News | Krieg / Frieden Was bedeutet die geplante Stationierung von US-Raketen in Deutschland?

Die Fakten

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Im August 2019 – unmittelbar nach Auslaufen des INF-Vertrags – testete die US-Armee erstmals den Bodenstart eines Tomahawk-Marschflugkörpers. Eine Variante des Waffensystems soll ab 2026 in Deutschland stationiert werden. Foto: US-Verteidigungsministerium / gemeinfrei

Am Rande des NATO-Gipfels in Washington veröffentlichten die USA und Deutschland am 10.07.2024 eine gemeinsame Erklärung, die die Stationierung US-amerikanischer Waffensysteme ab 2026 in Deutschland ankündigte. Während der Bundeskanzler und der Verteidigungsminister von einer länger geplanten Aktion sprachen, die im Rahmen einer angekündigten Multi-Domain Task Force (MDTF) stattfinden soll, beklagten andere die überraschende Ankündigung ohne vorherige öffentliche und demokratische Debatte.

Xanthe Hall ist Geschäftsstellenleiterin der deutschen Sektion der IPPNW. Juliane Hauschulz ist Referentin für Atomwaffen bei der der IPPNW und Mitglied im Vorstand von ICAN Deutschland.

Das gemeinsame Statement umfasst drei Waffensysteme, die in Deutschland stationiert werden sollen: die Kurzstreckenrakete SM-6, US-Marschflugkörper des Typs Tomahawk sowie Hyperschallraketen. Die Kurzstreckenrakete SM-6 ist ein Lenkflugkörper, der hauptsächlich für die Raketenabwehr eingesetzt wird. Die moderne Version, welche in Deutschland stationiert werden soll, ist jedoch für den Einsatz gegen Ziele am Boden umgerüstet. Der US-Marschflugkörper des Typs Tomahawk steht in der für die hiesige Stationierung vorgesehenen Version derzeit erst in der Endphase der Entwicklung und ist eine landgestützte, weitreichende Rakete. Die Hyperschallwaffen hingegen sollen sich noch im Entwicklungsstadium befinden. Wie viele Waffen kommen sollen und wo genau diese stationiert werden, ist noch nicht bekannt.

Kommen jetzt neue Atomraketen nach Deutschland?

In den vergangenen Wochen sorgte vor allem die angekündigte Stationierung der Tomahawks für Diskussionen. In den 1980ern war eine nuklearfähige Version dieser Marschflugkörper im Zuge des NATO-Doppelbeschlusses nach Deutschland verlegt worden. Gemeinsam mit den atomaren Mittelstreckenraketen vom Typ Pershing-II bildeten sie den Kern der sogenannten Nachrüstung, als Antwort auf die sowjetische Stationierung von SS-20-Raketen. Im Gegensatz zu damals umfasst der jetzige Beschluss ein neues Modell des Tomahawks, welches sich ausschließlich konventionell bewaffnen lässt. Die Entwicklung und Produktion neuer atomarer Sprengköpfe für die nach Deutschland kommenden Tomahawks ist nicht geplant.

Bei den Hyperschallwaffen wird vermutlich ebenfalls eine bodengestützte Variante in Deutschland stationiert werden. Diese Gleitflugrakete, auch „Dark Eagle“ genannt, hat eine Reichweite von 2.800 Kilometern und gehört damit nach INF-Definition zu den Langstreckenraketen. Auch diese US-Waffen werden derzeit nur konventionell bestückt. Im Gegensatz zu den russischen Hyperschallwaffen, welche auch mit atomaren Sprengköpfen versehen werden können.

Die nukleare Dimension

Neue Atomraketen sollen nach aktueller Planung nicht in Deutschland stationiert werden. Allerdings parallel zu dieser Entwicklung sieht die nukleare Teilhabe der NATO vor, dass die bisher in Deutschland stationierten, alten Atombomben durch die neuen B61-12 Atomwaffen ersetzt werden. Die Stationierung der neuen konventionellen Waffensysteme ist jedoch ein weiterer Schritt im aktuellen Rüstungswettlauf und erhöht das nukleare Risiko. Denn sowohl die Tomahawks als auch die Hyperschallwaffen könnten tief in russisches Staatsgebiet eindringen und nukleare Infrastruktur oder Teile des russischen Atomwaffenarsenals angreifen. Die Vorwarnzeiten schrumpfen bei dem Einsatz von Hyperschallraketen, sodass Entscheidungen innerhalb von Minuten getroffen werden müssen. Im schlimmsten Fall kann das zu einer „Use them or lose them“-Situation führen, in der die Entscheidung getroffen wird, das eigene nukleare Arsenal abzufeuern, bevor es von der gegnerischen Seite in einem Erstschlag zerstört wird. Damit wird die Gefahr von katastrophalen Missverständnissen und Fehlkalkulationen erhöht. Ein solches Szenario mag momentan noch weit entfernt erscheinen, doch die angekündigte Stationierung der neuen Waffensysteme bringt uns dieser Bedrohung ein gutes Stück näher.

Abschreckung und Wettrüsten

Laut Bundesverteidigungsminister Boris Pistorius ist die geplante Stationierung der US-Waffensysteme notwendig, um „eine Fähigkeitslücke in Europa zu schließen  und die konventionelle Abschreckung zu erhöhen. Es ginge darum, mit Russland gleichzuziehen, das bereits Mittelstreckenwaffen stationiert hat. Die NATO verfügt jedoch bereits über luft- und seegestützte Waffensysteme, die operative Ziele tief innerhalb Russlands erreichen können.

Pistorius’ Aussage blendet zudem die Aufrüstungsdynamik zwischen den USA und Russland aus. Jede Aktion führt zu einer Reaktion. Denn Abschreckung erfordert immer auch die Planung einer möglichen Kriegsführung, um glaubwürdig zu sein. Diese Planung erhöht die Bedrohung für die Gegenseite und zwingt sie zur Aufrüstung, um die eigene Abschreckung zu stärken. Diese Dynamik führt zu einem Teufelskreis des Wettrüstens, welcher nur durch bewusste Entscheidungen durchbrochen werden kann.So reagierte Russland auf die Ankündigung der NATO, die besagten US-Waffensysteme in Deutschland zu stationieren, mit der Drohung, europäische Hauptstädte anzugreifen.

Den derzeitigen Rüstungswettlauf auszublenden oder zu verharmlosen, behindert die dringend nötige demokratische Diskussion der Entscheidung.

Der NATO-Doppelbeschluss und der INF-Vertrag

Die gemeinsame Erklärung von Deutschland und den USA zur Stationierung von US-Waffensystemen in der Bundesrepublik verstärkt die nukleare Gefahr und heizt das derzeitige Wettrüsten weiter an. An vielen Stellen wurde sie mit dem NATO-Doppelbeschluss von 1979 verglichen. Pistorius weist das als unpassend zurück. Der Vergleich ist jedoch durchaus angemessen, wenn man das atomare Eskalationsrisiko bedenkt, welches die heutigen Stationierungspläne bergen. Damals wurde der russischen Seite ein Dialogangebot gemacht – diese Chance wurde dieses Mal verpasst. Die derzeitige Situation lässt zwar wenig Hoffnung auf Abrüstungsverhandlungen. Dennoch wäre eine längerfristige Perspektive wichtig gewesen.

Auch damals führte der NATO-Doppelbeschluss nicht direkt zu Verhandlungen: Es waren die öffentlichen Diskussionen über die nukleare Gefahr und die darauf aufbauenden Proteste, die dazu führten, dass Michail Gorbatschow sechs Jahre später, im Jahr 1985, Abrüstungsgespräche anstieß. Aus den Gesprächen ging der INF-Vertrag hervor, der die Vernichtung aller landgestützten nuklearen Mittelstreckensysteme der USA und der Sowjetunion ermöglichte. Der Vertrag war ein Durchbruch für die nukleare Abrüstung und erhöhte die Sicherheit Europas maßgeblich. 2019 wurde der INF-Vertrag von den USA unter der Trump-Administration gekündigt. Russland wurde vorgeworfen, neue Waffensysteme zu entwickeln, die gegen den Vertrag verstießen. Diese Sicht wird von verschiedenen Expert*innen gestützt. Die USA haben ihre Beweise jedoch nie offengelegt. Auch Russland bezichtigt die USA des Vertragsbruchs. Mit dieser neuen Stationierung ist wohl auch die letzte Hoffnung für ein Wiederbeleben des INF-Vertrags endgültig vom Tisch.

Fazit: Die ohnehin angespannte Situation wird durch die angekündigte Stationierung der US-Waffensysteme in Deutschland weiter verschärft. Zwar werden keine neuen Atomraketen in Deutschland stationiert, doch die Präsenz der Hyperschallwaffen und Tomahawks erhöht die nukleare Gefahr durch katastrophale Missverständnisse und trägt massiv zum Rüstungswettlauf bei.