News | Antisemitismus (Bibliographie) - Linke und jüdische Geschichte - Shoah und linkes Selbstverständnis - Deutsch-deutsche Geschichte - Nahost und Antisemitismus in der BRD - Theorie des Antisemitismus Ullrich et. al. (Hrsg.): Was ist Antisemitismus? Begriffe und Definitionen von Judenfeindschaft; Göttingen 2024

Bereichert und (lädt) zum Weiterdenken ein

Seit dem Massaker der Hamas vom 7. Oktober 2023 und Israels Krieg mit getöteten Zivilist:innen im fünfstelligen Bereich und einem weitgehend zerstörten Gazastreifen hat sich das deutsche Antisemitismusproblem weiter verschärft. Einerseits ist ein massiver Anstieg antisemitischer Vorfälle zu verzeichnen, wobei noch unklar ist, wie sich dieser auf rechtsextreme, islamistische und linke Milieus verteilt. Jedenfalls fühlen sich Jüdinnen:Juden in Deutschland an vielen Orten nicht mehr sicher. Anderseits ist der auch zuvor schon wenig differenzierte Antisemitismusdiskurs vollends entgleist. Muslimische und migrantische Communities werden unter Generalverdacht gestellt: Sollten sie sich nicht «klipp und klar» von Antisemitismus distanzieren, so die Drohung von Vizekanzler Habeck, hätten sie ihren «Anspruch auf Toleranz» und «Schutz vor rechtsextremer Gewalt» verwirkt. Das Grundrecht, im Rahmen der Versammlungsfreiheit gegen den Gaza-Krieg zu protestieren und sich für die politische Selbstbestimmung von Palästinenser:innen einzusetzen, gilt nur noch eingeschränkt. Hochschullehrer:innen, die dieses Grundrecht verteidigen (ohne sich die inhaltlichen Forderungen des Protests zu eigen zu machen!), werden von der Springer-Presse – in Einklang mit Bildungsministerin Stark-Watzinger – als «UniversiTÄTER» und Unterstützer:innen von «Juden-Hass Demos» diffamiert und mit Fotos an den Pranger gestellt. Hinzu kommt ein Kulturkampf gegen kolonialismuskritische Ansätze, der an die Dämonisierung des Marxismus im Kalten Krieg erinnert: Der Postkolonialismus erscheint als Reich der bösen Ideen, die Antisemitismus transportieren und daher – als «Lehre aus der Geschichte» – abgewehrt werden müssen.

Urs Lindner ist ist Philosoph am Max-Weber-Kolleg der Universität Erfurt. Zu seinen Arbeitsschwerpunkten gehören Egalitarismus, Affirmative Action, Materialismus/Realismus, Marx(ismus), Kolonialismus und Erinnerungspolitik.

Teil dieser Konstellation ist ein Glaubenskrieg um Definitionen, IHRA (International Holocaust Remembrance Alliance) vs. JDA (Jerusalem Declaration on Antisemitism): «Antisemitismus ist eine bestimmte Wahrnehmung von Juden, die sich als Hass gegenüber Juden ausdrücken kann» versus «Antisemitismus ist Diskriminierung, Vorurteil, Feindseligkeit oder Gewalt gegen Jüdinnen und Juden als Jüdinnen und Juden (oder jüdische Einrichtungen als jüdische).» Für viele Anhänger:innen der IHRA-Definition gilt eine kritische Befragung des von ihnen favorisierten Wortlautes als Ausdruck von antiisraelischem Ressentiment. Umgekehrt sind auch Befürworter:innen der JDA, die stärker zwischen Kritik an israelischer Politik und Antisemitismus differenzieren wollen, nicht immer zimperlich, Menschen mit Sympathien für die IHRA-Definition als Gehilf:innen der israelischen Rechten darzustellen. Und falls nicht-westliche Stimmen interessieren: Al Jazeera etwa hat die JDA keineswegs begeistert kommentiert, sondern als «orientalistischen Text» gebrandmarkt.
In dieser verfahrenen Situation gleicht der von Peter Ullrich, Sina Arnold, Anna Danilina, Klaus Holz, Uffa Jensen, Ingolf Seidel und Jan Weyand herausgegebene Band Was ist Antisemitismus? Begriffe und Definitionen von Judenfeindschaft, der in der Schriftenreihe des Zentrums für Antisemitismusforschungder TU Berlin erschienen ist, einem Silberstreif am Horizont. Obwohl mehrere Herausgeber:innen der JDA nahestehen, wird der Glaubenskrieg um Definitionen gerade nicht fortgesetzt.

Den ganzen Rezensionsessay im PDF lesen. Wir danken dafür, diese Vorveröffentlichung aus Heft 37 von Sozialgeschichte Onlinehier publizieren zu dürfen.