News | Ecuador: Für einen politischen Begriff von Sicherheit

Überlegungen in Zeiten des demokratischen Despotismus.

Ein Soldat in voller Montur macht eine Personendurchsuchung bei einem Passanten. Dieser lehnt an der Wand.
Das Militär führt in Ecuador regelmäßig Personenkontrollen durch.  Foto: Galo Paguay

Lateinamerika und die Karibik erleben angesichts von Kriminalität und Gewalt eine Sicherheitskrise. Regierungen - wie etwa die von Daniel Noboa in Ecuador - reagieren mit Härte und entpolitisieren das Problem zugleich: Die Militarisierung der Gesellschaft wird als alternativlos präsentiert. Die Linke hat dem bisher wenig entgegenzusetzen. Es gilt, das Konzept der Sicherheit zu repolitisieren.

Nach einer Welle krimineller Gewalt, die Ecuador zu Beginn des Jahres erschütterte, unterzeichnete Präsident Daniel Noboa ein Dekret, das die Existenz eines internen bewaffneten Konflikts anerkennt und 22 kriminelle Gruppen als terroristische Organisationen einstuft. Diese Erklärung eines «internen Kriegs» ermöglicht die weitumfassende und langfristige Militarisierung des Landes. Um sie zu untermauern, drängte der Präsident auf ein mehrteiliges Referendum, dessen Fragen sich hauptsächlich um Sicherheitspolitik drehten und die Befugnisse des Militärs umfassend ausweiten sollten. Am 21. April 2024 stimmten die Ecuadorianer*innen 9 der 11 Fragen des Referendums zu. Vier Monate später ist keines der Probleme, die der Kriegserklärung vorangingen, gelöst. Vielmehr wird die Militärpräsenz auf den Straßen und die kriminelle Gewalt in den Nachrichten von der Gesellschaft normalisiert. 

Luis C. Córdova Alarcón ist Doktor der Politikwissenschaft an der Universität von Salamanca und Direktor des Forschungsprogramms über Ordnung, Konflikt und Gewalt an der Universidad Central del Ecuador. Er untersucht politische und kriminelle Gewalt, zivil-militärische Beziehungen und Außenpolitik.

Wir sind Zeugen einer neuen Epoche dessen, was der französische Publizist Alexis de Tocqueville bereits im 19. Jahrhundert in seinem Werk «Über die Demokratie in Amerika» als «demokratischen Despotismus» bezeichnete. Im Namen der Ordnung – als ob dies der höchste Wert der Demokratie wäre – haben die Regierenden der militärischen Macht freien Lauf gelassen. Ein gutes Beispiel dafür ist Mexiko. Der Ordnungssinn, den der heutige Militarismus verteidigt, unterscheidet sich nicht wesentlich von dem, der während der von den Vereinigten Staaten geförderten Militärdiktaturen zu Zeiten des Kalten Krieges aufstieg. Fortschritt, sozialer Frieden, Freiheit sind Begriffe, die in den Reden der neuen Despoten auftauchen: Nayib Bukele (El Salvador), Javier Milei (Argentinien) oder Daniel Noboa (Ecuador). Der Unterschied besteht darin, dass es heute vermieden wird, die demokratische Verpackung zu zerstören. Die Demokratie ist zu einer bloßen Hülle geworden.

Gibt es eine Alternative? Es gilt, das Verständnis von Sicherheitspolitik in zweierlei Hinsicht zu überdenken, um ihm etwas entgegensetzen zu können: Erstens, wie die Idee der Sicherheit begründet ist, die die Entstehung eines «demokratischen Despotismus» ermöglicht, und zweitens, wie die affektive Struktur der Angst entschärft werden kann, die die «Kriegermentalität» unter den Staatsbediensteten und die Paranoia unter den Bürger*innen nährt. Bei der Untersuchung dieser Fragen wird deutlich, dass Sicherheit ein politisches Feld ist, das von Machtkonflikten bestimmt wird.

Der gegenwärtige Militarismus in der Region geht von einer Ordnungsvorstellung aus, die auf der politischen Philosophie von Thomas Hobbes basiert. Der Kern seines Ansatzes ist, dass es angesichts einer existenziellen Bedrohung der Staatssicherheit keine andere Alternative gibt als einen Leviathan - der allmächtige Souverän, dem sich das Volk freiwillig unterwirft, um sich selbst vor dem Chaos des Naturzustandes zu schützen. So wird angesichts der existenziellen Bedrohung (Drogenterrorismus oder Organisierte Kriminalität) die Einberufung des Militärs zur gewaltsamen Wiederherstellung der Ordnung zu einer «existenziellen Notwendigkeit» (Neal, 2019). Es ist diese Darstellung von Ordnung, welche die Politik des autoritären Durchgreifens unterstützt.

Diese Vorstellung hat jedoch keine empirische Grundlage, wenn man den modernen Staat in historischer Perspektive betrachtet. In Europa zeigte Charles Tilly (1985) beispielsweise, wie Krieg, Ressourcengewinnung und Kapitalakkumulation zusammenwirkten, um den Staatsaufbau zu ermöglichen. In diesem Prozess war die Unterscheidung zwischen «legitimer» und «illegitimer» Gewalt nicht eindeutig, da kriminelle und proto-staatliche Akteure um die Autoritätsausübung mittels Gewalt wetteiferten und versuchten, das «Schutzgeschäft» zu monopolisieren.

In Lateinamerika und der Karibik verlief die Geschichte etwas anders. Die Staatsbildung (state-formation) erfolgte spät (ab dem 19. Jahrhundert) und der Aufbau bürokratischer Kapazitäten (state-building) hing eher von der Eingliederung der Peripherien in den Markt und ihrer sozio-politischen Transformation ab als von der Kriegsdurchführung (Mazzuca, 2021). Die meisten Länder blieben bis weit in das 20. Jahrhundert hinein patrimoniale Staaten, die von Oligarchen oder Caudillos geführt wurden: Der Somoza-Clan, der Nicaragua von 1934 bis 1979 diktatorisch regierte, ist ein anschauliches Beispiel. Aus diesem Grund sind bewaffnete Akteure und kriminelle Gewalt in der Region keine bloßen Fehler im System, sondern «Merkmale eines höchst ungleichen politischen Systems, das weiterhin mit Vermächtnissen von Ausgrenzung und Autoritarismus zu kämpfen hat» (Arias, 2017: 8). 

Das politische Feld der Sicherheit ist geformt durch das Zusammenspiel von staatlichen, paramilitärischen oder kriminellen Akteuren, die Gewalt in der Gesellschaft organisieren; mal in Konkurrenz, mal in Kooperation; denn nur sie können das Schutzgeschäft betreiben, sei es gegen eine Steuer oder als Mittel der Erpressung. Aus dieser Perspektive hat die staatlich organisierte Gewalt keinen Wert an sich, sondern nur insofern, als sie demokratisch reguliert wird. Es sind die demokratischen Regeln, die die Zwangsgewalt des Staates einschränken, die den Unterschied ausmachen.

Wenn es einen «demokratische Despotismus» heute gibt, dann aus dem Grund, dass der Sinn der Demokratie verzerrt wurde, indem sie ihres Inhalts beraubt wurde. Die heutigen Despoten lehnen jede demokratische Regel ab, die der staatlich organisierten Gewalt (Polizei, Streitkräfte und Geheimdienste) Grenzen setzt. Unter dem Vorwand, gegen Bedrohungen vorzugehen, verlangen sie mehr Macht, inmitten von Undurchsichtigkeit und Willkür. Paradoxerweise tun sie all dies im Namen der Demokratie. Das Ergebnis ist ein Leviathan, der die Grundlagen der Legitimität untergräbt, die ihn stützen. Ohne institutionelle Deiche ertränkt die militärische und kriminelle Macht die Gesellschaft schließlich in Blut. Somalia oder Haiti sind der Beweis dafür.

Wie man sieht, ist mit dieser Logik die Politik ein Ersatz für den Krieg. Es gibt also keinen Raum für Differenzen, Meinungsverschiedenheiten, oder Konflikt. Das Leben der Bürger hängt vom Tod des Drogenterroristen und all seiner Verbündeten, Komplizen und Hintermänner ab. Es wird ein permanenter Kriegszustand eingeführt, der die Demokratie bis zu ihrer Entkräftung begrenzt.

Es ist unbestreitbar, dass der Schutz der Bürger ein grundlegendes öffentliches Gut ist, welches notwendig für die Ausführung weiterer Rechte ist. Ohne ein Mindestmaß an individueller Sicherheit könnten Kinder und Jugendliche nicht einmal zur Schule gehen. Aus diesem Grund ist der Schutz eine zentrale Aufgabe jeder demokratischen politischen Gemeinschaft (González, 2020). Theoretisch ist diese politische Gemeinschaft mit einem Staatsapparat ausgestattet, der dafür verantwortlich ist, diese Sicherheit durch das Gewaltmonopol zu gewährleisten. In der Praxis ist dies jedoch nicht der Fall.

In sehr ungleichen Gesellschaften, wie denen Lateinamerikas, verteilt der staatliche Zwangsapparat Schutz und Repression auf der Grundlage einer bestimmten sozioökonomischen Struktur. In Regionen, in denen chronische Ungleichheit herrscht, ist es wahrscheinlich, dass der Staat mehr repressiv als unterstützend eingreift und somit die Asymmetrien aufrechterhält. Chiapas, der ärmste Bundesstaat Mexikos, ist ein erschütterndes Beispiel dieser Dynamik: Während der Staat Dissident*innen unterdrückt, verkaufen kriminelle Gruppen Schutz in einem gut etablierten kriminellen Regierungssystem.

Alles hängt davon ab, wie die politischen Ökonomien auf lokaler Ebene gestaltet sind: welche Art von Vereinbarungen die (formellen, informellen und illegalen) Wirtschaftsakteure und Regierungsbehörden treffen, um Schutzprioritäten oder repressive Ziele festzulegen; und welche Art von Akteuren eingreifen, um Sicherheit zu gewährleisten: Polizei, Militär, Geheimdienste, Kommunalbeamt*innen, privates Sicherheitspersonal oder paramilitärische Strukturen.

Aus dieser Perspektive betrachtet ermöglichen illegale Ökonomien die Reproduktion des Kapitals, indem sie dem Staat (durch Korruption im öffentlichen Beschaffungswesen), den natürlichen Ressourcen (durch illegalen Bergbau oder Artenhandel) und der von ihr kontrollierten Bevölkerung (durch Erpressung und Entführungen) je nach Bedarf Einnahmen entziehen. Das kriminelle Kapital war schon immer dem Kapitalismus dienlich und das organisierte Verbrechen hat am Aufbau des modernen Staates mitgewirkt.

Es gilt bei alledem, nicht die Diskurse der Angst und des Misstrauens zu reproduzieren, die die «affektiven Regeln» (Flam, 2005) der Militarisierung durchziehen. Hier neigt die Linke dazu, schnell an Boden zu verlieren. Ohne ein programmatisches Leitbild zur Auseinandersetzung mit dem politischen Feld der Sicherheit reproduziert sie Diskurse, die den «gesunden Menschenverstand» der Gesellschaft in Beschlag nehmen: «mehr Ressourcen für die Polizei», «mehr Militär auf den Straßen», «mehr Kontrolle an den Grenzen». So entsteht eine Gewaltkultur, aus der die konservativsten oder offen populistischen politischen Sektoren Kapital schlagen.

Daher ist es dringend notwendig, eine emotionale Strategie für den politischen Bereich der Sicherheit zu finden. Dies wird allerdings nur möglich sein, wenn ein kritischer Diskurs über Sicherheit formuliert wird. Ein Diskurs, der die ideologische Falle des «Präsentismus», mit der Angst in der Gesellschaft kultiviert wird, anprangert. Mit anderen Worten, ein Diskurs, der die Zukunft wieder in das politische Leben integriert, um sie demokratisch zu verändern (White, 2024).

Die von organisiertem Verbrechen ausgehende Gewalt ist eine langfristige Herausforderung, die weitsichtige Strategien erfordert. Doch die Politik des autoritären Durchgreifens und der Militarisierung sind unmittelbare und fast immer verzweifelte Reaktionen. Wie Innerarity (2020: 370) warnt, «gibt es keine kollektive Intelligenz, wenn es den Gesellschaften nicht gelingt, ihre Zukunft vernünftig zu gestalten. Die Zukunft ist eine Konstruktion, die mit einer gewissen Kohärenz prognostiziert werden muss. […] Wenn der Zeithorizont eng ist und nur die unmittelbarsten Interessen berücksichtigt werden, ist es sehr schwierig zu verhindern, dass sich die Dinge katastrophal entwickeln».

Ein Verständnis der Sicherheit als politisches Feld könnte der Linken den Schwung geben, den sie braucht, um wieder die Initiative zu ergreifen und eine politische Agenda mit Zukunft zu entwerfen. Eine Agenda, in der «die Idee einer demokratischen Lebensweise» (Honneth, 2017) einen Platz hat. Eine Agenda, in der der strategische Horizont nicht der Krieg, sondern das Leben ist.