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Daniela Dahn über den Verfassungsentwurf des Runden Tisches 1989/90 und eine vertane Chance

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Daniela Dahn,

Der erste Runde Tisch am 7. Dezember 1989. Foto: Archiv Neues Deutschland

In guter Verfassung zu sein, ist eine besondere Gunst. Das Grundgesetz ist eine ziemlich gute Verfassung. Man kann froh sein, es mit all seinen bürgerlichen Freiheitsrechten zu haben – woran anlässlich seines 75. Geburtstag nun allenthalben erinnert wird. Doch was ziemlich gut ist, könnte auch besser sein. Oder müsste sogar. Hatte ich mich angesichts der abweichenden Praxis zunächst als Verfassungspatriotin gesehen, hat die Einsicht in politischen Kontext später partielles Kontra bewirkt.

Daniela Dahn, geboren in Berlin, studierte Journalistik in Leipzig und war Fernsehjournalistin. 1981 kündigte sie und arbeitet seitdem als freie Schriftstellerin und Publizistin. Sie war Gründungsmitglied des «Demokratischen Aufbruchs» und hatte mehrere Gastdozenturen in den USA und Großbritannien. Sie ist Trägerin unter anderem des des Fontane-Preises, des Kurt-Tucholsky-Preises für literarische Publizistik, der Luise-Schroeder-Medaille der Stadt Berlin und des Ludwig-Börne-Preises.

Die als Provisorium für das westdeutsche Staatsfragment geplante Verfassung entstand unter Besatzungsrecht im Auftrag der westlichen Militärbehörden und trug von Anfang an deren Handschrift. Die sorgte dafür, dass das Fragment mit dem eigenen System kompatibel sein wird. Pannen wie in der Landesverfassung Hessen sollten sich nicht wiederholen: Die zumeist aus Widerstand und Verfolgung gekommenen hessischen Politiker wichen im Dezember 1946 in dem zentralen Art. 41 von den Vorgaben ab: sofort nach Inkrafttreten sollte die Großindustrie in Gemeineigentum überführt werden. Die US-Militärbehörden waren entsetzt. Sie ordneten an, dass beim angekündigte Volksentscheid über Art. 41 gesondert abgestimmt werden müsse. In der irrigen Annahme, dass so viel Sozialismus schon keine Mehrheit finden werde. Doch 72 Prozent stimmten für Enteignung.  

Wo immer zu diesem Ziel damals Volksabstimmungen möglich waren, bezeugten 70 bis 80 Prozent der Teilnehmer, dass dies die übergroße Lehre aller Deutschen aus der NS-Zeit war. Enteignung und Sozialisierung sowie Demokratisierung und Planung der Wirtschaft war im November 1948 auch die Hauptforderung des größten deutschen Massenstreiks seit der Weltwirtschaftskrise. Der bizonale Gewerkschaftsrat hatte zu einem 24stündigen Generalstreik gegen die restaurative Politik des Wirtschaftsrates und der Besatzungsmächte aufgerufen, an dem neun Millionen Arbeiter teilnahmen. Ein mutiger Widerstand, an den keinerlei Gedenkkultur erinnerte und der heute vergessen ist. 

Dieser Volkswille wurde acht Monate später beim Verfassungskonvent auf Herrenchiemsee gehorsam unterlaufen. Das politische Streikrecht kam nicht ins Grundgesetz und die sozialen UN-Menschenrechte blieben defizitär. Das sicher gut gemeinte Sozialstaatsprinzip ist bis heute unkonkret. Die in Art. 15 immerhin angebotene Option Gemeineigentum sollte nicht mehr sofort umgesetzt werden, sondern blieb wie beabsichtigt eine beruhigendes, aber leeres Versprechen, das bis heute durch Erlass blockierender Ausführungsgesetze kein einziges Mal in Anspruch genommen werden konnte. Auch weil der über viele Jahre gewachsene Wohlstand dafür angeblich keinen Grund mehr bot.

Das änderte sich, als sich auf dem überstürzten Gang zur deutschen Einheit nicht nur die DDR-Bürgerbewegung für den Schutz des Volkseigentums einsetzte. Schon im November 1989 hatte die alte Volkskammer wesentliche Teile der DDR-Verfassung außer Kraft gesetzt. Die Regierung Modrow hatte Legitimität nur noch durch die am Runden Tisch verhandelnde „Regierung der nationalen Verantwortung“, die die neuen Bürgerrechtsgruppen einbezog. Doch Kanzler Kohls Berater und Wahlhelfer, die die „friedlichen Revolutionäre“ zunächst bejubelt hatten, unternahmen alles, die Autorität dieser Regierung zu schwächen. Bündnis 90 wollte die Einheit nicht so schnell wie möglich, sondern so gut wie möglich. Sie lehnten den bedingungslosen Beitritt nach Art. 23 GG mit dem typischen Wende-Humor ab: „Kein Anschluss unter dieser Nummer“. Deren Vertreter wie Wolfgang Ullmann und Gerd Poppe oder auch der PDS traten der Bestrebung entgegen, sich so einer anderen Verfassungsordnung zu unterwerfen.

Damit die DDR-Unterhändler nicht ohne verfassungsrechtliche Bindung in Verhandlungen gingen, bei denen man ihnen alles abverlangen konnte, beauftragte der Runde Tisch eine aus Ost- und West- Experten zusammengesetzte Gruppe, eine Übergangsverfassung für die DDR zu entwerfen, die auch bei einer künftigen neuen Verfassung durch eine Einheit nach Art. 146 GG Beachtung finden würde.

Angesichts der verunsicherten Lage war Eile geboten – das einzig Beständige war die Zahl der Übersiedler aus der DDR, die durch Lockangebote aus dem Westen noch ermutigt wurden. Doch der Grundgesetzentwurf auf Herrenchiemsee ist auch in 13 Tagen verfasst worden. Auf der letzten Sitzung des Runden Tisches stellten die Arbeitsgruppen die Entwurfsstände vor. Fast einstimmig wurde daraufhin der Auftrag zur Weiterarbeit erteilt.

Diese Volkskammer wird gewöhnlich mit der Zuschreibung: „erste frei gewählte“ geadelt. Doch Freiheit – so viel sei im Kant-Jahr erinnert – hat neben der formalen auch eine psychologische und eine praktische Seite. Was ich in dem Buch „Tamtam und Tabu“ in detaillierter Analyse von wochenlanger Presseberichterstattung, Politiker-Äußerungen und Umfragen belege, muss hier zur These gerinnen: Das Wahlergebnis war einem Diktat aus bundesdeutschen Desinformationen, Zermürbung und Erpressung geschuldet. Noch vier Wochen vor der Märzwahl hatte die zögerliche Ost-SPD auf Lafontaine-Linie in Umfragen die absolute Mehrheit. Auch Kohls Versprechen der schnellen D-Mark hatte nicht den Umschwung gebracht.

Erst die dreiste Behauptung von Kohls Kanzleramtschef Horst Teltschik vom 9. Februar 1990, die DDR sei in wenigen Tagen zahlungsunfähig, der wirtschaftliche Kollaps stünde unmittelbar bevor, löste sofort Panik, Angstkampagnen und Hysterie aus. Die Stimmen westdeutscher Banker, wonach es sich um durchsichtige Gerüchte handele, kamen in den Medien kaum vor. Dafür druckte der Spiegel frei erfundene Modrow-Äußerungen, die den eingetretenen Bankrott belegen sollten. Ein Fake von vielen anderen. Kohl umgarnte die DDR-Wähler zwei Tage später im ZDF mit einem Versprechen, das einzuhalten er nie beabsichtigte: Man werde eine neue Verfassung schaffen, die Bewährtes von beiden Seiten übernimmt. „Es gibt auch Entwicklungen in der DDR in diesen 40 Jahren, die es sich lohnt anzusehen. Ich bin ganz und gar dagegen eine Position einzunehmen, die auf Anschluss hinausgeht.“

Eine Woche vor der Wahl tagte die Führungsspitze von CDU/CSU schon besitzergreifend in der DDR und pries Art. 23 als einzigen Ausweg. Der Bayrische Ministerpräsident Max Streibl erpresste: die DDR bekäme nur Geld, wenn sie CSU-nahe Parteien wähle. »Das war reinster psychischer Terror nach Goebbels-Manier«, schimpfte Egon Bahr über Kohls Wahlkampf. Und Günter Grass bezweifelte, dass dies noch freie Wahlen sein könnten. Die Leute mussten glauben, sie könnten ihren Besitzstand nur wahren, wenn sie erst einmal die Kräfte des Geldes wählten.

Weil es immer bestritten wird: Es ging der Mehrheit eben nicht darum, so schnell wie möglich im Status quo des Westens anzukommen. Bevor die "frei" gewählte, CDU- geführte Volkskammer ihre Arbeit aufnahm, stellten die DDR-Bürger in der ersten repräsentativen Meinungsumfrage im April 1990 noch einmal klar, was nun ihr Regierungsauftrag ist. Die Einheit stand nicht mehr zur Disposition. Aber 83 Prozent lehnten immer noch einen schnellen und bedingungslosen Beitritt ab. Nahezu alle, nämlich 95 Prozent, wollten, dass beide Regierungen als gleichberechtigte Partner auf das Wie der Einheit Einfluss nehmen. Schließlich verlangten immer noch 68 Prozent das Volkseigentum zu erhalten und nur daneben andere Formen zulassen. Mehr als drei Viertel der Befragten hielten es für erforderlich, das Verhandlungsergebnis basisdemokratisch durch eine Volksabstimmung überprüfen zu lassen.

Die Mär, wonach im März 1990 so gut wie alle DDR-Bürger sofort mit Westgeld im blühenden Westgarten leben wollten, stimmte schon vor der Wahl nicht, das Wahlergebnis entsprach ihr nicht und die Folgen der Wahl erfüllten solche Hoffnungen nicht. Und dennoch hat sie sich bis heute gehalten. Der eigentliche Wunsch bestand bis zuletzt darin, Eigenes in die Einheit einzubringen. So wie Kohl es ursprünglich versprochen hatte. Zwei Wochen nach der Wahl wurde der nun CDU-geführten Volkskammer der fertige Verfassungsentwurf der Arbeitsgruppe des Runden Tisches vorgelegt. Er war ein modernisiertes Grundgesetz, der dessen beschriebene Defizite auszugleichen versuchte. Die Präambel kam ohne Gott aus und beschrieb die deutsche Einheit als Teil der europäischen. Der Grundrechtekatalog war deutlich umfangreicher als der des Grundgesetzes. Das soziale Gleichheitsdenken in Richtung Gemeinwohl zeigte sich besonders im Recht auf Arbeit und Wohnung. Frauen wurden in ihren Rechten bestärkt, Benachteiligung wegen Alter, Behinderung oder sexueller Orientierung verboten. Der Schutz der Umwelt einschließlich der Haftung für Schäden war ein neuer Schwerpunkt. Verstärkt wurden die Rechte des Parlaments gegenüber der Regierung und der Bürger an der Entscheidungsfindung. Volksgesetzgebung griff den Demokratisierungsdruck der Wendezeit auf. Öffentliches und genossenschaftliches Eigentum wurde gefördert, eine Regelung zum Übergang von Volkseigentum ins Privatrecht gab es noch nicht, was eine Fehlstelle war. Alles in allem hätte der die Haltung der meisten Bürger treffende Entwurf die Aufmerksamkeit des Parlaments verdient.   

Der Jurist und Schriftsteller Bernhard Schlink, der an dem Entwurf beteiligt war, schilderte, wie die Bonner Ministerialbeamten darauf mit der gequälten Geduld, die uneinsichtigen Kindern gilt reagierten und belehrten, das komme alles nicht in Frage. Und wie die neuen DDR-Verantwortlichen auf solche Signale warteten, um auf deren Linie zu schwenken. Am 26. April 1990 beschloss die Volkskammer, den Entwurf nicht zur Beratung an den Verfassungsausschuss zu überweisen und stattdessen nach Art. 23 beizutreten. Und der Bundestag sah schon gar keinen Grund, sich mit neuen Ideen für künftige Gemeinsamkeit zu befassen. Damit war der Versuch gescheitert, den DDR-Unterhändlern für die bevorstehenden Verhandlungen zur Einheit eine verfassungsrechtliche Bindung mitzugeben, die sie vor Überrumpelung bewahrt. Auch formal frei Gewählte geben keine Garantie, nicht schwerwiegende Fehler zu machen.

Doch die revolutionären Impulse hatten längst auch Teile der linksliberalen West-Elite ergriffen. Sie brachten den "gestreckten Art. 23" ins Gespräch. Wenn nicht zu vermeiden erst Beitritt, dann in Ruhe gemeinsame Verfassungsgebung. Schließlich könne sich das Volk als Souverän jederzeit eine neue Verfassung geben. Was wohl völlig verdrängt ist: Schon im September 1990 hielt als erste gesamtdeutsche Bürgerinitiative das "Kuratorium für einen demokratisch verfassten Bund deutscher Länder" in Weimar seinen Gründungskongress ab. 200 Juristen und Vertreter von Wissenschaft, Politik und Kultur griffen die Verfassung des Runden Tisches auf, um sie weiter zu entwickeln. Darunter Jürgen Habermas, Otto Schily, Bärbel Bohley oder Rosemarie Will und Ulrich K. Preuß, der warb: "Eine Gesellschaft, die sich selbst eine Verfassung gegeben hat, ist politisch intelligenter, wacher und über sich selbst aufgeklärter." Mehr als 2000 Bürger machten Vorschläge.

Die politische Klasse begleitete die Initiative mit Argwohn. Im Mai 1991 versicherte Innenminister Schäuble im Bundestag, eine Verfassungsneuschöpfung werde es mit der CDU nicht geben, auch keinen Umbau und keine Totalrevision. Im Juni wurde die überarbeitete Verfassung dennoch in der Frankfurter Paulskirche vorgestellt. Sie hatte vieles vom Runden Tisch bewahrt und fortgeschrieben. Aber sie ging noch mutiger auf Schwächen der eignen Ordnung ein. Sie forderte eine umfassende Friedenspflicht des Staates, einschließlich Abrüstungsverpflichtung und Waffenexportverbot. Neben Gesetzentwürfen sollten auch Verordnungen zustimmungspflichtig sein, um nicht mehr am Parlament vorbei regieren zu können. In einer zugehörigen Denkschrift hieß es, der Ohnmacht des Parlaments müsse als Gefahr für die Demokratie vorgebeugt werden. Die Beschränkung auf repräsentativen Parlamentarismus werde dem zunehmenden Bedürfnis der Bürger nach Teilhabe nicht mehr gerecht. Das politische System müsse für neue Inhalte und Politik-Formen geöffnet werden, um politisches Engagement zu fördern und Auseinandersetzungen der Menschen über sie selbst betreffende Fragen zu stärken.

Die CDU-Regierung und ihre Leitmedien reagierten harsch. Soziale Grundrechte seien als Eingriffe in Freiheitsrechte abzulehnen. Es sei geradezu grotesk, dass nachdem sich das Grundgesetz der sozialistischen Gesellschaftsform als überlegen erwiesen habe, dieses geändert werden solle. Die Siegerpose hatte jegliche Nachdenklichkeit abgeworfen. In dieser selbstgerechten Grundstimmung bestand die Gefahr, dass eine Verfassungsänderung nur Verschlechterung bringt. Auch das Kuratorium war gescheitert.

In der Praxis scheiterte unterdessen der schnelle Beitritt. Er sollte die Übersiedler stoppen, doch deren Zahl war nach Einführung der D-Mark deutlich höher als zuvor. Nach repräsentativen Erhebungen demonstrierten zwischen 1990 und 1994 in Ostdeutschland drei Millionen Menschen gegen Entlassungen und Ungleichbehandlung – doppelt so viele wie bei der „friedlichen Revolution“ – doch sie wurden ignoriert. Die ostdeutsche Geburtenrate fiel um 70 Prozent, im Gleichklang mit der Wirtschaftsleistung. Einen solchen Absturz hatte es nicht mal nach dem 30jährigen Krieg gegeben. Es sollte 17 Jahre dauern, bis die sogenannten neuen Bundesländer wenigstens wieder die wirtschaftliche Leistungskraft der am Ende doch so bankrotten DDR erreichten.

Das machtversessene Wegfegen der Bemühungen um einen verfassungsrechtlichen Neuanfang der deutschen Einheit war viel mehr als eine vertane Chance. Es war Pflichtvergessenheit gegenüber einem sich ausbreitenden Ohnmachtsgefühl von Bürgern, die zu dem heutigen Rechtsruck beigetragen hat, zu Frust, Hass, Gewalttätigkeit und Demokratieverachtung. Es war organisierte Verantwortungslosigkeit der Mächtigen.