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Argentinien erzwingt Stichwahl um das Präsidentenamt

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Pedro Perucca,

Linke Wähler*innen feiern das Wahlergebnis am 23. Oktober in Buenos Aires.
Linke Wähler*innen feiern das Wahlergebnis am 23.Oktober in Buenos Aires. Die Kandidaten Massa und Milei werden im November gegeneinander in der Stichwahl antreten.  Bild: Daniella Fernandez Realin

In der ersten Runde der argentinischen Präsidentschaftswahlen blieb der befürchtete Wahlsieg des rechts-libertären Kandidaten Javier Milei aus. Das peronistische Lager überraschte mit dem Wahlsieg des amtierenden Finanzministers Sergio Massa. Doch um Milei zu besiegen, reicht es nicht aus, das Schreckensszenario eines rechten Wahlsiegs zu beschwören: Es müssen Maßnahmen ergriffen werden, um die kritische soziale Lage der ärmeren Bevölkerungsschichten zu bessern.

Die Meinungsforscher*innen haben sich erneut geirrt. Für die argentinische Politik erweist sich wohl jener Begriff am treffendsten, der sonst oft für den Fußball verwendet wird: Es herrscht die «Dynamik des Unvorhergesehenen». Bereits die Vorwahlen vom 13. August hatten einem politischen Erdbeben geglichen: Mit seinem Überraschungssieg hatte der libertäre Kandidat Javier Milei die Strukturen des traditionellen Zweiparteiensystems erschüttert. Mit seiner La Libertad Avanza (LLA) erhielt eine Partei ohne politische Vorgeschichte die Möglichkeit, bei den Präsidentschaftswahlen anzutreten.

Die erste Runde der Präsidentschaftswahlen vom 22. Oktober, aus denen der peronistische Regierungskandidat und derzeitige Wirtschaftsminister Sergio Massa klar als Sieger hervorging, scheint demgegenüber ein Schritt zurück in Richtung der gewohnten nationalen Politik. Dennoch bleibt vieles, das sich derzeit in Argentinien politisch ereignet, ungewöhnlich. Damit bleibt es ein schwer vorhersehbarer Weg bis zur Stichwahl am 19. November.   

Milei erhielt im ersten Wahlgang erneut 30 % der Stimmen, was seinem Ergebnis bei den  verpflichtenden Vorwahlen (PASO) im August entspricht. Massa hingegen übernahm in einer spektakulären Aufholjagd mit 36,7% der Stimmen die Führung. Patricia Bullrich, die Kandidatin vom konservativen Bündnis Juntos por el Cambio (JxC), die bei den Vorwahlen noch den zweiten Platz belegt hatte, fiel um mehr als fünf Punkte zurück (23,8 %) und musste sich damit vom Rennen um das Präsidentenamt verabschieden. Der Kandidat von Hacemos por Nuestro País, Juan Schiaretti, konnte 6,8 % zulegen, während die Kandidatin der linken Frente de Izquierda y los Trabajadores - Unidad (FIT-U), Myriam Bregman, auf 2,7 % kam.

Ein Schlüsselfaktor bei der Analyse der Ergebnisse ist der Anstieg der Wahlbeteiligung von 69 % auf 77 %. Das bedeutet, dass nach dem Negativrekord der PASO-Wahlbeteiligung zusätzliche 2,2 Millionen Menschen wählen gingen.

Nach dem schweren Schlag der Vorwahlen bewies der Peronismus einmal mehr seine Fähigkeit, sich nicht mit seinem seit Jahrzehnten prophezeiten Tod abzufinden. Es stimmt, dass diese Wahl die schlechteste in seiner Geschichte war: Er verlor Provinzen, die früher eine Hochburg waren, und sogar die Mehrheit im Senat. Aber es zeigte sich auch, dass der Peronismus, wenn er einen Teil seines immensen politischen Apparats landesweit mobilisiert, indem er sich hinter einen anscheinend entschlossenen «Einheitskandidaten» stellt, politische Ergebnisse liefern kann, die alle Vorhersagen sprengen. Am Wahltag gelang es Sergio Massa, im Vergleich zu den Vorwahlen fast drei Millionen Stimmen hinzuzugewinnen und in acht Provinzen zu siegen, in denen er zuvor unterlegen war.

Die konservative Koalition des ehemaligen Präsidenten Mauricio Macri war hingegen der große Verlierer des Tages. Ihre Kandidatin Patricia Bullrich erhielt gerade mal die Hälfte der Stimmen, die Macri bei seinem Ausscheiden aus dem Amt im Jahr 2019 erhalten hatte. Es ist ein Ergebnis, das durchaus als Ende der politischen Karriere der ehemaligen Sicherheitsministerin gewertet werden kann. Bullrich hatte ihren Wahlkampf auf die Polarisierung mit dem links-peronistischen Kirchnerismus konzentriert (und offen versprochen, diesen zu «vernichten»). Dieser etwas überholte Diskurs erkannte nicht, dass die Spannung zwischen Kirchnerismus und Anti-Kirchnerismus, der viel beschworene «Graben», der die argentinische Gesellschaft in den letzten 20 Jahren strukturiert hatte, scheinbar nicht mehr funktioniert.

Abgesehen von einem vollkommen farblosen Wahlkampf und dem Vorwurf des «Verrats» an Macri, der im Wahlkampf Sympathie für den rechts-libertären Milei zu finden schien, scheint diese Entpolarisierung die Koalitionspartei derart ziellos zurückgelassen haben, dass ihre Existenz gefährdet ist.

Nicht Liebe, sondern Furcht

Die Krise der traditionellen politischen Strukturen ist, auch wenn sie im Moment durch den Jubel der Regierungspartei überdeckt wird, auf beiden Seiten des sogenannten «Grabens“ offensichtlich. Massas Kampagne basierte in gewissem Sinne auf einer totalen Abgrenzung von der eigenen Regierung unter Alberto Fernández (der im Wahlkampf völlig abwesend war) und auf einer beinahe unsichtbaren Beziehung zu Vizepräsidentin Cristina Fernández de Kirchner, die sich, nachdem sie Massas Ernennung ihren Segen erteilt hatte, gänzlich aus dem öffentlichen Diskurs zurückzog.

Ein möglicher Sieg Massas in der Stichwahl würde zweifellos auch eine radikale Neudefinition des peronistischen Bündnisses bedeuten. Selbst in der Provinz Buenos Aires (die angesichts der vor einigen Monaten unausweichlich erscheinenden Wahlniederlage als «Zufluchtsort» des Kircherismus galt) können der überwältigende Sieg der Regierungspartei mit fast 43 % der für die nationalen Wahlen ausschlaggebenden Stimmen und der halbherzige Dank an Cristina Kirchner bei der Siegesfeier nicht über die Notwendigkeit hinwegtäuschen, «ein neues Lied anzustimmen». Mit diesem Euphemismus betonte der kürzlich wiedergewählte Gouverneur Axel Kicillof die Notwendigkeit einer «postkirchnerischen» Neuorganisation des Peronismus.

In jedem Fall war die Krise der Organisationen, die den nationalpolitischen Streit seit mindestens einem Jahrzehnt prägten, sowohl Ursache als auch Folge des gnadenlosen Aufstiegs von Milei und La Libertad Avanza, als Repräsentanten einer neuen Rechten, die zeigt, dass sie gekommen ist, um zu bleiben.

Für Mileis Wahlsieg im August gibt es sowohl objektive soziale Ursachen als auch Gründe, die konjunkturell bedingt sind. Die Regierung von Alberto Fernández – der die Unterordnung seines Vorgängers unter die orthodoxen Sparmaßnahmen des IWF fortsetzte, indem er die von Macri aufgenommene illegitime Schuld in Millionenhöhe bestätigte und die klassischen neoliberalen Auflagen zur Verringerung des Haushaltsdefizits umsetzte –  führte zu einer schweren wirtschaftlichen Stagnation und einer erheblichen Verschlechterung der in Dollar gemessenen Reallöhne. Damit geriet der Peronismus in eine historische Krise, die auch durch die jüngsten positiven Ergebnisse nicht geleugnet werden kann.

Bei den aktuellen Wahlen handelte es sich eher um ein defensives Votum gegen die rechtsextreme Bedrohung als um einen Ausdruck der Begeisterung für die Vorschläge eines Wirtschaftsministers, der sich rühmen kann, nach den Vorwahlen eine brutale Währungsabwertung von 22 % und eine Rekordinflation von 140 % im Vergleich zum Vorjahr herbeigeführt zu haben. Der einigende Faktor war eindeutig nicht die Liebe, sondern die Furcht vor dem rechtsextremen Wahlsieg.

Nach vier Jahren desaströser Verwaltung präsentiert die peronistische Regierung ein Szenario, in dem viele soziale Schlüsselindikatoren (Armut, Löhne, Ungleichheit) schlechter sind als die, die Macri 2019 hinterlassen hat. Diese Verschlechterung der Lebensbedingungen der Mehrheit der Bevölkerung während einer Regierung, die stets progressive Politik und soziale Umverteilung propagiert hat, hat dazu beigetragen, dass der Anti-Establishment-Diskurs in der Bevölkerung Fuß fassen konnte. Das ist selbst in jenen gesellschaftlichen Schichten der Fall, die zum Überleben in hohem Maße auf den sozialen Schutz des Staates angewiesen sind.

Diese irrwitzige Dynamik, die typisch für den «progressiven Neoliberalismus» (in Worten von Nancy Fraser) ist, hat dazu geführt, dass die Arbeiterklasse demoralisiert und verwirrt ist und sich das Unbehagen über die soziale Verschlechterung in rechten Positionen ausgedrückt. Das wirtschaftliche Scheitern des staatlichen Progressivismus erstreckt sich auch auf die damit verbundene Ideologie, die Werte wie die progressive Einkommensumverteilung, die aktive Rolle des Staates, die Menschenrechte, Geschlechtergerechtigkeit und die Bedeutung der sozialen Mobilisierung umfasst.

Wie so oft trifft die Krise der Mitte-Links-Regierung das gesamte Spektrum der Linken und auch jene radikaleren Strömungen, die die Regierung unermüdlich kritisiert haben. Jenseits der ohnehin begrenzten Aussichten eines Wahlbündnisses wie der El Frente de Izquierda y de Trabajadores-Unidad (FIT-U) lässt sich ein guter Teil der mageren Wahlergebnisse der Linken durch dieses Phänomen erklären.

Bregman - zweifellos die beste Kandidatin in der Geschichte des Linksbündnisses - zahlte den Preis für eine sehr starke Polarisierung, die viele mit ihr sympathisierende Wähler*innen dazu veranlasste, den Stimmzettel aufzuteilen, also für Massa als Präsidenten zu stimmen, um Milei zu verhindern, und nur bei den Abgeordnetenwahlen für die FIT-Kandidaten zu stimmen. Auf diese Weise konnten die Linken zumindest einen neuen nationalen Parlamentssitz für die Provinz Buenos Aires gewinnen und zum ersten Mal eine linke Fraktion mit fünf Abgeordneten bilden, eine Errungenschaft, die sich als entscheidend in einer Abgeordnetenkammer erweisen könnte, die ohne klare Mehrheiten zu ständigen Verhandlungen gezwungen sein wird.

Das Abschneiden von La Libertad Avanza, der Partei von Javier Milei, ist zwar immer noch überraschend, aber im Vergleich zu den hohen Erwartungen eines Wahlsiegs, die der Kandidat in der Endphase des Wahlkampfes geäußert hatte, eher dürftig. Abgesehen von den Auswirkungen der wichtigen Umverteilungsmaßnahmen der Regierung auf den Wahlkampf (was bei einem Kandidaten, der die Kontrolle über die staatlichen Ressourcen hat, zu erwarten war), lässt sich diese magere Ausbeute der Libertären zu einem großen Teil durch die unzähligen Fehltritte erklären, die sich ihren Vertreter*innen nach dem Erfolg bei der Vorwahl leisteten.

In den Wochen nach dem Überraschungstriumph bei den Vorwahlen begann man, Javier Milei ernsthaft als möglichen Präsidenten zu beobachten. Die darauffolgende enorme Medienpräsenz und das übertriebene Vertrauen in seine Wahlchancen veranlassten sowohl Milei als auch viele seiner Anhänger*innen zu einer Vielzahl politisch kontroverser Äußerungen, die breite Teile der Gesellschaft abschreckten: Forderungen, die, solange sie von politischen Outsidern vorgetragen wurden, noch als extravagant durchgehen mochten, offenbarten sich im Munde eines potenziellen Staatschefs als offener Wahnsinn. 

Wenn die herrschende Emotion bei den Vorwahlen die Wut war, so war es an diesem Wahltag die Angst. Das erklärt zu einem großen Teil auch die unglaubliche Leistung von Massa, der sich trotz der Vorbelastung durch seine Doppelrolle als Wirtschaftsminister mit unhaltbaren Bilanzen klar durchsetzen konnte, ein wahrscheinlich beispielloser Fall in der modernen Wahlgeschichte.

Milei, niemals

Sollte sich der Kandidat der Regierungspartei in der Stichwahl durchsetzen, ist klar, dass wichtige politische und wirtschaftliche aber nicht unbedingt fortschrittliche Umstrukturierungen anstehen (in seiner Siegesrede nahm Massa bereits vorweg, modernere und flexiblere Arbeitsregelungen einleiten zu wollen, was, wie jeder weiß, gleichbedeutend mit einer Arbeitsreform ist), insbesondere wenn die erwartete «Regierung der nationalen Einheit» umgesetzt werden soll.

Die Phase, die sich nach dem Abwenden des rechtsextremen Abgrunds eröffnen könnte, lässt keinen naiven Optimismus zu, denn die tiefe Wirtschaftskrise, der internationale Kontext und die hohe Verschulden werden einen großen Druck auf die Regierung ausüben, die laufenden Sparmaßnahmen weiter zu verschärfen. Die politischen und sozialen Kräfte, die verhindern wollen, dass diese Kosten auf die Arbeitnehmer*innen und schwächsten Sektoren der Gesellschaft abgewälzt werden, werden keine Zeit zum Aufatmen haben. Sie werden sich dieser Politik vom ersten Tag an auf der Straße stellen müssen.

Aber noch ist nichts entschieden, und sicher ist, dass der Urnengang am 19. November extrem hart sein wird. Der Sieg Massas mit mehr als sechs Prozent Vorsprung verspricht ihm gute Chancen, aber der Kampf um die Stimmen von Bullrich, Schiaretti und sogar Bregman wird schwer. Wenige Stunden nach den Wahlergebnissen am vergangenen Sonntag haben wir bereits alle möglichen Erklärungen in diesem Sinne zu hören bekommen (sogar ein lächerliches Angebot von Milei, die «Linken» in sein zukünftiges «Ministerium für Menschliches Kapital» aufzunehmen).

Rein mathematisch steht Milei vor den Toren der Macht, wenn die konservativen Stimmen von JxC in der Stichwahl an ihn gehen. Dies wäre zweifellos eine strategische Niederlage für die Arbeiterklasse, denn es würde die schlimmste und brutalste Auflösung der Pattsituation der sozialen Kräfte bedeuten, welche in den letzten Jahrzehnten den Fortschritt der regressiven Reformen blockiert hat, die der lokale Kapitalismus fordert. Glücklicherweise gibt es bereits Anzeichen dafür, dass zumindest ein Teil der Radicales und der Coalición Cívica, die Teil von JxC sind, nicht zur Wahl des Libertären Milei aufrufen würde.

Ein Sieg von Milei wäre eine offensichtliche Bedrohung für die elementarsten demokratischen Rechte, und die Linke sollte nicht zögern, sich bei den Wahlen zu positionieren. Es bleibt die Aufgabe der Stunde, um jeden Preis den Machtanspruch der Rechtsextremen zu verhindern. Auch wenn es klar ist, dass wir, wenn wir die extreme Rechte langfristig bekämpfen wollen, uns nicht der «extremen Mitte» unterwerfen oder irgendeine Form von progressivem Neoliberalismus akzeptieren können, ist es nicht weniger wahr, dass im kurzfristigen Szenario die oberste Priorität darin besteht, dieser pöbelnden Rechten den Weg zu versperren, und zwar durch die einzige praktikable Alternative in diesem Szenario: die Präsidentschaftskandidatur des Peronismus. Das ist keine Frage des kleineren Übels, sondern der klugen Wahl des Gegners.

Die Wahlen haben gezeigt, dass das Land noch nicht zum politischen Selbstmord bereit ist. Das argentinische Volk, das historische Taten vollbracht hat, verfügt noch über bedeutende demokratische Reserven, die den endgültigen Aufstieg der Rechtsextremisten zu verhindern suchen. Aber es wäre ein Fehler, sich auf dieses Ergebnis zu verlassen.

Der Artikel wurde am 23. Oktober 2023 in der spanischsprachigen Version des Jacobin-Magazin veröffentlicht. Die dt. Übersetzung ist eine gekürzte Version des spanischen Originalartikels.