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Warum fiel die prognostizierte Rechtsverschiebung bei der Europawahl schwächer aus als erwartet?

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Kundgebung rechtspopulistischer EU-Parteien in Prag am 25. April 2019. An der Wand dahinter steht der Slogan: «Für ein Europa der souveränen Nationen.»
Vor der letzten Europawahl 2019 demonstrierten sie noch gegen das «Diktat der Europäischen Union»:
Gerolf Annemans, Vorsitzender der rechten EP-Fraktion «Europa der Nationen und der Freiheit», ENF (jetzt: «Identität und Demokratie», ID), Marine Le Pen, Vorsitzende der «Nationalen Sammlungsbewegung», RN (führer «Front National»), Tomio Okamura, Vorsitzender der tschechischen «Partei für Freiheit und direkte Demokratie» und Geert Wilders, Vorsitzender der niederländischen «Partei für die Freiheit»
Die Kundgebung fand statt in Prag am 25. April 2019. An der Wand dahinter steht der Slogan: «Für ein Europa der souveränen Nationen.» Foto: IMAGO / CTK Photo

Die Europawahl bedeutet je nach Perspektive etwas anderes. Für das Brüsseler Pressekorps ist sie ein Anlass für fieberhafte Spekulationen darüber, wer nach tagelangem Kuhhandel und Hinterzimmerdeals die «Spitzenpositionen» erhält – die Präsidentschaften des Rates, der Kommission und des Parlaments sowie den Posten des Hohen Vertreters für Außen- und Sicherheitspolitik. Für die Staats- und Regierungschefs der Mitgliedstaaten bietet die Wahl eine Gelegenheit, ihrer Partei einen höheren Anteil Abgeordneter zu verschaffen und möglicherweise einer Fraktion vorzustehen – so gewinnen sie Macht, Prestige und ein Druckmittel bei Verhandlungen mit anderen europäischen Staaten. Für Oppositionspolitiker*innen bietet das EU-Parlament eine nützliche (und lukrative) Möglichkeit abzuwarten, bis sich daheim politische Optionen bieten. Der derzeitige italienische Außenminister, Antonio Tajani, war mehr als zwei Jahrzehnte Europaabgeordneter; Marine Le Pen und Nigel Farage saßen ebenfalls lange im Parlament.

Christopher Bickerton ist Professor für Modern European Politics und Fellow am Queens’ College der University of Cambridge.

Die EU-Bürger*innen sehen die Wahl jedoch oft als Möglichkeit, nationale politische Kämpfe auf einer anderen Ebene auszutragen. 2014 markierte den Durchbruch von Podemos und der Fünf-Sterne-Bewegung und ermöglichte es Syriza, die Pasok als führende linke Kraft in Griechenland zu verdrängen. In Großbritannien war die Wahl von 2019 praktisch ein zweites Referendum über den Brexit. 2024 sollten wir Zeug*innen eines reaktionären Überholvorgangs im kontinentalen Maßstab werden: Populist*innen und Extremist*innen würden die politischen Mainstream-Formationen des Parlaments zu Fall bringen. Ursula von der Leyen, die für eine zweite Amtszeit als Kommissionspräsidentin antrat, bezweifelte, dass sie ihre «Große Koalition» aus Zentrist*innen und Liberalen aufrechterhalten könne, und wandte sich vor der Wahl an die Italienerin Giorgia Meloni – mit der Aussicht auf einen Deal mit der extremen Rechten.

Rechter Erdrutschsieg bleibt aus

Doch nach der Wahl erwies sich das Gerede von einem Erdrutschsieg als übertrieben. In den Niederlanden erhielt Geert Wilders’ Partij voor de Vrijheid (Partei für die Freiheit) sechs Sitze, unterlag aber dem Bündnis aus Mitte-links-Parteien und Grünen. In Deutschland verbesserte sich die AfD von neun auf fünfzehn Sitze, blieb aber weit hinter der CDU/CSU zurück, die satte 29 Mandate errang. In Spanien konnte Vox zwei Sitze hinzugewinnen, aber der Stimmenanteil blieb unter zehn Prozent, während der Partido Popular (die konservative Volkspartei) mit vier Prozentpunkten vor der regierenden sozialdemokratischen PSOE stärkste Kraft wurde. Die Perussuomalaiset («Wahre Finnen») erhielten ebenfalls weniger als zehn Prozent der Stimmen und verloren einen Sitz, während die Sverigedemokraterna (Schwedendemokraten) einen Sitz hinzugewannen, aber hinter den etablierten Parteien des Landes und den Grünen auf dem vierten Platz landeten.

Die dominanten Gruppierungen im EU-Parlament haben sich ebenfalls als relativ beständig erwiesen. Die Mitte-rechts-Fraktion der Europäischen Volkspartei (EVP) gewann neun Sitze hinzu und kam damit auf 185 Sitze, während die sozialdemokratische Mitte-links-Fraktion (S&D) nur zwei Sitze verlor und 137 Sitze erzielte. Die größten Verlierer*innen waren das liberale Renew Europe und die Grünen, die 23 bzw. 19 Sitze einbüßten.

Die beiden größten rechtsextremen Formationen gewannen zusammen nur 13 Sitze hinzu; die Europäischen Konservativen und Reformer (EKR) verfügen nun über 73 Sitze, während auf Identität und Demokratie (ID) 58 Sitze entfallen. Es ist unwahrscheinlich, dass sich die beiden Gruppen zusammenschließen, und es ist immer noch unklar, wo sich die AfD – die keiner von beiden angehört – einreihen wird.

Die EKR wurden 2009 von den britischen Konservativen gegründet, denen die EVP zu proeuropäisch schien. Sie vertritt den gemäßigteren Flügel der extremen Rechten und hält sich nicht an die europäische Variante der Brandmauer, den sogenannten cordon sanitaire, der rechtsradikale Abgeordnete von einflussreichen Positionen im Parlament fernhalten soll. Zu ihnen gehören Melonis Fratelli d’Italia (Brüder Italiens) sowie die polnische Prawo i Sprawiedliwość (PiS, Recht und Gerechtigkeit). Die ID hingegen gilt als inakzeptabel und vereint Marine Le Pens Rassemblement National (RN, Nationale Sammlungsbewegung), Matteo Salvinis Lega und die Eesti Konservatiivne Rahvaerakond (Estnische Konservative Volkspartei).

Alles wie gehabt?

Im EU-Parlament kommt es also zu einer Rechtsverschiebung, wenn auch langsamer als erwartet und mit stark gespaltenen populistisch-nationalistischen Gruppierungen. Die Wahlergebnisse deuten darauf hin, dass es so weitergehen wird wie bisher. Von der Leyen betont, dass «die Mitte hält» und ihr Bündnis fortbestehe, möglicherweise mit Unterstützung der Grünen. Die politischen Hauptströmungen der EU scheinen ihre Differenzen beiseitezulegen, um ihre Hegemonie aufrechtzuerhalten. Wie viele in Brüssel wissen, kann die Strategie der Großen Koalition jedoch dazu führen, dass die politische Mitte noch mehr als eine undifferenzierte Masse von machthungrigen Politiker*innen erscheint, ihren Gegner*innen Zulauf verschafft und später Probleme verursacht.

Auf nationaler Ebene war besonders interessant, wo die Europawahl die politischen Entwicklungen daheim vorwegzunehmen schien. Vielleicht etwas voreilig galt das starke Abschneiden von Péter Magyar – einem Fidesz-Insider, der zum Gegner und Whistleblower wurde – als Zeichen dafür, dass Viktor Orbáns Dominanz allmählich schwindet. In Polen büßte die PiS fünf Sitze ein und verlor gegenüber Donald Tusks Platforma Obywatelska (Bürgerplattform) weiter an Boden. Meloni führte einen bemerkenswert persönlichen Wahlkampf und forderte ihre Anhänger*innen auf, «Giorgia» auf die Stimmzettel zu schreiben. Sie erhielt knapp 30 Prozent der Stimmen und 14 zusätzliche Sitze. Die SPD von Olaf Scholz wurde unterdessen sowohl von der größten Oppositionspartei als auch von der AfD überholt, was zu Spekulationen darüber führte, wie lange er noch im Amt bleiben kann.

Den Preis für das größte Drama auf nationaler Ebene konnte jedoch Frankreich einheimsen. Das RN bezeichnete die Wahl als Referendum über Macrons zweite Amtszeit und gewann mehr als doppelt so viele Stimmen wie das Wahlbündnis des Präsidenten. Raphaël Glucksmann von der Parti socialiste tauchte als neue Mitte-links-Figur auf und errang für seine gemeinsame Liste 13 Sitze – genauso viele wie Macron. Die anderen Parteien des zersplitterten NUPES-Bündnisses (Neue ökologische und soziale Volksunion) schnitten im Allgemeinen schlecht ab; nur La France insoumise (Unbeugsames Frankreich) erhielt zehn Prozent und neun Sitze.

Angesichts der Ergebnisse löste Macron das Parlament auf und beraumte für den 30. Juni und 7. Juli Neuwahlen an. Dies scheint ein Versuch zu sein, das RN direkt herauszufordern. Die extreme Rechte sagt, sie sei bereit zu regieren – sollte sie aber die anstehende Wahl gewinnen, könnte ihr Vorsitzender, Jordan Bardella, durchaus Ministerpräsident werden, und Macron weiß, dass es schwierig ist, in dieser Position populär zu bleiben.

Die Gretchenfrage: Pro oder contra EU

Weniger beachtet wird, was das für die grundsätzliche Spaltung in der europäischen Politik bedeutet: zwischen den Befürworter*innen und den Kritiker*innen der EU. Der Politikwissenschaftler Peter Mair stellte einmal fest, dass die besondere Struktur dieser überstaatlichen Organisation es den Bürger*innen erschwere, einzelne Maßnahmen zu gestalten oder dagegen vorzugehen. Infolgedessen nehme der Widerstand zwangsläufig die Form eines Widerstands gegen die EU insgesamt an. Während in der Nachkriegszeit hauptsächlich die Linke für Euroskeptizismus stand, übernahm ab den 1990er Jahren vermehrt die souveränistische und nationalistische Rechte solche Positionen, vor allem in Gestalt der britischen UKIP und der Freiheitlichen Partei Österreichs (FPÖ). Diese Verschiebung spiegelte einerseits die Implosion der parlamentarischen Präsenz kommunistischer Parteien auf dem Kontinent wider, veranschaulicht etwa durch den spektakulären Niedergang der Kommunistischen Partei Frankreichs, andererseits aber auch die Aufgabe des Prinzips der nationalen Souveränität durch die Linke im weiteren Sinne, die sich beispielhaft in der Entwicklung der Pasok von einer profunden Kritikerin der europäischen Integration in den 1970er Jahren zu einer loyalen Befürworterin Ende der 1980er Jahre vollzog.

In diesem Jahr haben die rechtsextremen Parteien zwar die größten Zuwächse in der Geschichte der EU erzielt, aber die Wahl zeigt auch, wie sehr sie sich an die Institution angepasst haben. Scharfer Euroskeptizismus wurde durch biederen Reformismus ersetzt, wie Melonis Wahlkampfslogan beispielhaft verdeutlicht: «Italien verändert Europa». Wilders, der einst einen Austritt der Niederlande aus der EU vertrat, gab diese Position mit Beginn des Wahlkampfs schnell auf. Auch Le Pen sprach sich bei der Europawahl 2014 noch für einen «Frexit» aus, verschreibt sich seitdem jedoch einer Politik des «Wandels von innen».

In dieser Hinsicht ahmen die rechtsextremen Parteien Westeuropas immer mehr die Strategien ihrer Pendants in Mittel- und Osteuropa nach. Recht und Gerechtigkeit liegt seit Jahren im Clinch mit Brüssel, hat aber nie ernsthaft einen «Polexit» in den Raum gestellt. Die Fidesz gerät häufig wegen Vertragsverstößen mit der EU aneinander, denkt aber nicht daran, auszutreten. Eine Ausnahme von diesem reformistischen Trend scheint die AfD zu sein, die nach wie vor eine harte Linie in Bezug auf den Austritt aus dem Euroraum und die Wiedereinführung der D-Mark vertritt. Das ist jedoch keineswegs der Hauptinhalt der Partei und auch nicht der Grund für ihren Erfolg, der vielmehr im Schüren deutscher Kulturkämpfe liegt.

Eine Ursache für diese mäßigende Tendenz ist der Brexit, der – indem er eine Verfassungskrise auslöste und die Zuwanderung nicht einzudämmen vermochte – der europäischen extremen Rechten vor Augen führte, dass sie den Austritt aus der EU nicht uneingeschränkt befürworten kann. Ein weiterer Grund ist der anhaltende Rückhalt der EU in der Bevölkerung der meisten Mitgliedstaaten. Da Parteien wie RN und Fratelli d’Italia versuchen, die traditionellen rechten Parteien zu verdrängen, indem sie Wechselwähler*innen umwerben, sind EU-feindliche Positionen zu einem Nachteil im Wahlkampf geworden. Die Vorsitzenden solcher Parteien werden oft als Hardliner und Ideolog*innen dargestellt, sind aber meist im Grunde flexible Pragmatiker*innen. Allzu rigide Persönlichkeiten, etwa Maxmilian Krah von der AfD, werden in der Regel an den Rand gedrängt.

In den letzten Jahren wurden die populistischen Kräfte Europas langsam in die Brüsseler Hierarchie eingegliedert. Vielleicht haben sie bei dieser Wahl nicht deren Führung übernommen, wie manche vorhergesagt hatten. Aber es hat sich gezeigt, dass sie bereit sind, zugunsten ihres Aufstiegs vom Euroskeptizismus Abstand zu nehmen.
 

Deutsche Erstveröffentlichung des Textes «After Euroscepticism», der zuerst von der «New Left Review» publiziert wurde. Die Zwischenüberschriften wurden redaktionell eingefügt. Übersetzung aus dem Englischen von André Hansen für Gegensatz Translation Collective.