News | Kapitalismusanalyse - Digitaler Wandel Für ein Splinternet

Wir sollen uns zwischen US-amerikanischen und chinesischen Tech-Konzernen entscheiden. Doch warum schlagen wir keinen dritten Weg ein? Von Paris Marx

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Paris Marx,

Wolke aus Glassplittern vor schwarzem Hintergrund
Das «Splinternet» (dt.: Splitternetz) bezeichnet ein durch staatliche Regulierung fragmentiertes Internet.
  Foto: shutterstock.com

Statt die Vorherrschaft amerikanischer oder chinesischer Tech-Giganten zu unterstützen, sollten wir einen dritten Weg einschlagen: das «Splinternet». Durch regionale und nationale Initiativen können wir die Macht der großen Konzerne brechen und die Technologie wieder in die Hände der Allgemeinheit legen – für eine demokratischere und gerechtere technologische Zukunft jenseits von Silicon Valley und Shenzhen.

Im August 2020 trat US-Außenminister Mike Pompeo mit seinem Plan für ein «Clean Network» (dt.: Sauberes Netzwerk) an die Öffentlichkeit. Darin malte sich sein Haus eine Allianz «sauberer» Länder und Firmen aus, die sich dem Ansinnen der USA anschließen würden, das Wachstum und die Wettbewerbsfähigkeit der chinesischen Tech-Branche einzudämmen. Die Partnerstaaten würden chinesische Komponenten aus ihren Telekommunikationsnetzen verbannen, ihren Markt für Geräte chinesischer Hersteller schließen und ihre Bürger*innen sogar fortan daran hindern, chinesische Apps und Dienste zu nutzen.

Paris Marx ist Host des preisgekrönten Podcasts «Tech Won’t Save Us» und Autor von Road to Nowhere. What Silicon Valley Gets Wrong about the Future of Transportation. Seine Artikel erschienen in Time, Wired, Business Insider, NBC News sowie CBC News, und er ist regelmäßiger Interviewpartner großer Medienhäuser wie Financial Times, The Guardian und The Washington Post. Bei der Rosa-Luxemburg ist von ihm auch der Artikel Die Uber-Files enthüllen Ubers globalen Krieg gegen Arbeiter*innen erschienen. Der Autor lebt fernab des Silicon Valley in Kanada und referiert weltweit zu Tech-Themen. Weitere Informationen über ihn sind hier zu finden.

Nach dem Regierungsantritt von Joe Biden im Folgejahr ließ seine Administration zwar den rassistischen Namen der Initiative fallen, behielt jedoch deren Stoßrichtung bei. Vorbei waren die Tage des angeblich offenen Internets, in denen Staaten, Firmen und Nutzer*innen alle Erscheinungsformen des Netzes hinnehmen mussten, wenn sie nicht der Unterdrückung der digitalen Rechte oder der Meinungsfreiheit bezichtigt werden wollten. Doch als sich nun die heimische Tech-Industrie ernsthafter Konkurrenz ausgesetzt sah, reagierten die USA darauf nicht mit den Prinzipien des freien Marktes, die sie zuvor allen anderen auferlegt hatten, sondern versuchten, ihre Verbündeten in einem neu zu schaffenden Block auf die fortwährende Vorherrschaft des Silicon Valley einzuschwören, um im eigenen geopolitischen Interesse den Aufstieg chinesischer Tech-Konzerne zu stoppen.

Im Grunde stellten die USA die Welt vor die Wahl: Entweder ihr seid Teil der «sauberen» Welt demokratischer US-Technologie oder ihr entscheidet euch für die «schmutzige» und gefährliche Alternative, für die die autoritäre chinesische Technologie steht. Nicht zur Sprache kommen soll dabei, dass die Konzerne beider Lager maximalen Profit aus den Nutzer*innen pressen wollen, indem sie deren Daten sammeln, sie in geschlossene Plattformen zwingen und die Nutzer*innenmacht effektiv minimieren. Gemäß dem üblichen US-amerikanischen Drehbuch verkaufte man den Vorstoß zur Verteidigung der Marktmacht des Silicon Valley als Rettung der westlichen Demokratie und der liberalen Werte.

Das offene Internet vergangener Tage ist immer ein Produkt der US-Hegemonie gewesen.

Doch die zur Wahl stehenden Alternativen sind wenig erquicklich. Warum sollten wir uns überhaupt zwischen Amazon und Alibaba oder zwischen Google und Baidu entscheiden müssen – zumal die Mehrheit der Weltbevölkerung weder in den USA noch in China lebt. Um eine positive Entwicklung von Technologie und Gesellschaft anzustoßen, sollten wir dieses falsche Dilemma zurückweisen, da es uns an einen Pfad digitaler Technologie bindet, der ganz im Zeichen einer ausbeuterischen Macht- und Profitmaximierung steht. Heute, da die technologische Hegemonie der USA schwindet, sollten wir die Entscheidung zurückweisen, die sie der Welt aufzuzwingen versuchen, um auf Basis ganz anderer Werte eine neue Ordnung zu errichten.

Weder die USA noch China

Über Jahre hinweg haben netzpolitische Aktivist*innen vor repressiven Regierungsmaßnahmen in Ländern wie Russland oder China gewarnt, die den Zugang zu bestimmten Netzinhalten einschränken sollten. Initiativen wie Chinas Große Firewall drohten ihnen zufolge ein zunehmend «balkanisiertes», in verschiedene Sphären zersplittertes Internet herbeizuführen, dessen User*innen je nach Standort sehr unterschiedliche Nutzererfahrungen machen würden. Dieses bisweilen als «Splinternet» (dt.: Splitternetz) bezeichnete Szenario galt es um jeden Preis zu vermeiden. Doch möglicherweise ist es nun an der Zeit, diese Einschätzung zu überdenken; vielleicht ist der Moment gekommen, das Splinternet willkommen zu heißen.

Das offene Internet vergangener Tage ist immer ein Produkt der US-Hegemonie gewesen. Als das Internet zum ideologischen Soundtrack von freier Meinungsäußerung und Demokratie seinen globalen Siegeszug antrat, nutzten die US-amerikanischen Tech-Unternehmen die Gunst der Stunde und eroberten internationale Märkte, bevor heimische Unternehmen ihnen ernsthaft das Wasser reichen konnten. Anschließend stellten sie mit diplomatischer Unterstützung der USA sicher, dass sie keinen strengen Regulierungen unterworfen werden würden. Wie Senator Al Gore 1989 vor dem US-Senat erklärte, «wird die Nation, der es am umfassendsten gelingt, leistungsstarke Computertechnologien in ihre Volkswirtschaft zu integrieren, höchstwahrscheinlich zur dominanten geistigen, ökonomischen und technologischen Macht des kommenden Jahrhunderts aufsteigen». Einige Jahre später trieb Al Gore in seinem Amt als Vizepräsident die Kommerzialisierung und schließlich die Privatisierung des Internets voran.

Der Grundstein für jeden ernstzunehmenden Entwurf eines Splinternets ist die Abschaffung globaler Riesenplattformen wie jener, an die wir uns in den letzten Dekaden gewöhnt haben.

Die Konsequenzen dieser Politik machen sich jetzt bemerkbar, und sogar die Verbündeten der USA zeigen sich zunehmend frustriert darüber, dass Silicon-Valley-Konzerne heute beträchtliche Teile ihrer Volkswirtschaften kontrollieren und sie dagegen kaum etwas unternehmen können, ohne den Zorn der USA auf sich zu ziehen. Dass China diesem Trend entkommen und eine heimische Tech-Industrie aufziehen konnte, die dem Silicon Valley erfolgreich die Stirn bietet, liegt nicht zuletzt an seiner Weigerung, nach US-amerikanischen Regeln zu spielen. Auch wenn der Zensuraspekt zugegebenermaßen eine wichtige Rolle für die Große Firewall spielt, ist es im Grunde eine altbewährte wirtschaftspolitische Strategie, die im Zentrum des Vorhabens steht: Indem das Land seine eigenen Tech-Unternehmen vor internationaler Konkurrenz schützte, ermöglichte es ihnen zu wachsen und ihre Fähigkeiten auf ein Niveau zu bringen, auf dem sie es mit ihren US-amerikanischen Pendants auf dem Weltmarkt aufnehmen können. Auf ähnliche Weise bauten Südkorea und Japan vor einigen Jahrzehnten ihre Elektronik- und Automobilindustrie auf – mit dem Unterschied, dass beide dabei das Plazet der USA hatten.

In Zeiten, da die USA einen protektionistischen Kurs einschlagen und politische Maßnahmen ergreifen, die sie noch vor weniger als zehn Jahren entrüstet von sich gewiesen hätten, tritt das Wesen ihrer Netzpolitik offen zutage. In Wirklichkeit ging es nie um die liberalen Ideale, mit denen das Internet dekoriert wurde, sondern um den maximalen Machtzuwachs US-amerikanischer Tech-Firmen und die damit einhergehenden Vorteile für ihr Stammland. Aller libertären Rhetorik des Silicon Valley zum Trotz profitierten von dessen globaler Expansion sowohl die Tech-Führungsriege als auch die US-Regierung, nicht nur in wirtschaftlicher Hinsicht, sondern auch sicherheitspolitisch durch ihre gigantische Überwachungsinfrastruktur. Die Partnerschaft wurde in den letzten Jahren offiziell gefestigt, als das Silicon Valley die hysterische Stimmung gegenüber der chinesischen Tech-Branche nutzte (und wohl gezielt schürte), um die Zusammenarbeit mit der US-Verteidigungsindustrie und den Sicherheitsorganen zu intensivieren.

In diesem Licht betrachtet erscheint das falsche Dilemma, vor das die USA die Welt stellen möchte, nicht besonders attraktiv – nicht für US-Amerikaner*innen und erst recht nicht für die Bürger*innen anderer Länder, deren Regierungen über noch weniger Macht verfügen, US-amerikanische Tech-Konzerne zur Rechenschaft zu ziehen. Doch die Alternative zu Amerikas Angebot liegt nicht einfach im chinesischen Gegenstück oder darin, selbst schlagkräftige nationale Konzerne aufzubauen, die demselben Modell des Datenextraktivismus gehorchen, das bereits bei der Entwicklung jener beiden Industrien Pate stand; sie liegt vielmehr darin, Dynamiken grundlegend zu hinterfragen, die das Wachstum der globalen Tech-Industrie in den letzten Jahrzehnten angetrieben haben.

Der Weg zu einem kollektiven Splinternet

Der Grundstein für jeden ernstzunehmenden Entwurf eines Splinternets ist die Abschaffung globaler Riesenplattformen wie jener, an die wir uns in den letzten Dekaden gewöhnt haben. Staaten müssen die Macht und den Einfluss dieser Unternehmen mit regulatorischen und gesetzlichen Mitteln zurückdrängen und ihren Geschäftsmodellen das Wasser abgraben, indem sie die zulässigen Methoden des Datensammelns und -nutzens begrenzen und Unternehmenstätigkeiten viel strenger kontrollieren. Höhere Steuern wären auch nicht verkehrt – eine Maßnahme, die die USA weltweit seit Jahren vereiteln. Für einzelne Staaten kann es herausfordernd sein, globale Konzerne auf nationaler Ebene zu regulieren. Gerade darum ist es so wichtig, damit anzufangen, Staatenbündnisse gegen das falsche Dilemma zu schmieden, vor das die USA die Welt stellt – und US-amerikanischen wie chinesischen Tech-Giganten in Form von Branchenvorschriften Zügel anzulegen.

Während sie die Stellschrauben anziehen, müssen sich die Regierungen über mögliche Alternativen Gedanken machen. Hier kommen Interoperabilitätsverordnungen und offene Protokolle ins Spiel, die jedoch mit Regulierungswerken und dem Aufbau einer technologischen Infrastruktur in öffentlicher Hand kombiniert werden müssen. Nach wie vor werden Nutzer*innen mit ihren Bekannten aus aller Welt kommunizieren und Inhalte austauschen wollen, und das sollte auch weiterhin möglich bleiben. In Zukunft sollte dieses Verbundsystem jedoch über Plattformen betreten werden, die auf regionaler, nationaler oder sogar lokaler Ebene entworfen und entwickelt wurden. Dadurch werden Regierungen und Communitys in viel stärkerem Maße als bisher die Funktionsweise dieser Plattformen beeinflussen und Grenzen für angemessene Inhalte bestimmen können – anstatt diese Entscheidungen einem globalen Monopolkonzern oder einer kleinen Gruppe Tech-Aficionados mit besonderen Fähigkeiten anheimzustellen –, was je nach länderspezifischer Gesetzeslage und kulturellem Kontext durchaus zu unterschiedlichen Ergebnissen führen könnte.

Beispielsweise bemühen sich Regierungen derzeit bereits vermehrt um eine Regulierung der Sozialen Medien, da sie den Folgen des bisherigen Laisser-faire-Ansatzes zunehmend ins Auge sehen müssen. Einige werden dies vielleicht als Grundrechtsbeschneidung auffassen, vor allem US-amerikanische Netzpolitiker*innen und internationale Aktivist*innen, die sich ein US-Verständnis von freier Meinungsäußerung zu eigen gemacht haben. Doch viele Länder teilen dieses Verständnis nicht und tolerieren stärkere Eingriffe. So forderte Brasilien Twitter/X auf, dem Urteil seines obersten Gerichtshofes Folge zu leisten, die Konten verhinderter rechtsextremer Putschist*innen zu sperren, während Australien darauf besteht, dass die Plattform Videoaufnahmen eines kürzlich in einer Kirche erfolgten Messerangriffs löscht. Elon Musk weigerte sich in beiden Fällen, den Aufforderungen nachzukommen und rechtfertigte den Schutz rechter Accounts mit dem Verweis auf die «Meinungsfreiheit». Insbesondere der australische Fall dient als wichtiger Indikator dafür, wie es jenseits der USA um die Macht von Staaten bestellt ist, die Tech-Plattformen regulieren wollen. Das Land fordert, dass besagte Aufnahmen nicht nur vor australischen Nutzer*innen verborgen, sondern umfassend gelöscht werden.

Die Tech-Rivalität zwischen den USA und China bietet die Gelegenheit, einen nüchternen Blick auf die technologische Landschaft der Gegenwart zu werfen und ihren Angeboten eine Abfuhr zu erteilen. Stattdessen kann ein Bündnis geschmiedet werden, das eine ganz andere gesellschaftliche und technologische Zukunft ins Visier nimmt.

Die Entwicklung dieser alternativen Plattformen sollte nicht einfach Privatunternehmen überlassen werden. Genauso wie viele Länder stets die wichtige Bedeutung öffentlicher Sendeanstalten anerkannt haben, sollte nun auch der in Bezug auf das Internet bisher vorherrschende neoliberale Konsens aufgebrochen und sollten öffentliche Einrichtungen mit dem Auftrag geschaffen werden, Technologien zu entwickeln, die dem Interesse der Allgemeinheit dienen – und nicht denen von Gründer*innen und Aktionär*innen. Dan Hinds Vorschlag für eine British Digital Cooperative (dt.: Britische Digitalgenossenschaft) aus dem Jahr 2019 ist für mich bislang der vielversprechendste Schritt in diese Richtung. Seine Vision sieht die Einrichtung einer öffentlichen Genossenschaft vor, die nicht nur eine Soziale-Medien-Plattform, sondern auch nichtkommerzielle Alternativen in den Bereichen Zahlungsabwicklung, Bürosoftware und weiterer notwendiger digitaler Dienstleistungen entwickeln würde, um auf diese Weise von den Kapitalanleger*innen unabhängig zu werden. Die Kooperative hätte nicht nur eine Zentrale in der Hauptstadt, sondern Ableger im ganzen Land – nach dem Vorbild von Bibliotheken, vielleicht sogar im Verbund mit ihnen –, die den Zugang zu Technologie und öffentlichen Bildungsangeboten ermöglichen würden, während sie von ihren Communitys benötigte Software und Anwendungen erarbeiten.

Ausgehend von Hinds Entwurf könnte die Soziale-Medien-Plattform auf eine Weise mit dem Verbundsystem gekoppelt werden, die den Werten des jeweiligen Landes oder der jeweiligen Community gerecht wird. Die Genossenschaften aller Hoheitsgebiete können ihre Plattformen jeweils so ausgestalten, dass sie zu ihren Bedürfnissen passen – und gleichzeitig nach wie vor mit allen anderen Nutzer*innen des Dienstes kommunizieren. Denkbar ist auch, dass sich Genossenschaften im nationalen oder internationalen Rahmen für größere Projekte wie die Entwicklung von Bürosoftware oder andere technologischen Vorhaben zusammentun und ihre Ressourcen so im Sinne des Gemeinwohls bündeln.

Die Bewegung müsste außerdem von Grund auf internationalistisch sein – und nicht einfach etwas Neues entwickeln, nur damit sich weiterhin ein paar Staaten auf Kosten der anderen bereichern, wie im bisherigen Modell. Juan Ortiz Freuler regte 2020 eine digitale Bewegung der blockfreien Staaten des globalen Südens an, die einen neuen technologischen Pfad einschlagen und sich dabei von jenen Ländern inspirieren lassen könnte, die sich während des Kalten Krieges dem Druck widersetzten, sich dem US-amerikanischen Kapitalismus oder dem sowjetischen Kommunismus zuzuordnen. Da die Mittel ungleich verteilt sein werden, sollten die wohlhabenderen Länder ihre Arbeitsergebnisse den ärmeren – kostenlos – zugutekommen lassen, deren öffentliche Genossenschaften sich ihrerseits bemühen, die Bedürfnisse ihrer Bevölkerungen zu befriedigen. Die Mitgliedsstaaten dieses Bündnisses könnten sich darüber hinaus über die Lehren austauschen, die sie aus Erfolgen und Misserfolgen bei ihrem Versuch gezogen haben, die Tech-Monopole der Gegenwart besser im Zaum zu halten.

Doch nicht die gesamte Arbeit kann auf lokaler oder nationaler Ebene stattfinden. Da die kommunikative Infrastruktur sich über Grenzen und internationale Gewässer hinweg erstreckt, wird es ohne ein gewisses Maß an internationaler Steuerung nicht gehen. Anregung dafür könnte der 1874 gegründete Weltpostverein bieten, der heute als Sonderorganisation der UNO den globalen Postverkehr koordiniert und Gebührenordnungen für grenzüberschreitende Sendungen regelt. Eine Weltinternetvereinigung könnte das globale Seekabelnetz verwalten, statt diese Aufgabe privaten Unternehmen (und in zunehmendem Maße Tech-Monopolen) anzuvertrauen, sowie die Überführung von Technologie und Software in die Hand der Allgemeinheit überwachen. Das wäre ein ganz anderer Ansatz der Steuerung des Internets und der Entwicklung digitaler Technologien – und genau so etwas brauchen wir heute.

Die Kontrolle über die Technologie zurückerobern

Auf dem Weg zum Splinternet stellen sich auch Hindernisse ein. Die Tech-Libertären, deren Erzählungen das landläufige Verständnis des Internets seit dessen Kommerzialisierung prägen, werden in jedem Szenario, das die Rolle des Staates stärkt, einen Haufen Probleme ausfindig machen – obwohl viele von ihnen noch immer nicht einsehen wollen, dass ihre eigenen Ideen das Internet der Konzerne und die vielen daraus entsprungenen Probleme mit ermöglicht haben. Die größere Herausforderung liegt jedoch auf dem Feld der Anreize und der Wirtschaftspolitik.

Die Technologiepolitik vieler Regierungen folgt gegenwärtig der Maßgabe ökonomischer Ertragsmaximierung. Selbst wenn sie vorgeblich gegen die Tech-Monopole durchgreifen wollen, halten sie sich meist zurück, wenn es darum geht, an das grundlegende Wirtschaftsmodell der Branche zu rühren, da die Tech-Branche ein so großer Geldmagnet ist. Die europäische Technikregulierung wurde in den vergangenen Jahren zwar als vorbildlich gelobt, doch sie zielte weitgehend darauf, US-amerikanische Tech-Firmen stärker an die Leine zu nehmen, um aufstrebenden heimischen Wettbewerbern nun ihrerseits ansehnliche Geschäfte zu ermöglichen – und nicht, um generell mit dem ausbeuterischen Modell Schluss zu machen. Das falsche Dilemma der USA aus- und einen alternativen Weg einzuschlagen, bedeutet jedoch genau das: auf wirtschaftliche Gewinne zu Gunsten demokratischer Kontrolle und sozialer Errungenschaften zu verzichten.

Das Großartige an diesem Modell ist unter anderem, dass es dem Silicon Valley und einer kleinen Zahl über den Globus verstreuter Knotenpunkte ihr Monopol über die technologische Entwicklung entreißen und diese in einen viel demokratischeren Vorgang verwandeln würde, der sich fortan an den Bedürfnissen der Allgemeinheit sowie von Communitys und nicht länger an den Interessen von Risikokapitalgeber*innen und der Börse ausrichten würde. Ein kollektives Splinternet nach dem Vorbild der vielerorts existierenden öffentlichen Medienanstalten – die oft aus dem Staatshaushalt finanziert werden – eröffnet einen Ausblick auf eine Welt, in der die US-amerikanischen Tech-Monopole zurückgedrängt und lokale Innovation erstmals seit dem globalen Siegeszug des Silicon Valley wieder zu einem greifbaren Ziel würde.

Ist das Splinternet der perfekte Plan? Sicher hat auch er seine Schwächen. Aber das Silicon Valley hat viel zu lange viel zu viel Macht darüber ausgeübt, wie wir über Technologie nachdenken und mit ihr umgehen. In dieser Situation hilft es uns auch nicht weiter, zur Abwechslung einfach Shenzhen freie Bahn zu lassen. Die Tech-Rivalität zwischen den USA und China bietet die Gelegenheit, einen nüchternen Blick auf die technologische Landschaft der Gegenwart zu werfen und ihren Angeboten eine Abfuhr zu erteilen. Stattdessen kann ein Bündnis geschmiedet werden, das eine ganz andere gesellschaftliche und technologische Zukunft ins Visier nimmt, den US-amerikanischen Tech-Milliardär*innen die Tür weist, Staaten größere Souveränität über ihre technologischen Entscheidungen verschafft und einen viel dezentraleren Innovationsansatz verfolgt.

Nach drei Jahrzehnten kommerzialisiertem Internet ist es an der Zeit, die Kontrolle zurückzugewinnen.

Übersetzung von Maximilian Hauer und André Hansen für Gegensatz Translation Collective.