News | Innergesellschaftliche Spannungslinien und Zukunftsdebatten

Israel nach den Wahlen

Am 07. April war die Nah-Ost-Expertin und Hochschuldozentin Dr. Angelika Timm zu Gast bei der Rosa-Luxemburg-Stiftung Baden-Württemberg in Stuttgart. Angelika leitete von 2008 bis Ende Februar 2015 das Auslandsbüro der Stiftung in Tel Aviv, lebte allerdings bereits seit über 10 Jahren in Israel. Sie war daher besonders gut geeignet aus erster Hand, in den großzügigen Räumen des Glastrakts des Württembergischen Kunstvereins, über die neuesten Parlamentswahlen (März 2015) und die sozialen Hintergründe des Wahlergebnisses zu sprechen.

Ihr Vortrag half die Vielschichtigkeit und außerordentliche Komplexität der israelischen Gesellschaft besser zu verstehen. So entwickelte sich z.B. eine ganz spezifische Kultur durch die Menschen, die aus über 100 Ländern in den letzten Jahrzehnten nach Israel einwanderten. Allein 15-20% der Einwanderer sprechen Russisch als Muttersprache. Drei Hauptproblematiken prägen die äußerst komplexe Lage:

  • der anhaltende israelisch-palästinensische Konflikt,
  • das Wirken ungelöster sozio-ökonomischer Widersprüche, und
  • die Gefährdung der inneren Demokratie.

Im März waren knapp 6 Millionen israelische Staatsbürger aufgerufen zu wählen. 25 Parteien konkurrierten darum mit möglichst vielen Sitzen ins Parlament zu gelangen. Die neuerlich erhöhte Sperrklausel (inzwischen bei 3,25 Prozent der gültigen Stimmen) machte das Rennen besonders spannend. Die Wahlbeteiligung lag bei über 70%.
Zehn Parteilisten zogen in das israelische Parlament, die Knesset, ein. Stärkste Fraktion mit 30 Sitzen wurde der nationalistische «Likud» unter Führung des Ministerpräsidenten und Parteivorsitzenden  Benjamin Netanjahu, der erneut mit der Regierungsbildung beauftragt wurde. Damit setzt sich in Israel der Rechtsdrall, seit den späten 1960er Jahren, weiter fort.
Die linke Kraft, die linkszionistische «Meretz» hatte sich weitgehend auf Mittel- und Oberschicht der jüdischen Familien konzentriert, die ursprünglich aus Mittel- und Osteuropa kamen («Aschkenasim»). So aber konnte sie ihr Wählerpotenzial nicht ausschöpfen und verlor sogar im Vergleich zu 2013 ein Mandat.

Erstmals wurde der ‚arabische Faktor‘ für die Innenpolitik bei den Parlamentswahlen wichtig. Die «Vereinigte Liste» wurde drittstärkste Fraktion. Ihre selbstbewusste Teilnahme an den politischen Prozessen des Landes wird künftig von der jüdischen Mehrheit verstärkt akzeptiert werden müssen. Offen bleibt, wie die Repräsentanten der arabischen Minderheit mit der politisch erzwungenen «Vereinigung» umgehen werden.

Im Anschluss an den faktenreichen Vortrag entwickelte sich eine konzentrierte und teils kontroverse Diskussion. Problematisiert wurde insbesondere, wie über all jene zu berichten sei, die zwar von der Okkupation der besetzten Gebiete betroffen, nicht aber stimmberechtigt sind. Dagegen ist es über einer halbe Mio. jüdischer Siedler erlaubt an den Wahlen teilzunehmen. Etwas zu kurz kam vielleicht die Frage der Entwicklungstrends und auf welche künftige Situation wir uns alle einstellen müssen. Aber die meisten Teilnehmer*innen hätten wohl gerne weiter diskutiert.

Bericht: Carsten Krinn

Angelika Timm, geb. 1949 in Hildburghausen, Nahostwissenschaftlerin; 1968 – 1972 Studium der Hebraistik/Arabistik an der Humboldt-Universität Berlin; 1976 Promotion; 1987 Habilitation (Dr. sc. phil.); 1988 – 1998 Leitung des Seminars für Israelwissenschaften an der HUB; 1999 – 2002 wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Arbeitsstelle Politik des Vorderen Orients der Freien Universität Berlin; 2002 – 2009 DAAD-Gastprofessorin an der Bar-Ilan University in Ramat Gan (Israel); 2008 – 2015 Leiterin des Israel-Büros der Rosa-Luxemburg-Stiftung.

Themenrelevante Buchpublikationen von A. Timm:

u. a. Hammer, Zirkel, Davidstern. Das gestörte Verhältnis der DDR zu Zionismus und Staat Israel, Bonn 1997; Israel. Geschichte des Staates seit seiner Gründung, Bonn 1998; Israel: Gesellschaft im Wandel, Opladen 2003