News | Parteien / Wahlanalysen - USA / Kanada Wer ist Kamala Harris?

Mit der neuen demokratischen Kandidatin sind die Chancen gestiegen, Trumps Rückkehr in Weiße Haus zu verhindern. Von Stefan Liebich

Kamala Harris Foto: picture alliance/ASSOCIATED PRESS/Stephanie Scarbrough

Ginge es nach der Präsenz auf TikTok, wäre Kamala Harris bereits US-Präsidentin. Dort erscheinen derzeit nämlich unzählige Videos, in denen sie tanzt, lacht oder sonstwie auftritt. In der sehr jungen TikTok-Zielgruppe läuft es also für sie.

Stefan Liebich leitet das Büro der Rosa-Luxemburg-Stiftung in New York City.

Aber wie sieht es in der analogen Wirklichkeit aus? Wer ist die Vizepräsidentin der USA, die auf dem Parteitag der Demokraten Mitte August als Präsidentschaftskandidatin nominiert werden soll? Und welche Chancen hat sie, Donald Trumps Rückkehr ins Weiße Haus zu verhindern?

Tochter eingewanderter Eltern

Die 59-jährige Harris kam im kalifornischen Oakland zur Welt. Ihre Mutter, Shyamala Gopalan, eine tamilische Krebsforscherin, war aus Indien in die USA eingewandert. Dort lernte sie Kamalas Vater, Donald J. Harris, kennen, der zuvor aus Jamaika ins Land gekommen war.

Beide Eltern engagierten sich in der Bürgerrechtsbewegung der 1960er Jahre. Die Vizepräsidentin schrieb in ihrer Autobiografie, dass sie damals im Kinderwagen bei den Demonstrationen gegen die Rassentrennung dabei gewesen sei. Ihr Vater, ein oft als «marxistisch» charakterisierter Ökonom, verließ die Familie nach der Trennung der Eltern, als Kamala fünf Jahre alt war, blieb aber Teil ihres Lebens. (Ob Karl Marx dabei eine Rolle spielte, ist nicht überliefert.)

Eine prägende Erfahrung machte die junge Kamala bereits während ihrer Schulzeit. Sie sprach darüber in der Debatte mit Joe Biden, als sich beide 2020 um die Präsidentschaftskandidatur der Demokraten bewarben: Da viele Schulbezirke damals (wie allerdings auch heute noch) die Rassentrennung der Nachbarschaften widerspiegelten, wurden Schulkinder mit Bussen in andere Bezirke gefahren, um für mehr Integration und Fairness zu sorgen (das sogenannte busing). Weiße Segregationsbefürworter*innen wehrten sich dagegen und wurden dabei auch von Joe Biden unterstützt. Harris sagte in der Debatte, an Biden gewandt: «Es gab damals ein kleines Mädchen in Kalifornien, das in der zweiten Klasse war, das jeden Tag mit dem Schulbus zur Schule gebracht wurde, als unsere öffentlichen Schulen ‚integriert‘ wurden. Und dieses kleine Mädchen war ich.»

Die Staatsanwältin

Später lebte Harris mit ihrer Familie in Kanada, bevor sie für ein Studium der Politikwissenschaft und Wirtschaft in die Hauptstadt Washington zog. Nach ihrem Abschluss studierte sie Rechtswissenschaften in San Francisco. Dort arbeitete Harris anschließend in der Staatsanwaltschaft und in der öffentlichen Verwaltung.

Im Jahr 2003 kandidierte Kamala Harris zum ersten Mal für ein politisches Amt, und zwar als Bezirksstaatsanwältin in San Francisco. Sie trat gegen den Amtsinhaber an, gewann und gelangte so als erste Person of Color in dieses Amt.

Acht Jahren später bewarb sie sich dann als Generalstaatsanwältin von Kalifornien. Erneut gewann sie und war auch hier die erste Person of Color (und erste Frau) im Amt.

Die politische Bewertung dieser Zeit ist aus linker Sicht durchaus gemischt. Harris setzte sich für Prävention ein und stellte sich gegen die Todesstrafe, machte in der Praxis aber kritikwürdige Ausnahmen. Sie trat für die gleichgeschlechtliche Ehe und stärkere Waffenkontrollen ein, sprach sich aber auch für die Verschärfung von Gesetzen gegen Schulverweigerung, bis hin zu Haftstrafen gegen die Eltern, aus. Ihre Kritiker*innen monieren, sie habe sich zu wenig gegen Polizeigewalt und für die Legalisierung von Drogen eingesetzt. Manche Linke bezeichnen die ehemalige Staatsanwältin bis heute polemisch als «Cop», also als Polizistin.

Die Senatorin

2015 bewarb Harris sich für den US-Senat. Mit Unterstützung des damaligen Präsidenten Barack Obama und seines Vizepräsidenten Joe Biden gewann sie ihren Platz in der mächtigen Kammer des US-Kongresses, der sie später als Vizepräsidentin vorsitzen sollte.

In ihrer Zeit als Senatorin machte sie immer wieder als scharfzüngige Abgeordnete auf sich aufmerksam. Als Donald Trump 2016 unmittelbar nach seinem Amtsantritt als 45. Präsident der USA ein Einreiseverbot für Personen aus vielen muslimisch geprägten Ländern erließ («Muslim Ban»), war sie so verärgert, dass sie dessen Stabschef im Weißen Haus privat anrief, um ihn von diesem Vorhaben abzubringen. Geradezu legendär wurde ihre Frage an den konservativen Abtreibungsgegner Brett Kavanaugh, der von Trump als Richter am Obersten Gerichtshof vorgeschlagen worden war, während der Senatsanhörung über seine Bestätigung: «Können Sie sich an irgendwelche Gesetze erinnern, die der Regierung die Macht geben, Entscheidungen über den männlichen Körper zu treffen?» Die engagierte Verteidigerin des Rechts auf Abtreibung verärgerte damit den damaligen Präsidenten Trump: «Sie war so gemein [zu Kavanaugh], das war einfach schrecklich […] und das werde ich so schnell nicht vergessen».

Außerdem unterstützte Harris die Initiative des linken Senators Bernie Sanders aus Vermont für «Medicare for all», also eine allgemeine Krankenversicherung für alle. Seine populäre Forderung, das ungerechte Gesundheitssystem von Grund auf zu erneuern, wurde während des Präsidentschaftswahlkampfs 2020 zu Sanders’ Markenzeichen. Nachdem Harris – wie viele andere – dafür ihren Hut in den Ring geworfen hatte, schwächte sie ihre Position bald jedoch wieder ab. Trotz einiger bemerkenswerter Auftritte zündete ihr Wahlkampf nicht so recht, und noch ehe die erste Vorwahl in Iowa stattfand, beendete sie ihre Kampagne und unterstützte den späteren Sieger Joe Biden.

Die erste Vizepräsidentin

Dass Joe Biden Kamala Harris zu seiner Vizepräsidentschaftskandidatin machte, löste bei vielen Demokraten geradezu Begeisterung aus: Eine Woman of Color in dieser Position war etwas Neues und ein Zeichen, auf das viele gewartet hatten.

Allerdings wurde Harris den hohen Erwartungen im Amt der Vizepräsidentin nicht gerecht. Manche sagen, es habe daran gelegen, dass Joe Biden ihr nicht genügend Spielraum gelassen habe – ein grundsätzliches Problem der Vizepräsidentschaft. Andere wiederum verweisen auf die Probleme der Personalführung, die sie im Amt gehabt habe, wie einige Wechsel in ihrer Umgebung nahelegen. Fest steht, dass sie dem Präsidenten wiederholt unangenehme Aufgaben abnehmen musste, allen voran jene, sich um die Migration an der Grenze zu Mexiko zu kümmern. Das gab naturgemäß keine positiven Schlagzeilen, im Gegenteil: Die Rechten kritisierten, dass sie viel zu wenig tue, um die Einwanderung zu unterbinden, und die Linken monierten ihre Aufforderung an jene, die sich in den USA ein besseres Leben versprechen: «Don’t come!» (Kommt nicht!)

Als Teil der Biden-Regierung trägt Harris eine Mitverantwortung für deren Entscheidungen. Dazu zählen außenpolitisch etwa das Ende des US- bzw. NATO-Kriegs in Afghanistan sowie die militärische Unterstützung der Ukraine und Israels. Innenpolitisch zu nennen sind das große Infrastrukturpaket (Inflation Reduction Act), der Kampf für das Wirtschafts- und Sozialprogramm «Build Back Better» (das nur teilweise durchgesetzt werden konnte) und die Streichung von Schulden aus Studiengebühren für Millionen Menschen.

Als die Stimmen innerhalb der Demokratischen Partei immer lauter wurden, die Joe Biden nach seiner verunglückten Fernsehdebatte mit Donald Trump den Rückzug nahelegten, hielt Harris öffentlich zu ihm. Laut Medienberichten wurde auch sie erst kurz vor der offiziellen Verkündung der Entscheidung des Präsidenten per Zoom-Call informiert. Biden sprach sich dann in der Erklärung seines Rückzugs für ihre Präsidentschaftskandidatur aus.

Die Präsidentschaftskandidatin

Die Nachricht wirkte wie eine Befreiung – und der Zeitpunkt ihrer Verkündung hätte nicht besser gewählt sein können. Denn Bidens Rückzug erfolgte am Tag nach dem Parteitag der Republikaner, auf dem Trump und dessen Vizekandidat, James D. Vance, nominiert worden waren. Während die republikanischen Granden noch siegesgewiss Zuversicht ausstrahlen wollten, zerplatzte die Aufmerksamkeitsblase. Plötzlich waren alle Augen nicht mehr auf Trump, sondern auf Harris gerichtet.

In den folgenden Tagen versammelten sich nicht nur zahlreiche Parteigrößen, sondern auch die Mehrheit der Parteitagsdelegierten hinter Harris. Bei ihren ersten Wahlkampfauftritten als Präsidentschaftskandidatin herrschte eine Aufbruchsstimmung, die Joe Biden zuletzt nicht mehr zu erzeugen vermochte.

Dies bestätigt Tom Erdmann, der langjährige Berliner Landesvorsitzende der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW), der an Harris’ Wahlkampfauftritt bei der mit 1,8 Millionen Mitgliedern einflussreichen Lehrergewerkschaft American Federation of Teachers (AFT) in Houston teilnahm: «Sie wusste genau, vor wem sie sprach. Sie sagte, dass sie ein ‚Produkt‘ des öffentlichen Schulsystems sei», erklärt er. Als Vizepräsidentin habe sie die Task Force der Biden-Regierung geleitet, mit der die Rechte der Gewerkschaften und ihrer Mitglieder gestärkt worden seien. «Sie griff Trump und sein Project 2025 an», berichtet Erdmann. «Statt die von der breiten amerikanischen Öffentlichkeit geforderten Einschränkungen für Sturmgewehre mitzutragen, fordern die Republikaner, dass Lehrkräfte im Unterricht Waffen tragen, und wollen Tausende Buchtitel aus den Schulen verbannen. Aus Sicht der AFT und des Dachverbandes AFL-CIO ist die Biden/Harris-Regierung die gewerkschaftsfreundlichste Regierung seit mehr als einem halben Jahrhundert.»

Dennoch darf man sich von all der Euphorie, die derzeit aufkommt, nicht täuschen lassen. Kamala Harris ist keineswegs, wie Trump behauptet, «eine Sozialistin», sondern eine liberal, nach europäischen Standards: eine moderate Sozialdemokratin – nicht mehr, aber auch nicht weniger. Sie kommt aus einem demokratisch dominierten Bundesstaat (Kalifornien) und muss die Wechselwähler*innen in den Swing-States gewinnen, in denen die Wahl aufgrund der Besonderheiten des US-amerikanischen Wahlsystems (Electoral College) letztlich entschieden wird. Zugleich darf sie die progressive Klientel der Demokraten nicht aus den Augen verlieren. Die New York Times schreibt: «Progressive mögen Harris wegen ihres Rufs als harte Verbrechensbekämpferin kritisieren, den sie sich als Bezirksstaatsanwältin von San Francisco erworben hat. Aber für die Teile des Landes, die diese Wahl entscheiden werden, ist sie eine Linke aus der Bay Area, deren Überzeugungen […] vielen Amerikaner*innen ein Gräuel sind.»

Auf der linken Seite des politischen Spektrums fordert Bernie Sanders, der Joe Biden bis zuletzt verteidigt hatte, von Harris eine progressive Politik: «Ich freue mich, sie nach Kräften zu unterstützen. Aber ich denke auch, dass sie sich, wenn sie gewinnen will, auf die Notlage der amerikanischen Arbeiterschaft konzentrieren und konkrete Vorschläge machen muss, wie sie damit umgehen will, dass 60 Prozent unserer Bevölkerung gerade so über die Runden kommen.»

Ob es ihr gelingt, hier die richtige Balance zu finden, werden die kommenden Wochen zeigen. Der Start ist ihr jedenfalls gelungen. Die ersten Umfragen zeigen, dass Harris, im Vergleich zu Joe Biden, an Zustimmung gewinnen konnte. Gerade bei jungen Menschen hat sie zugelegt. Aber, und das gehört zu einer realistischen Einschätzung dazu, Wahlen werden eben nicht bei TikTok entschieden. Und noch scheint Trump knapp vorne zu liegen.

Es bleiben noch fast hundert Tage Zeit, das zu ändern. Entschieden ist noch nichts, aber die Aussichten, dass es gelingen kann, Trumps Rückkehr ins Weiße Haus zu verhindern, sind mit Kamala Harris wieder gestiegen.