parlament sichern wie Sumar. Auch der portugiesische Bloco schnitt mit 4,3 Prozent der Stimmen schlechter ab als zuvor und verliert damit einen seiner bisherigen zwei Sitze. Die dänischen Enhedslisten konnten ihren Sitz mit 7 Prozent halten, aber nicht an den Erfolgskurs ihrer skandinavischen Nachbarinnen anknüpfen. Für Levica, die in Slowenien aktuell drei Ministerinnen in der Regierung stellen, reichten die errungenen 4,8 Prozent nicht für einen Sitz im EP. In Polen dagegen bekommt das sozialdemokratisch-links orientierte Bündnis Lewica drei Sitze. Der ehemalige Sejm-Abgeordnete und offen homosexuell lebende Politiker Robert Biedroń wird mit zwei weiteren Kolleg*innen sicher ins EP einziehen. Alle drei Abgeordneten werden jedoch die sozialdemokratische Fraktion verstärken. Kein Mitglied der links orientierten Partei Razem konnte über die Liste ins Europaparlament einziehen.

Die zypriotische AKEL erreichte sogar 21,5 Prozent, verliert damit aufgrund der geringen Größe des Landes aber einen ihrer bisherigen Abgeordneten. Auch die belgische PTB (Parti du Travail de Belgique) und die PVDA (Partij van de Arbeid van België) erreichten mit 5,5 und 5,1 Prozent insgesamt gute Ergebnisse.

Spaltungen schwächen ehemalige linke Schwergewichte

Für Griechenland und Deutschland verändert sich aufgrund der Spaltung von Die Linke und Syriza einiges in Bezug auf die Repräsentanz der Parteien im Europäischen Parlament: Syriza, die nach der Spaltung verstärkt einen sozialdemokratischen Kurs einschlagen, jedoch  – so munkelt man im politischen Europa –  von der Sozialdemokratie angeblich nicht in ihre Reihen aufgenommen werden, sind weiterhin mit vier Plätzen vertreten. Für die linksgerichtete Abspaltung Nea Aristera und die Varoufakis-Partei MeRA25 hat hingegen mit jeweils 2,5 Prozent der Einzug nicht geklappt. Dafür ist die sich in den letzten Jahren modernisierende Kommunistische Partei Griechenlands (KKE) wieder mit zwei Kandidaten vertreten.

Wahrscheinlich werden die nun nur noch drei Kandidat*innen der deutschen Linken weiterhin mit vielen ihrer Schwesterparteien eine Fraktion bilden. Aktuell changiert die mögliche Größe der Fraktion um die 39 Abgeordneten. Noch ist nicht klar, wie die weiteren Entwicklungen aussehen werden.

Hier könnten jedoch insbesondere in der europäischen Außenpolitik in Bezug auf die Ukraine, den Gaza-Krieg und das Verhältnis zu Russland und die Frage nach Militärkooperationen verstärkt Konflikte auftreten.

Die skandinavischen Parteien haben gezeigt, dass ihr progressiver Politikstil und ihre eindeutige Haltung zur Ukraine und zum Gaza-Konflikt gepaart mit klaren Positionen zur Klimapolitik, erfolgreich sein können und werden verstärkt Einfluss auf die Ausrichtung von The Left nehmen wollen. Hier kann es vor allem zu Konflikten mit der ebenfalls starken Gruppe von La France Insoumise und dem Bloco auch im Hinblick auf den Umgang mit den Europäischen Institutionen kommen. Falsch ist jedoch die oft kolportierte vermeintliche Nähe des Bloco und LFI zum Bündnis Sarah Wagenknecht. Sowohl in Frankreich als auch in Portugal bleibt eine pro-migrantische Perspektive ein Kernstück linker Politik.

Da der gleichzeitige Verbleib von BSW und Die Linke in einer Fraktion jedoch aktuell ausgeschlossen scheint, kann es sein, dass sich eine zweite Gruppe anbahnt, in der neben BSW auch die italienische 5 Sterne Bewegung vertreten sein könnte. Zur Bildung einer Fraktion braucht es jedoch eigentlich mindestens 23 Abgeordnete aus sieben EU-Mitgliedsstaaten. Es könnte sein, dass sich Katherina Konecnà, die ihren Sitz für die kommunistische Partei Tschechiens mit dem Bündnis Stacilo wider Erwarten verteidigen konnte, sich der Gruppe anschließt.

Die Linke in Europa steht also vor großen Herausforderungen in Hinblick auf ihre programmatische Einigkeit, die Gruppenbildung im Europäischen Parlament, aber auch den Erhalt der europäischen Linkspartei European Left. Dabei ist eine klare, linke Einheit gerade jetzt angesichts des sich manifestierenden Rechtsruckes dringend nötig.

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news-51478 Tue, 25 Jun 2024 12:01:00 +0200 Wer bezahlt den Klimaschutz? https://www.rosalux.de/news/id/51478 Die Dekarbonisierung ist nicht finanzierbar ohne Umverteilung von Vermögen Jährlich rund 46 Milliarden Euro Staatsausgaben (entsprechen 1,3 Prozent des Bruttoinlandprodukts (BSP) oder 6,3 Prozent der Bruttoinlandinvestitionen) würden reichen, um bis 2045 die Bundesrepublik CO2-frei zu machen. Das klingt nach beinah nichts, angesichts der sich dramatisch verschärfenden Klimakrise. In Hinblick auf das aktuelle Milliarden-Verschieben im Zusammenhang mit dem Urteil des Bundesverfassungsgerichtes von letztem Dezember, welches auch zu Lasten des Klimaschutzes geht, scheint die Summe dann aber doch mehr zu sein als «Peanuts».

Zunächst: Woher kommen die 46 Milliarden Euro überhaupt, was decken sie ab?

Als Mitarbeiter der Denkfabrik Agora Energiewende trugen die Wissenschaftler Tom Krebs und Janik Steitz bereits 2021 zusammen, welche Schätzungen für jene zusätzlichen Umbaukosten vorliegen, die Bund, Länder und Kommunen bis 2030 stemmen müssten, um Deutschland bis 2045 klimaneutral zu machen. Dabei ging es zum einen um die notwendigen Mittel für Klimaschutz im eigenen Verantwortungsbereich, zum anderen, um jene Gelder, die aufzubringen wären, um private Klimaschutzinvestitionen angemessen mit Fördergeldern unterstützen zu können. Bei den insgesamt ermittelten rund 46 Milliarden Euro pro Jahr geht es somit allein um öffentliche Gelder, nicht um Privatinvestitionen, wie die Gebäudesanierung von Eigenheimen oder den Industrieumbau. Die Verbindung zu letzteren besteht darin, dass beispielsweise staatliche KfW-Programme Klimasanierungen privater Gebäude fördern oder der Staat solange den Einsatz grünen Wasserstoffs in Stahlwerken subventioniert, bis dieser zu wettbewerbsfähigen Preisen beziehbar ist. Das Volumen der für den Umbau notwendigen Privatinvestitionen ist nicht Bestandteil dieser Summe. Es wird ein Vielfaches jener Mittel ausmachen, die der Staat als Zuschuss oder Anreiz bereitstellt, schreiben die Autoren in ihrer Überblicksarbeit.

Uwe Witt ist Referent für sozial-ökologische Transformation der Rosa-Luxemburg-Stiftung.

Da die 46 Milliarden Euro jährlich also öffentliche Gelder sind, wären sie über den Kernhaushalt zu finanzieren oder über entsprechenden Sondertöpfe, wie dem Klima- und Transformationsfonds (KFT) des Bundes. Letzterer ist nicht direkt Bestandteil des Bundesetats, da bei ihm eine Zweckbindung der Einnahmen mit den Ausgaben besteht – im Gegensatz zum normalen Haushalt, wo jede Einnahme für jede Ausgabe verwendet werden kann. Gespeist wird der KTF hauptsächlich aus den Erlösen aus der CO2-Bepreisung. Das sind zum einen jene Gelder, die Deutschland anteilig aus den Versteigerungen von Emissionsberechtigungen im EU-Emissionshandel für Energiewirtschaft und Schwerindustrie zustehen, zum anderen alle Einnahmen aus dem nationalen Emissionshandel für den Gebäude- und Wärmebereich über das Brennstoffemissionshandelsgesetz (BEHG). In der Vergangenheit, als die CO2-Preise noch niedrig lagen, bezuschusste der Kernhaushalt den KTF allerdings zusätzlich mit einigen Milliarden, damit dieser besser ausgestattet seiner Aufgabe nachkommen kann: der gebündelten Finanzierung von Klimaschutzmaßnahmen.

Besser war aber nicht gut, denn das KTF-Volumen (damals hieß der Topf Energie- und Klimafonds, EKF) war viel zu gering, um auch nur halbwegs ausreichend Mittel für den Umbau zur Verfügung stellen zu können. Die Ampelregierung stockte die Programmausgaben in Folge um etliche Milliarden auf (siehe weiter unten). Dieser Aufwuchs wiederum überstieg trotz inzwischen höherer CO2-Preise die Einnahmen aus dem Emissionshandel deutlich. Die Lücke, so der Plan, sollte diesmal nicht der Kernhaushalt schließen, sondern nicht genutzte Kreditlinien aus einem anderen Sondertopf – dem Wirtschaftsstabilisierungsfonds (WSF), geschaffen zur Bewältigung der Corona-Krise. Diesen Plan durchkreuzte nun das Bundesverfassungsgericht.

Die Union als Klägerin gegen die Bundesregierung rieb sich die Hände vielleicht ein wenig zu früh, denn das Urteil setzt auch Maßstäbe, an denen Sonderfonds der Länder (auch CDU- oder CSU-geführter) scheitern könnten, die ähnlich wie KTF bzw. WSF funktioniert haben: Klimaschutzfinanzierungen auf Pump, vorbei an den eigentlichen Länderhaushalten. An diesen Töpfen hängen wiederum Gelder, die über die Kommunen ausgeteilt oder von jenen verwendet werden, um Treibhausgasemissionen im Gemeindegebiet zu senken.

Finanzbedarf: die Summe verschiedener Teile

Jene 46 Milliarden Euro jährlich respektive 460 Milliarden Euro in den zehn Jahren 2021 bis 2030, zu denen die Agora-Studie als voraussichtlicher Bedarf kommt, setzen sich zusammen aus verschiedenen Teilsummen.

  • Erstens sind da die Ausgaben des Bundes für Maßnahmen, mit denen in Bundesliegenschaften der CO2-Ausstoß gemindert werden soll, etwa rund 90 Milliarden Euro bis 2030 werden dafür bei Agora angegeben.
  • Ein zweiter Block umfasst mit 170 Milliarden Euro jene Gelder, die die Kommunen für Klimaschutzmaßnahmen in Städten und Gemeinden verausgaben müssten.
  • Drittens sollten bis Ende des Jahrzehnts 200 Milliarden Euro zur Förderung von privaten Klimaschutzinvestitionen zur Verfügung stehen. Sie werden in der Regel vom Bund ausgegeben, siehe obige Beispiele für Gebäudesanierung von Wohneigentum oder Wasserstoff in der Industrie.

Das Agora-Bild stellt aber noch nicht alle Finanzierungsbedarfe dar. In der Studie selbst wird beispielsweise eingeschätzt, dass der Übertragungs- und Verteilnetzausbau eine überragende Rolle für das Gelingen der Klimawende in der Energiewirtschaft und Industrie spielt. Ein Teil davon wird mit öffentlichen Geldern finanziert werden müssen, sollen die Netzentgelte nicht zu stark ansteigen. Wir hoch der Bedarf sein wird, sei aber aufgrund von regulatorischen Unsicherheiten derzeit nicht bezifferbar.

Keine Abfederung durch den Wirtschaftsstabilisierungsfonds

Die Realität hat die Agora-Studie hier eingeholt: Allein aufgrund von zusätzlichem Aufwand zur Systemstabilisierung während der Energiekrise entstanden den Netzbreibern letztes Jahr auf der Höchstspannungsebene erhebliche Mehrkosten. In Höhe von 5,5 Milliarden Euro sollten sie vom WSF abgefedert werden, was aufgrund des Urteils des Bundesverfassungsgerichts nun nichtig ist. Folglich werden die Stromkunden für diese Netzebene in diesem Jahr 6,43 Cent je Kilowattstunde zahlen müssen – mehr als doppelt so viel, wie 2022.

Genau solche Preisschübe wollte die Ampel eigentlich angesichts der Strompreisexplosion in der Energiekrise verhindern. Im Falle der EEG-Umlage beschloss sie letztes Jahr sogar, aktiv gegenzusteuern, und diese Umlage abzuschaffen: Die Zuschüsse für Ökostrombetreiber werden seit Juli letzten Jahres vollständig staatlich finanziert, statt wie bisher über die Stromrechnung von Haushalten und Unternehmen. Das Geld dafür kommt aus dem KTF. Allerdings geht dieser Posten in die Agora-Berechnung lediglich mit dem vergleichsweise geringen Finanzierungsbedarf ein, der für Neuanlagen von 2021 bis 2030 veranschlagt wird, um die Differenzkosten zum Marktpreis für Strom zu decken (zehn Milliarden Euro – entspräche einer Milliarde Euro pro Jahr). Denn zum Zeitpunkt der Studien-Erstellung gab es noch die von den Endkunden zu zahlende EEG-Umlage. Sie stellte den um den Faktor 13 höheren Finanzbedarf für Entgeltzahlung an Wind- und PV-Altanlagen sicher. Da nunmehr das EEG vollständig staatsfinanziert wird, müssen die dafür notwendigen 13 Milliarden Euro pro Jahr dem Bereich der staatlichen Förderung privater Investitionen zugerechnet werden.

Rechnung mit vielen Unbekannten

Technisch geschieht das über den KTF, was trotz Christian Lindners Sparorgie wohl auch so bleiben soll. Aus den jährlich 46 Milliarden Euro eingangs werden also allein aus diesem Posten 59 Milliarden Euro als Finanzbedarf.

Nicht enthalten, das weist die Studie ebenfalls aus, sind aber auch in dieser Summe noch keine Ausgaben für die Umbauförderung in den Bereichen Landwirtschaft, Landnutzung und Abfall – die Mittel seien momentan nicht bezifferbar. Sollte die Bundesregierung die Umrüstung von LKWs auf Wasserstoff und den Aufbau eines Tankstellennetzes für H2-angetriebene PKWs anstreben, kämen auch hier Finanzierungsbedarfe hinzu, die nicht in der Rechnung stehen. Weil Expert*innen in diesen Bereichen jedoch gar keinen Wasserstoff empfehlen (extrem ineffizient und teuer gegenüber einer Elektrifizierung), wird es hier wohl kaum Zusatzausgaben geben. Es sei denn, die FDP setzt auch hier gegen jede wirtschaftliche Vernunft auf Verschwendung.

Eine Leerstelle bei Agora, die dagegen mit Sicherheit zu füllen wäre, ist der Finanzierungsbedarf für künftige Anpassungsmaßnahmen an die Folgen des Klimawandels sowie zusätzliche Schäden. Die Studie benennt die Problematik, hat aber zu wenig belastbare Untersuchungen gefunden, um die dafür aufzubringenden Summen zu beziffern. Klar dürfte aber sein, dass es Bund, Länder und Kommunen zweistellige Milliardenbeträge kosten wird. Allein zur Bewältigung der Flutschäden infolge der Ahrtal-Katastrophe haben der Bund und die Länder 30 Milliarden Euro beigesteuert.

Was zudem fehlt, und in der Übersichtsarbeit auch nicht benannt wird, sind Posten, die den Umbau sozial gezielter und stärker abfedern könnten als bislang. Zwar haben vielen berücksichtigte Maßnahmen soziale Komponenten (auch wenn diese nicht zielgenau sind und teilweise Reichen überproportional zu Gute kommen), etwa die Fördergelder für die energetische Gebäudesanierung oder eben die Abschaffung der EEG-Umlage. Angesichts zwar gesunkener, aber immer noch hoher Energiepreise müssten jedoch endlich Komponenten wie ein Klimageld an die Haushalte gezahlt werden, zumal dies im Koalitionsvertrag vereinbart wurde und die CO2-Preise absehbar weiter steigen werden. Der Verbraucherverband Bundeszentrale veranschlagt hierfür beispielsweise 11,4 Milliarden Euro im Jahr, was 139 Euro pro Kopf an Rückzahlung ergeben würde. Darüber hinaus ist es aus Sicht internationaler Klimagerechtigkeit eine Pflicht, die Zahlungen an den am stärksten vom Klimawandel betroffenen Globalen Süden deutlich aufzustocken. Mindestens acht Milliarden Euro jährlich statt der bislang 6,4 Milliarden Euro müsste Deutschland bereitstellen, so etwa die Klima-Allianz Deutschland.

Doppelte Höhe des Finanzbedarfs ist realistisch

Überschlagen wir die genannten Mehrbedarfe an Geld, kommen wir auf weitere 20 bis 30 Milliarden Euro. So käme man auf etwa 80 bis 90 Milliarden Euro, die durchschnittlich jedes Jahr seitens des Staates zu schultern wären, um seine Finanzierungsaufgaben beim sozialökologischen Umbau zu erfüllen. Davon wären mindestens 50 bis 60 Milliarden Euro vom Bund zu tragen. Schließlich fallen nicht nur die Bundesinvestitionen und internationale Verpflichtungen, sondern auch sämtliche Förderprogramme für private Investitionen (also der dritte Block in der Aufzählung oben) in seine Verantwortung. Überdies – auch darauf weisen die Agora-Autoren hin – sind ein relevanter Teil der zusätzlichen kommunalen Investitionen Bundesaufgaben.

Der ursprüngliche Ausgabenplan für den KTF betrug zwischen 57,6 Milliarden Euro im Jahr 2024 und 40 Milliarden Euro in 2027. Auch wenn zu berücksichtigen ist, dass sich nicht alle klimarelevanten Ausgaben im KTF befinden (dafür aber im KTF auch fragliche Posten, wie überbordende Strompreisstützungen für Unternehmen) wich dieser ursprüngliche Bewirtschaftungsplan zumindest vom Ausgabenvolumen nicht in Größenordnungen von jenen 50 bis 60 Milliarden ab, lag im Schnitt aber spürbar darunter. Mit den aktuellen KTF-Kürzungen von insgesamt rund 30 Milliarden Euro bis 2027 öffnet sich die Lücke weiter.

Das im Kern ungelöste Problem besteht in der Frage, woher die benötigten Bundesmittel künftig kommen sollen. Es manifestiert sich aktuell in den Umschichtungen und Streichungen nach dem Urteil der Bundesverfassungsgerichts, die zu Lasten von Sozialem und Klimaschutz gehen. Vor allem aber wird sich die Finanzierungslücke von mehreren Dutzend Milliarden Euro allein im Klimabereich jedes Jahr neu auftun. Geschlossen werden kann sie über zwei Wege:

Zum einen durch die Aufhebung der Schuldenbremse, die vollkommen unnötig den Handlungsspielraum für die öffentliche Hand einengt, wie unser viel zu früh verstorbener Genosse Axel Troost mehrfach nachgewiesen hat. Aber auch für ihn war Kreditaufnahme keine frei verfügbare Gelddruckmaschine, sollen volkswirtschaftliche Relationen nicht durcheinandergeraten.

Damit kommen wir zum zweiten Weg: Er nennt sich altmodisch aber folgerichtig «Umverteilung von oben nach unten». Die hohen Einkommen und Vermögen müssen einen deutlich höheren Beitrag dafür tragen, die vollständige Dekarbonisierung unserer Gesellschaft bis spätestens zum Jahr 2045 zu gewährleisten.

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news-50947 Mon, 24 Jun 2024 14:40:00 +0200 Keynes' Kritik der Finanzmärkte https://linx.rosalux.de/einfuehrung-in-keynes-kritik-der-finanzmaerkte Was ist Keynesianismus? Keynes' Perspektive auf Finanzmärkte und Spekulationsblasen news-52242 Mon, 24 Jun 2024 12:56:49 +0200 Die Emirate des Kapitals https://www.rosalux.de/news/id/52242 Die Vereinigten Arabischen Emirate im Kontext der US-Hegemonie Über viele Jahre hinweg haben die Vereinigten Arabischen Emirate (VAE) ein loyales Verhältnis zum US-amerikanischen Imperium gepflegt. Auf den ersten Blick scheint sich die erdölreiche Monarchie nun einer neuen multipolaren Weltordnung anzupassen. Seit 2022 haben die VAE sich aus Washingtons Wirtschaftskrieg gegen Russland zurückgezogen. Abu Dhabi, das Emirat, das für die Außen- und Energiepolitik der Föderation zuständig ist (und über den größten Teil der Ölreserven verfügt), blockierte den Ausschluss Russlands aus der Fördervereinbarung der OPEC+. Dubai, das größte Güterverkehrszentrum der Region, exportiert Drohnen und Halbleiter nach Russland und lässt russische Edelmetalle und Diamanten durch die Rohstoffbörse des Emirats (Dubai Gold- and Commodities Exchange, DGCX) passieren. Sowohl der Immobilienmarkt als auch die Häfen der Stadt stehen wohlhabenden Russ*innen offen, die dort ihr Vermögen in Sicherheit bringen wollen.

Colin Powers ist Senior Fellow und Chefredakteur des MENA-Programms von Noria Research.

Und es gibt noch einen weiteren Feind der USA, dem die Vereinigten Arabischen Emirate unschätzbare Hilfe leisten: Iran. Dank der Rohölexporte über die Häfen von Fudschaira konnte Teheran seine eigenen Ölexporte 2023 um 50 Prozent steigern. Abu Dhabi orchestriert beträchtliche Reexport-Ströme, während Dubai Schattenbankgeschäfte und Importvereinbarungen ermöglicht. Öffentlichen Statistiken zufolge beträgt das jährliche Handelsvolumen zwischen den VAE und Iran rund 25 Milliarden US-Dollar, was das Land zum zweitgrößten bilateralen Handelspartner der Emirate macht, wobei der illegale Handel, der auf 10 Mrd. US-Dollar geschätzt wird, noch nicht berücksichtigt ist.

Und dann ist da noch China, der inzwischen größte Abnehmer von Waren, die von den VAE produziert oder durch diese transportiert werden. Etwa zwei Drittel aller chinesischen Exporte in den Nahen Osten, nach Afrika und Europa werden über Häfen der VAE abgewickelt. Um den Handel zu optimieren, wurden umfassende Währungsswap-Abkommen zwischen den Zentralbanken geschlossen, und chinesische Geschäftsbanken haben sich im Internationalen Finanzzentrum von Dubai niedergelassen. Dort verfügen sie inzwischen über ein Viertel aller Vermögenswerte. Die «Bani Fatima» (der «Stamm der Fatima») – wie der Präsident der VAE und Herrscher Abu Dhabis, Muhammad bin Zayed Al Nahyan, und seine fünf Brüder mütterlicherseits genannt werden – beauftragten Huawei 2019 mit dem Ausbau der 5G-Infrastruktur des Landes, zum Leidwesen der amerikanischen Nationalen Sicherheitsbehörde (NSA). Tahnoon bin Zayed Al Nahyan, der nationale Sicherheitsberater der Emirate, hat über das Familienunternehmen 220 Milliarden US-Dollar in den Mutterkonzern von TikTok, ByteDance, investiert und damit Washington einen weiteren Denkzettel verpasst.

Dem Dollar verpflichtet

In mancher Hinsicht setzen die VAE tatsächlich auf zunehmende geopolitische Autonomie. Sich nicht zwischen rivalisierenden Supermächten entscheiden zu müssen, ist ein Privileg, das sich nicht nur auf die beispiellosen finanziellen Ressourcen des Landes stützt, sondern auch das Ergebnis von Lobbyarbeit und politischem Scharfsinn ist. (Mit der Unterzeichnung des Abraham-Abkommens im Jahr 2020 erhielt das Land außerdem verschiedene Vergünstigungen aus Washington.)

Die Motive der VAE lassen sich jedoch nicht auf das Streben nach Souveränität reduzieren. Bei näherer Betrachtung zeigt sich, dass das jüngste Handeln der VAE eher im Einklang mit den Verpflichtungen gegenüber den USA steht, als dass es von diesen abrückt. Trotz ihrer Partnerschaft mit Staaten, die nicht mit der US-Hegemonie konform gehen, bleiben die Emirate dem Projekt einer neoliberalen Globalisierung unter Führung der USA verpflichtet. Sie sind somit ein treuer Diener des «Imperiums des Kapitals», wie Ellen Meiksins Wood die USA einst nannte.

Hinter den vermeintlichen Differenzen zwischen den VAE und den USA steckt weniger ein abtrünniger Diener des Imperiums als vielmehr ein Kaiser, der nicht mehr in der Lage ist, zu erkennen, was in seinem Interesse liegt, geschweige denn, es zu wahren.

Die Beziehungen der VAE zu Russland sind ein gutes Beispiel dafür. Obwohl sie den amerikanischen Interessen zu widersprechen scheinen, erleichtern sie die Strategie der USA, den globalen Rohstoffhandel weiterzuführen, als gäbe es den Krieg in der Ukraine nicht. In Anbetracht möglicher Versorgungsengpässe und deren Auswirkungen auf die Inflation hat Washington die Umgehung von Sanktionen möglichst einfach gestaltet: Die VAE wurden zur Durchgangsstation für russisches Rohöl, das auf diesem Wege ohne größere Komplikationen sogar in die Upper Bay von New York gelangen konnte. Die EU hat ihrerseits Gesetze erlassen, um eine Vereinbarung zu sanktionieren, die raffinierte Ölprodukte von den G7-Vorschriften ausnehmen soll. Das US-Finanzministerium bestrafte zwar im vergangenen Winter vier Schifffahrtsunternehmen der VAE für den Transport von russischem Rohöl, das über der G7-Preisobergrenze von 60 US-Dollar pro Barrel verkauft wurde. Dabei handelte es sich jedoch um eine rein symbolische Geste, mit der das Weiße Haus signalisieren wollte, dass es den Verstößen, die sich seit der Einführung des Preislimits häufen, nicht tatenlos zusieht. Die Höhe der Strafen war zu gering, um wirksam zu sein.

Abgesehen von den bescheidenen Gasverkäufen in Yuan, bleiben die Emirate dem Dollar und der Dominanz des amerikanischen Finanzsystems verpflichtet. Da die VAE fast ihr gesamtes Erdöl und fast alle Erdölprodukte in Dollar abrechnen und den Großteil ihrer Übergewinne im Ausland behalten, flossen allein im Jahr 2022 45 Milliarden US-Dollar in Eurodollar- und US-Bankenmärkte. Im darauffolgenden Jahr erhöhten die Emirate ihre Bestände an US-Staatsanleihen um etwa 40 Prozent, was die amerikanische Liquidität begünstigte und Washington half, sein Haushalts- und Leistungsbilanzdefizit auszugleichen. Seit Covid haben amerikanische Banken zudem Anleihemissionen der VAE übernommen und platziert und darin eine reichhaltige Quelle für neue Einnahmen und Cashflow gefunden. Gleichzeitig haben die größten Staatsfonds des Landes – die Abu Dhabi Investment Authority (ADIA), Mubadala und die Abu Dhabi Developing Holding Company (ADQ) – riesige Summen an Petrodollar in US-Schattenbanken transferiert.

Hand in Hand mit Blackrock und Co.

Zudem stützen ADIA und Mubadala die wohl wichtigste institutionelle Säule des amerikanischen Finanzwesens: die Vermögensverwaltung. ADIA vertraut Blackrock und Co. 45 Prozent seines Kapitals an, während Mubadala eine nicht unbedeutende Beteiligung an der US-amerikanischen Investmentgesellschaft innehat. Im Rahmen der von der Biden-Regierung ins Leben gerufenen «Partnerschaft zur Beschleunigung sauberer Energie» hat die Vermögensverwaltungsfirma der Familie Al Nahyan grüne Investitionen im Wert von 30 Milliarden US-Dollar zugesagt, die gemeinsam mit Blackrock verwaltet werden sollen. Darüber hinaus haben die VAE langfristige Pachtverträge für Waldflächen in Liberia, Kenia, Tansania, Sambia und Simbabwe abgeschlossen und sich somit eine Schlüsselrolle in den entstehenden Emissionshandelsmärkten gesichert – was nicht zuletzt auch Washingtons absurde «Derisking»-Klimarettungsstrategie förderte, mit der private Investitionen für klimaneutrale Projekte eingeworben werden sollen.

Auch das Seehandelsnetz, das die Emirate durch die staatlichen Unternehmen DP World und AD Ports Group aufgebaut haben, ist für das US-Imperium von strategischem Interesse. Das Ziel der Unternehmen mit Sitz in Dubai bzw. Abu Dhabi besteht darin, einen immer größeren Anteil des Welthandels über die Megahäfen der VAE zu lenken, Sicherheitsvereinbarungen mit Partner-/Kundenländern zu treffen und Gebiete zu erwerben, von denen aus die VAE militärische Operationen starten können, wie schon beim Angriff der Emirate auf Jemen von einem DP-World-Hafen in Eritrea aus.

Die Unternehmen der VAE bauen und verwalten sogenannte «Freie Zonen» rund um ihre Häfen, in denen nationale Arbeitsgesetze nicht greifen, und regeln logistische Probleme, die im Zusammentreffen chinesischer, indischer und amerikanischer Handelsaktivitäten auftreten können. Die Märkte am Horn von Afrika, die einst nur lose in den Kreislauf der Weltwirtschaft eingebunden waren, werden dank dieser Zonen nun vollständig integriert. So erschließen die VAE anderen Staaten – allen voran den USA – neue Räume, in denen Exportkapital absorbiert und geostrategische Interessen durchgesetzt werden können. Im Gegenzug erhalten die VAE Pachtzahlungen für große Teile des Welthandels. Mit den jüngsten Hafenübernahmen in Pakistan, Indien und Indonesien wird die Kontrolle der Emirate über wichtige Logistikstandorte sich auf den Indischen und Pazifischen Ozean ausweiten.

Auch das globale Kapital profitiert von den staatlichen – bzw. genauer: königlichen –Wirtschaftsstrukturen der VAE. Die Eigenheiten des Systems können von Zeit zu Zeit gegen die Prinzipien des freien Wettbewerbs oder der Unternehmensführung verstoßen. So hat beispielsweise die Abu Dhabi Bank – dessen Vorsitzender Scheich Tahnoon ist und die sich mehrheitlich im Besitz von Mubadala und der königlichen Familie befindet – seiner königlichen Hoheit und auch anderen Vorstandsmitgliedern Kredite in Höhe von mehr als drei Milliarden US-Dollar gewährt. Tahnoon, der öffentlichen und privaten Institutionen vorsitzt und dessen Gesamtvermögen mehr als 1,5 Billionen US-Dollar beträgt, hat seine Verfügungsgewalt über öffentliche Ressourcen und seine Regulierungsbefugnisse genutzt, um seine internationale Holdinggesellschafft, die sich im privaten Besitz der Al-Nahyan-Familie befindet, aus der Bedeutungslosigkeit zu holen und innerhalb weniger Jahre zu einer höheren Marktkapitalisierung als Goldman Sachs zu verhelfen.

Während Washington sein Imperium in den kommenden Jahren weiter umstrukturiert, werden die VAE diese Übergangszeit darauf verwenden, jede Gelegenheit zu ihrem materiellen und strategischen Vorteil zu nutzen.

Von solchen Exzessen einmal abgesehen, genießen sowohl die Al Nahyans als auch Dubais regierende Al-Maktum-Familie für ihr Wirtschaftsmanagement und ihre Offenheit gegenüber ausländischen Investitionen ein hohes Ansehen. Sie sind in der Regel die ersten Risikoträger in der MENA-Region (dem Mittlerer Osten und Nordafrika) und ermöglichen es Händler*innen in London und New York, leichte Gewinne zu erzielen. Mit einer Investition von 25 Milliarden US-Dollar im Februar dieses Jahres hat der Staatsfonds ADQ die ägyptischen Zahlungsbilanzschwierigkeiten beseitigt und es westlichen Anleihehändler*innen ermöglicht, ohne Bedenken in das Land zurückzukehren und enorme Zinszahlungen für die ägyptischen Staatsschulden zu kassieren. Auf diese Weise gibt der Staatskapitalismus der VAE internationalen Investor*innen Orientierungshilfe zu den aufstrebenden Akteuren in den Strukturen der gegenwärtigen Globalisierung.

Trotz der oberflächlichen Risse, die das Bild der Harmonie zwischen den USA und den VAE trüben mögen, bleibt die Treue der Emirate gegenüber dem amerikanischen Imperium des Kapitals doch ungebrochen. Die Emiratis wissen, dass die US-Vorherrschaft sich nicht nur aus militärischer Macht speist, sondern auch auf den freien Kapitalverkehr, die Steuerung von Arbeits- und Handelshierarchien, das exorbitante Privileg des Dollars und die Verfügbarkeit von Offshore-Verstecken stützt. Die VAE halten diese Grundsätze in all ihren Handelsbeziehungen aufrecht. Das gilt auch für die Beziehungen zu Russland, China und Iran. Im Gegensatz dazu sind Teile des amerikanischen politischen Establishments bereit, diese Prinzipien durch selbstzerstörerische Handelskriege und die Instrumentalisierung des globalen Finanzsystems zu gefährden.

Hinter den vermeintlichen Differenzen zwischen den VAE und den USA steckt also weniger ein abtrünniger Diener des Imperiums als vielmehr ein Kaiser, der nicht mehr in der Lage ist, zu erkennen, was in seinem Interesse liegt, geschweige denn, es zu wahren.

Eine räuberische, neoliberale Monarchie

Seit dem Arabischen Frühling haben die Emirate das Vertrauen in die USA als verlässlichen Schutzpatron verloren – eine Skepsis, die durch Bidens Untätigkeit nach den Huthi-Angriffen auf die VAE und die iranischen Beschlagnahmungen von Öltankern noch verstärkt wurde. Dennoch hoffen die emiratischen Eliten, durch die Aufrechterhaltung enger Beziehungen zu bestimmten Fraktionen des US-Kapitals – insbesondere zum Finanzsektor – ihre Position in der imperialen Matrix zu bewahren: eine Position, die es ihnen ermöglicht, ihren Reichtum zu mehren, ihre Macht zu konsolidieren und sozialen Wandel zu verhindern.

All dies bedeutet nicht, dass die Vereinigten Arabischen Emirate frei von inneren Widersprüchen sind. Insbesondere seit 2011 haben die Emirate einen starken militärischen Interventionismus betrieben, der die Kapitalakkumulation oft eher behinderte als förderte. Das emiratisch-saudische Missgeschick im Jemen war ein solcher Fall, der Ansar Allah bzw. die Huthi zu einer militärischen Kraft beförderte, die heute in der Lage ist, den Seehandel um das Kap der Guten Hoffnung umzuleiten. Auch die Unterstützung für die Zintan-Milizen – und später auch Khalifa Hafter in Libyen – schürte politische Instabilität und störte die Ölförderung, während die transnationale Kampagne gegen die Muslimbruderschaft bestenfalls eine Verschwendung von Ressourcen war. Trotzdem waren Abu Dhabis militärische Exkursionen, selbst wenn sie kurzfristig finanzielle Verluste bedeuteten, für das Kapital nie gänzlich nutzlos. Zwar mögen die kriegerischen Auseinandersetzungen im Mittleren Osten und Nordafrika zeitweise Investmentmöglichkeiten beschnitten haben, sie konnten jedoch auch den politischen Horizont der lokalen Volksbewegungen begrenzen. Die VAE haben Bewegungen, die nach sozialem, politischem und wirtschaftlichem Wandel strebten, in defensive Positionen gezwungen und damit maßgeblich dazu beigetragen, dass die herrschenden Klassen- und Machtverhältnisse in den betreffenden Regionen unverändert bleiben.

Während Washington sein Imperium in den kommenden Jahren weiter umstrukturiert, werden die VAE diese Übergangszeit darauf verwenden, jede Gelegenheit zu ihrem materiellen und strategischen Vorteil zu nutzen und gleichzeitig die uneingeschränkte Hegemonie des globalen Kapitals aufrechtzuerhalten. Es ist möglich, dass dies zu Brüchen zwischen den USA und ihrem Stellvertreter führen wird, die Öffnungen für eine Politik der Demokratisierung und Umverteilung schaffen könnten. Die gegenwärtige Konstellation lässt allerdings auf eine gegensätzliche Entwicklung schließen: nämlich auf die Stärkung der Dominanz einer räuberischen neoliberalen Monarchie, die Rivalen der USA hofieren kann, ohne dabei die Macht ihres amerikanischen Protektors zu schwächen.

Deutsche Erstveröffentlichung des Textes «Capital’s Emirates», der zuerst von der «New Left Review» publiziert wurde. Die Zwischenüberschriften wurden redaktionell eingefügt. Übersetzung aus dem Englischen von Charlotte Thießen und Camilla Elle für Gegensatz Translation Collective.

 

 

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news-52227 Thu, 20 Jun 2024 08:00:00 +0200 Israel: Militarisierung nach innen https://www.rosalux.de/news/id/52227 Im Schatten des Gaza-Krieges findet auch in der israelischen Gesellschaft eine Brutalisierung der Debatte statt Seit über acht Monaten sind es die israelischen Fernsehzuschauer*innen gewohnt, dass die Abendnachrichten mit Meldungen über israelische Geiseln und die militärische Lage an den verschiedenen Kriegsfronten – im Gazastreifen, im Westjordanland und an der Grenze zum Libanon – beginnen. Diese Berichte verwenden nahezu ausschließlich Videoaufnahmen der Pressestelle der israelischen Armee, die die Kampfhandlungen aus Sicht der Israelis dokumentieren und die Taten der Soldat*innen entsprechend heroisch darstellen. Für viele (jüdische) Israelis sind diese Sendungen die einzige Informationsquelle über die Entwicklungen seit dem 7. Oktober – und die israelische Regierung ergreift zunehmend Schritte, um alternative Nachrichtenangebote einzuschränken, wie das kürzlich beschlossene Betätigungs- und Sendeverbot für den katarischen Nachrichtensender Al-Jazeera zeigt.

Gil Shohat leitet das Israel-Büro der Rosa-Luxemburg-Stiftung in Tel Aviv.

Rebellion der Reservist*innen?

Am letzten Wochenende im Mai jedoch machten die Nachrichtensender mit einer außergewöhnlichen Meldung auf: Ein israelischer Reservist habe öffentlich mit Rebellion gedroht. Zu sehen war ein mit Handykamera aufgenommenes Video, in dem ein Mann in voller Kampfmontur und mit Maschinengewehr vor einer Wand voller rechtsextremer Slogans posiert. Der Soldat schwört darin dem israelischen Ministerpräsidenten, Benjamin Netanjahu, seine bedingungslose Gefolgschaft. Gleichzeitig verweigert er dem Oberbefehlshaber der israelischen Armee, Herzi Halevi, und Verteidigungsminister Yoav Gallant die Loyalität, da diese, wie er vor dem Hintergrund dramatisch anmutender Musik beteuert, «diesen Krieg nicht gewinnen können».

Der Mann gibt vor, für die rund 100.000 Reservist*innen, die seit dem 7. Oktober 2023 von der Armee eingezogen wurden, zu sprechen, indem er sagt: «Wir werden die Schlüssel für Gaza keiner palästinensischen Entität übergeben. […] Wir haben jetzt eine einmalige Gelegenheit, diesen Krieg zu gewinnen. Du [Netanjahu] hast 100.000 Reservisten hinter dir, die bereit sind, für das Volk Israel zu sterben.» Die Botschaft lautet: Wer jetzt über einen Austausch der Geiseln gegen palästinensische Gefängnisinsassen in Israel nachdenke – gemeint sind hier Gallant und Halevi –, verrate die israelische Bevölkerung und sei deshalb als innerer Feind zu betrachten:

Wir werden hier bis zum Ende bleiben, bis zum Sieg.

Das Video sorgte für hitzige Diskussionen und löste Sorge um die Kriegsmoral der Reservist*innen aus, die seit Beginn des Krieges, der in Reaktion auf das Massaker der Hamas vom 7. Oktober begann, eine tragende Rolle spielen. Mit Ausnahme von Arutz 14 (Kanal 14), dem israelischen Pendant zum US-Sender Fox News, der den Soldaten zur besten Sendezeit als Gast ins Studio einlud, war die überwiegende Mehrheit der Beobachter*innen einig, dass es sich bei diesem Statement um die Androhung einer Rebellion handelte. Es überraschte daher nicht, dass die Militärpolizei den Reservisten rasch ausfindig machte und aus dem Reservedienst ausschloss.

Während also der Großteil der Expert*innen hinsichtlich der «Kampfmoral» besorgt auf diese Entwicklungen blickte, gibt es aus einer antimilitaristischen, linken Perspektive viel grundlegendere, besorgniserregende Punkte, die die Debatte um das Video aufwirft. Da wären zunächst die desaströsen Folgen zu nennen, die die – trotz internationaler Verurteilungen und konkreter Schritte der internationalen Gerichtsbarkeit fortgesetzt zerstörerische – Kriegführung Israels im Gazastreifen hat. Das daraus resultierende, unermessliche Leid mit inzwischen annähernd 40.000 Toten ist zudem Teil einer noch umfassenderen Katastrophe, die viele Palästinenser*innen – auch aufgrund der damit zusammenhängenden massenhaften Vertreibung – als «zweite Nakba» bezeichnen.

Die Militarisierung der Gesellschaft

Doch auch im Hinblick auf die innere Verfasstheit der (jüdisch-)israelischen Gesellschaft, die sich in wachsender politischer, medialer und kultureller (Selbst-)Isolation von der internationalen Gemeinschaft befindet, werfen die jüngsten Entwicklungen die Frage auf, wie die seit dem 7. Oktober weiter gestiegene Militarisierung auf die binationale israelische Gesellschaft rückwirken wird.

Der Historiker Ofri Ilani hat dieses Phänomen unzufriedener, aufrührerischer Reservist*innen kürzlich in seiner Haaretz-Kolumne kontextualisiert. Er führte dabei auch das aktuelle Beispiel USA an, wo es sich bei einem beträchtlichen Teil der Mitglieder rechtsradikaler Milizen, die am Sturm auf das Kapitol im Januar 2021 beteiligt waren, um Veteranen der US-Streitkräfte handelt. Seine Kernthese: Zornige, aus dem Krieg entlassene Soldaten gehörten zu den politisch gefährlichsten Gruppen.

Diese Reservist*innen bergen schon durch ihre Bewaffnung ein großes Risikopotenzial für die Bevölkerung Israels – allen voran für jene Gruppen, die sie für das Scheitern ihrer Kriegsziele verantwortlich machen. Im gegenwärtigen israelischen Kontext sind dies «die Linken» (im israelischen Sinne meint dies alle, die sich 2023 in den Massenprotesten gegen die sogenannte Justizreform versammelten); die Angehörigen der Geiseln im Gazastreifen, die seit Monaten – und angesichts immer neuer Hiobsbotschaften von ums Leben gekommenen Geiseln – für einen Gefangenenaustausch demonstrieren; die palästinensischen Staatsbürger*innen des Landes; und schließlich die Antibesatzungs-Aktivist*innen, die sich der Agenda der militärischen Stärke nicht unterordnen wollen.

Zur fortschreitenden Militarisierung der israelischen Gesellschaft gehört auch eine Politik der niedrigschwelligen, massenhaften Bewaffnung jüdischer Israelis, die auf Anweisung des Ministers für Nationale Sicherheit, Itamar Ben-Gvir, erfolgt. Laut Angaben des Ministeriums erhielten infolge des Krieges bis zum Frühjahr 2024 über 100.000 Israelis einen neuen Waffenschein – dass dabei grundlegende Prüfmechanismen ausgesetzt und Anträge von unzureichend ausgebildeten Angestellten geprüft wurden, hat bis dato keine Konsequenzen nach sich gezogen.

Israel befindet sich also nicht nur außenpolitisch einmal mehr am Scheideweg. 57 Jahre nach Beginn der völkerrechtswidrigen Besatzung und Entrechtung der Palästinenser*innen im Westjordanland wie im Gazastreifen und inmitten einer existenziellen Krise erlebt die Gesellschaft eine weitere innere Verrohung der Diskurse; man könnte gar von einer Brutalisierung sprechen. Dies erlebte der Verfasser dieses Beitrags erst kürzlich auf einer offiziell von der linken, palästinensischen Oppositionspolitikerin Aida Touma-Sliman im israelischen Parlament, der Knesset, veranstalteten Konferenz zur Notwendigkeit der schnellstmöglichen Anerkennung eines Staates Palästina. Dort stürmten zwei Abgeordnete von Regierungsparteien mitten in der Veranstaltung, ohne Eingreifen der Sicherheitskräfte den Saal, um ihre faschistoiden und genozidalen Tiraden von sich zu geben. So sagte der messianische Siedler und Abgeordnete Zvi Sukkot etwa, an die linken palästinensischen Abgeordneten gerichtet:

Ihr seid die Feinde, ihr seid alles Terrorunterstützer und wir werden euch von hier fortjagen, alle. Es wird niemals einen palästinensischen Staat geben.

Zugleich wächst die Repression gegen palästinensische Staatsbürger*innen des Landes und gegen Antikriegs-Aktivist*innen weiter an, und auch politische Hetzkampagnen gegen kritische Intellektuelle und Wissenschaftler*innen nehmen zu. Zusammen ergibt dies einen gefährlichen Mix, der die hiesige Bevölkerung außenpolitisch in die Isolation treibt und innenpolitisch die Spaltung befördert.

Widerstand gegen den Krieg

Dabei wächst auch in Teilen der israelischen Gesellschaft die Einsicht, dass eine Weiterführung des Krieges – ohne erkennbares Ziel und ohne Aussicht auf Befreiung der noch über 120 Geiseln, die sich seit 256 Tagen (Stand: 19. Juni 2024) in der Gewalt der Hamas befinden – nicht im Interesse Israels liegt. Zwar mündet diese Erkenntnis noch nicht in eine breite Antikriegsbewegung, aber genau hierauf zielen linke jüdisch-palästinensische Bemühungen – wie etwa Shutfut HaShalom (Friedenspartnerschaft), die auf Initiative führender Mitglieder der linken Hadash-Partei zivilgesellschaftliche Organisationen für eine Kampagne zur Beendigung des Krieges mobilisiert. Obwohl die Proteste stetig wachsen, hat diese Initiative es bislang nicht vermocht, jene für die Kampagne zu gewinnen, die zwar den Militäreinsatz in Gaza nach dem 7. Oktober nicht grundsätzlich ablehnen, aber zugleich auch immer vehementer gegen die Vernachlässigung der israelischen Geiseln protestieren und einen Waffenstillstand zugunsten eines Geisel-Deals befürworten. Die politische Analystin Dahlia Scheindlin sieht hier durchaus ein Mobilisierungspotenzial für die Antibesatzungslinke.

Doch all diesen, durchaus existenziellen, internen Spaltungen zum Trotz: Auch und gerade in Zeiten, in denen international immer lauter auf einen Stopp der Kriegshandlungen gedrängt wird, überwiegt in der jüdisch-israelischen Bevölkerung das Empfinden, international nicht verstanden bzw. falsch behandelt zu werden. Angetrieben durch eine alleine auf die israelische Seite fixierte Berichterstattung der überwiegenden Mehrheit der israelischen Medienhäuser, gerät ein Großteil der Gesellschaft in einen Kreislauf aus Trotz und Unversöhnlichkeit gegenüber all jenen, die nicht dem Narrativ des «notwendigen Krieges» folgen, hinein.

Dennoch erfordert die schiere Unhaltbarkeit der Situation auf Seiten des sich in Israel derzeit neu sortierenden «Friedenslagers» eine weitere Anstrengung, die eigene Basis und Reichweite innerhalb Israels zu erweitern. Es ist gerade viel in Bewegung, und es gibt das ausdrückliche Bemühen von Akteur*innen aus Politik und Zivilgesellschaft, ideologische Unterschiede zugunsten eines großen gemeinsamen Ziels hinter sich zu lassen: nämlich der sofortigen, dauerhaften Beendigung des Blutvergießens in Gaza, der sofortigen Freilassung aller Geiseln durch einen Gefangenenaustausch sowie der politischen Initiative für ein gemeinsames Leben von Israelis und Palästinenser*innen in Gleichheit, Gerechtigkeit und Würde. Es ist unabdingbar, dass diese praktischen und politisch machbaren Initiativen in der internationalen Linken stärker wahrgenommen werden.
 

Dieser Text erschien zuerst in «nd.aktuell» im Rahmen einer Kooperation mit der Rosa-Luxemburg-Stiftung.

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news-52231 Wed, 19 Jun 2024 16:17:04 +0200 Landwirtschaft von unten https://www.rosalux.de/news/id/52231 Der Irak braucht eine selbstbestimmte und demokratische Ernährung! Eine Audioreportage. news-52218 Mon, 17 Jun 2024 17:34:49 +0200 Frankreich: Volksfront oder Faschismus https://www.rosalux.de/news/id/52218 Überraschend hat Präsident Macron eine Neuwahl der französischen Nationalversammlung für den 30. Juni angesetzt. Nach derzeitigen Prognosen liegt die extreme Rechte vorn, doch eine linke «Neue Volksfront» nimmt den Kampf auf. Als Emmanuel Macron 2017 zum französischen Präsidenten gewählt wurde, versprach er in seiner ersten öffentlichen Rede, dass die extreme Rechte noch vor dem Ende seiner Amtszeit verschwunden sein werde. Sieben Jahre später steht das Marine Le Pens Rassemblement National (RN) an der Schwelle zur Macht. Der «Nationale Zusammenschluss» schickt sich an, die Tür zu durchschreiten, die Macron mit seiner Entscheidung, die französische Nationalversammlung aufzulösen und Neuwahlen auszurufen, weit öffnete. Zuvor hatte die extreme Rechte bei den Europawahlen am 9. Juni ihr bisher bestes Ergebnis in Frankreich erzielt.

Nessim Achouche arbeitet als Projektmanager im Brüsseler Büro der Rosa-Luxemburg-Stiftung mit den Schwerpunkten sozialökologische Transformation, Energiedemokratie und Klimagerechtigkeit sowie deren Überschneidungen mit linker Politik.

Die Ergebnisse der EU-Wahlen schienen die Dynamik zu bestätigen, die in der französischen Politik seit der Wiederwahl Macrons im Jahr 2022 ihre Wirkung entfaltete. Unter Führung des jungen Europaabgeordneten Jordan Bardella, der oft als Nachfolger von Marine Le Pen gehandelt wird, konnte der RN 31,3 Prozent der Stimmen für sich verbuchen. Das bedeutet einen Zuwachs von 2,2 Millionen Stimmen gegenüber dem Ergebnis von 2019, liegt aber immer noch unter den 8,8 Millionen Stimmen, die Marine Le Pen bei der Präsidentschaftswahl 2022 erhielt. Zusammen mit den Stimmen, die an die andere große rechtsextreme Partei Reconquête («Rückeroberung») gingen, gab es bei den Europawahlen einen erschütternden Zuwachs von drei Millionen Stimmen für nationalistische und rassistische Parteien. Der RN wird eine Rekordzahl von 30 Abgeordneten nach Brüssel entsenden, womit er, noch vor den deutschen Christdemokraten (CDU/CSU), dort die stärkste Delegation stellen wird.

Der RN konnte seine Stimmenzahl praktisch überall im Land erhöhen, die Liste lag in 93 Prozent der Gemeinden auf dem ersten Platz. Bei näherer Betrachtung bestätigt sich eine weitere Tendenz: Der RN schnitt in ländlichen und peripheren Gebieten, die von den städtischen Zentren isoliert sind, besser ab. Demgegenüber fiel der Erfolg des RN in Städten und Stadtvierteln mit einer höheren Armutsquote (über 20 Prozent) geringer aus und stagnierte in Gemeinden mit einer Armutsquote von über 30 Prozent tendenziell bei einem Durchschnittswert von 10 Prozent.

Insgesamt stellen die Ergebnisse ein politisches Erdbeben dar, dessen endgültige Folgen sich erst in den kommenden Wochen und Monaten zeigen werden. Macrons Projekt liegt in Trümmern, während die Parteien der Rechten und der Linken innerhalb weniger Tage alte Sicherheiten aufgeben mussten.

Rückschläge für die Mitte, Bewegung auf der Linken

Die Ergebnisse für Macrons Renaissance-Partei bestätigten den von vielen als katastrophal empfundenen Wahlkampf, in dem sich die Partei als unfähig erwies, Macrons katastrophale Bilanz in den ersten beiden Jahren seiner zweiten Amtszeit zu verteidigen und eine Vision fürs Land zu präsentieren. Mit 14,5 Prozent für die von Valérie Hayer geführte Liste haben die Wahlen die heillose Verwirrung des Macron-Projekts offenbart.

Auf der Linken führte die formelle Auflösung des NUPES-Bündnisses – die durch die frühe Weigerung der Grünen, eine gemeinsame Liste vorzulegen, ausgelöst wurde – dazu, dass die ehemaligen Koalitionsmitglieder getrennte Wege einschlugen.

Place Publique, eine Abspaltung der Sozialistischen Partei unter Führung von Raphael Glucksmann, erzielte vergleichsweise beeindruckende 14,2 Prozent. Seine Ähnlichkeit mit dem politischen Profil Emmanuel Macrons verschaffte ihm viel mediale Aufmerksamkeit und kann teilweise erklären, warum ein erheblicher Teil der Anhänger*innen Macrons von 2019 diesmal zu Glucksmann wechselte. Les Écologistes (Die Grünen) verloren gegenüber 2019 zehn Prozentpunkte und übertrafen mit 5,5 Prozent der Stimmen nur knapp die Schwelle für den Einzug ins Europäische Parlament (EP).

Präsident Macrons Entscheidung zur Auflösung des Parlaments fällt in eine Zeit, in der der bürgerliche Block stark geschwächt ist und die nationalistische und rassistische Rechte einen neuen Höhepunkt erreicht hat.

Die von Manon Aubry, der scheidenden Ko-Vorsitzenden der Linksfraktion im EP, angeführte Liste La France Insoumise (LFI) erhielt 9,9 Prozent und entsendet neun Abgeordnete; damit stellt sie künftig die größte Delegation in dieser Fraktion. Dies ist ein bedeutender Fortschritt gegenüber 2019, als Aubrys Liste enttäuschende 6,3 Prozent erzielte, auch wenn es im Vergleich zum LFI-Ergebnis bei der Präsidentschaftswahl 2022, als Jean-Luc Mélenchon 22 Prozent der Stimmen erhielt, verblasst. Die Kommunistische Partei, die darauf bestand, mit einer eigenen Liste anzutreten, verharrte bei 2,5 Prozent und verpasste zum zweiten Mal in Folge den Einzug ins EU-Parlament.

Der Gesamtstimmenzahl der linken Parteien ist leicht gestiegen. Während der Zuwachs für die Écologistes und die Sozialisten, also die Mitte-Links-Parteien des Bündnisses, eher gering ausfiel (300.000 Stimmen, wobei die Sozialisten den Écologistes einen Großteil ihrer Stimmen von 2019 abnahmen), haben die radikale Linke und die LFI rund eine Million Stimmen hinzugewonnen. Dies bestätigt den Vormarsch von La France Insoumise in Frankreich, der durch das sehr gute Ergebnis für Aubrys Liste in vielen städtischen Arbeitervierteln unterstrichen wird.

Macrons Schachzug

Präsident Macrons Entscheidung zur Auflösung des Parlaments fällt in eine Zeit, in der der bürgerliche Block stark geschwächt ist und die nationalistische und rassistische Rechte einen neuen Höhepunkt erreicht hat.

Nachdem er in der Nacht zum 9. Juni die Auflösung der französischen Nationalversammlung und die Durchführung vorgezogener Neuwahlen innerhalb von 20 Tagen angekündigt hatte, gab Macron selbst eine wichtige Erklärung ab, die die wahre Strategie hinter diesem überraschenden Schritt enthüllte – nämlich die radikale Linke, insbesondere La Francise insoumise, zu isolieren und den Rest der linken Mitte in seinen Bann zu ziehen.

Macron kündigte an, dass die Renaissance keine Kandidat*innen in jenen Wahlkreisen aufstellen werde, in denen Parteien des sogenannten «republikanischen Bogens» amtieren. Für diejenigen, die die französische Politik aufmerksam verfolgen, war klar, dass er sich auf die systematische Kampagne bezog, die der Präsident und die Mehrheit der Medien geführt haben, um La France Insoumise als außerhalb der republikanischen Normen stehend zu charakterisieren. Diese verhängnisvolle Kampagne erreichte nach dem 7. Oktober einen neuen Höhepunkt, als die unerschütterliche Unterstützung der LFI für die palästinensische Sache als Vorwand genutzt wurde, um die Partei weiter zu dämonisieren.

Macron und ein Teil der herrschenden Klasse versuchen, RN und LFI als Teil desselben «extremen» Lagers darzustellen, um den Bruch zwischen der LFI und dem Rest des NUPES-Bündnisses auszunutzen. Es scheint, als hoffe Macron, Raphael Glucksmann und jenen Teil der Sozialisten anzusprechen, der ein Bündnis mit der LFI immer abgelehnt hat, um eine republikanische Front zwischen der republikanischen Rechten, dem bürgerlichen Block und der Sozialdemokratie zu schaffen und einen Sieg bei den Wahlen zu sichern.

Die «Neue Volksfront»

Macrons Hoffnungen, die Linke zu spalten, wurden jedoch rasch zunichtegemacht, als die vier Führungspersönlichkeiten der ehemaligen NUPES-Parteien ein Treffen organisierten, um eine gemeinsame Front gegen den Aufstieg der extremen Rechten zu bilden. Parallel zu dieser Dynamik innerhalb der ehemaligen Koalitionspartner füllten sich die Straßen Frankreichs mit Menschen, die gegen eine Machtübernahme der extremen Rechten und für die Neubildung eines Linksbündnisses demonstrierten.

Die Notwendigkeit eines solchen Bündnisses wurde noch dringlicher, als Marion Maréchal-Le Pen von der Reconquête (eine Nichte Marine Le Pens) mit der Position des Parteigründers Éric Zemmour brach und zu einem Bündnis der nationalistischen Rechten aufrief. Sie argumentierte, Reconquête solle keine Kandidat*innen gegen den RN aufstellen. Noch überraschender war der Fall der letzten institutionellen Mauer zwischen der traditionellen Rechten (Les Républicains, LR) und der extremen Rechten (RN) – als der LR-Vorsitzende Éric Ciotti ankündigte, sich im kommenden Wahlkampf mit Bardella und Le Pen zusammentun zu wollen, löste dies eine Krise innerhalb der LR aus, die zur Einberufung eines Notkongresses führte, um Ciotti seines Amtes zu entheben.

Die Bildung der Nouveau Front Populaire (NFP), der die vier großen Parteien zusammen mit der posttrotzkistischen Neuen Antikapitalistischen Partei (NPA) und einer Gruppe kleinerer linker Parteien angehören, wurde am 10. Juni offiziell bekannt gegeben. Die wichtigsten Gewerkschaften (CGT, CFDT, FSU und Solidaires) und zivilgesellschaftliche Organisationen aus der antirassistischen Bewegung, ATTAC, Greenpeace und andere schlossen sich rasch an. Die NFP-Vereinbarung enthielt eine – im Vergleich zur NUPES-Vereinbarung für die Parlamentswahl 2022 – geänderte Zuteilung der Kandidaturen. Die LFI wird diesmal in 229 statt in 328 Wahlkreisen und die Sozialistische Partei in 175 statt in 70 Wahlkreisen, die Grünen und die PCF erneut in 92 bzw. 50 Wahlkreisen antreten.

Die LFI ist die einzige linke Kraft im Lande, die in den letzten zehn Jahren beständige Fortschritte gemacht hat und auf eine breite Unterstützung in verschiedenen Teilen der französischen Bevölkerung zählen kann. Es liegt daher nahe, dass sie die führende Kraft innerhalb der Koalition bleiben wird.

Die Einzelheiten des Programms waren bei Redaktionsschluss noch nicht bekannt, aber Vertreter*innen der NFP haben bereits angekündigt, dass es starke soziale Maßnahmen beinhalten wird. Dazu gehören die Aufhebung von Macrons jüngstem und weithin gescholtenem Rentengesetz sowie die sozial rückschrittliche Reform der Arbeitslosenversicherung. Auch die Aufhebung des von der Präsidentenmehrheit gemeinsam mit der extremen Rechten verabschiedeten Einwanderungspakts gehört dazu.

Es bleibt unklar, ob der rechte Flügel der Sozialisten um Raphael Glucksmann und dem was gemeinhin als Francois-Hollande-Tradition angesehen wird, die NFP unterstützen und ihr beitreten wird. Nach der Erklärung des früheren Präsidenten François Hollande, für die Volksfront zu kandidieren, ist dieses Vorhaben jedenfalls erheblich geschwächt.

Die Nachricht von der Bildung der Neuen Volksfront wurde von vielen Anhänger*innen der Linken mit Erleichterung und Hoffnung aufgenommen. Sie scheint eine Mobilisierungsdynamik ausgelöst zu haben, wie nicht nur auf den Straßen von Paris, sondern auch in den lokalen Wahlkreisen der verschiedenen Parteien zu sehen ist, die eine noch nie dagewesene Anzahl neuer Mitglieder verzeichnen konnten.

Wer im Falle eines NFP-Sieges tatsächlich französischer Ministerpräsident werden würde, ist noch nicht bekannt, aber es scheint eine Vereinbarung getroffen worden zu sein, dass die im Parlament am stärksten vertretene Fraktion, höchstwahrscheinlich La France Insoumise, einen Kandidaten bzw. eine Kandidatin vorschlagen wird, der bzw. die mit den übrigen Mitgliedern der Volksfront diskutiert werden soll. Dies unterstreicht die Tatsache, dass die LFI die einzige linke Kraft im Lande ist, die in den letzten zehn Jahren beständige Fortschritte gemacht hat und auf eine breite Unterstützung in verschiedenen Teilen der französischen Bevölkerung zählen kann. Es liegt daher nahe, dass sie die führende Kraft innerhalb der Koalition bleiben wird.

Obwohl die jüngsten Umfragen auf einen großen Vorsprung der extremen Rechten nach der Wahl hindeuten, bleibt abzuwarten, ob eine durch den Enthusiasmus einer verjüngten Linksfront angetriebene Kampagne gegen die Machtübernahme ausreichen wird, um Nichtwähler*innen und einige verbliebene Macron-Anhänger*innen dazu zu bewegen, am 30. Juni die «Neue Volksfront» zu unterstützen. Die Aussichten für die Zukunft der NFP und ihre mögliche Konsolidierung zu einer dauerhaften Einheitsfront dürfte sich nach der Stichwahl am 7. Juli klären – nachdem die Wähler*innen entschieden haben, ob eine antifaschistische Widerstandsfront oder eine potenziell faschistische Kraft die Macht übernehmen wird.

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