News | Soziale Bewegungen / Organisierung - Ostafrika Gen-Z kapert Kenias Politik

Nach den Protesten fordert die Jugendbewegung die Machthabenden weiter heraus

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Protesters shout slogans as they participate in an anti-government demonstration in Nairobi, Kenya, 16 July 2024.
Protesters shout slogans as they participate in an anti-government demonstration in Nairobi, Kenya, 16 July 2024. Photo: IMAGO / ZUMA Press Wire

Kenia steht wie viele seiner ostafrikanischen Nachbarländer vor zahlreichen politischen, sozialen und ökonomischen Herausforderungen. Im letzten Jahrzehnt des Booms verteilen sich derweil die größten Profite einer der am schnellsten wachsenden afrikanischen Wirtschaftsregionen auf eine kleine Elite. Globale Finanzinstitutionen wie der Internationale Währungsfonds haben der Regierung eine neoliberale Wirtschaftspolitik aufgedrängt, in deren Zuge Staatsausgaben gekürzt und die Steuern auf Konsumgüter erhöht wurden. Dabei geben Durchschnittskenianer*innen bereits mehr als die Hälfte ihres Einkommens allein für Lebensmittel aus.

Julie Kamau von der Geschäftsstelle für Gender und Agrarökologie beim Seed Savers Network Kenya. 

Irene Asuwa, Aktivistin, von der African Progressive Librarian and Information Activists’ Group der Ukombozi Bibliothek in Nairobi, Kenia.

Die als Generation Z oder «Gen-Z» bezeichnete neue demografische Gruppe der zwischen 1997 und 2012 Geborenen schrecken diese Herausforderungen nicht. Gen-Z ist gut gebildet, politisch informiert, tech-affin und hat eine pulsierende politische Bewegung ins Leben gerufen, die Kenias Mangel an ökonomischen Perspektiven, die steigenden Lebenshaltungskosten und die von den politischen Eliten ungehemmte Korruption anprangert. Im vergangenen Juni löste die Regierung mit der Verabschiedung eines umstrittenen Steuergesetzes Massendemonstrationen aus, die rasch tödlich wurden. Die Demonstrant*innen ließen nicht locker und forderten schließlich den Rücktritt des kenianischen Präsidenten William Ruto.

Zwar beruhigten sich die Proteste, ohne den Rücktritt Rutos erzwingen zu können, aber die Bewegung der Generation Z bleibt weiter aktiv und könnte eine vielversprechende neue Kraft in der politischen Landschaft Kenias werden. Samuel Kasirye von der Rosa-Luxemburg-Stiftung sprach mit den kenianischen Aktivist*innen Julia Kamau und Irene Asuwa über den Stand der Dinge in der kenianischen Politik drei Monate später und die Zukunftsaussichten der Bewegung.

In diesem Sommer gab es in ganz Kenia ausufernde Proteste gegen das geplante Steuergesetz. Könnt ihr etwas mehr zu diesem Gesetz sagen? Warum hat es einen solchen Aufstand provoziert?

JK: Die Demonstrationen der Generation Z wurzeln in unzähligen ökonomischen und politischen Fehlern, die sich über Jahrzehnte angestaut haben. Aber der Auslöser für die tödlichen Unruhen im Juni war die Verabschiedung des inzwischen zurückgezogenen Steuergesetzes von 2024, mit neuen Steuererhöhungen, die die Lebenshaltungskostenkrise weiter verschärft hätten.

Mit diesem Steuergesetz wollte die kenianische Regierung zusätzliche 2,7 Milliarden US-Dollar eintreiben, um Lücken im Haushalt auszugleichen und Kredite zu tilgen. Von diesen Steuern wären Grundnahrungsmittel wie Maismehl, Speiseöl, Brot und andere Güter des täglichen Bedarfs wie Hygieneartikel betroffen gewesen.

IA: Neben dem Steuergesetz hat die kenianische Regierung auch einige bürger*innenfeindliche Gesetzesentwürfe ins Parlament eingeführt, wie die kontrovers diskutierte Reform der Grundbesitzgesetze, das Versammlungs- und Demonstrationsgesetz und die Verordnungen zum Emissionshandel. Mit den Gesetzesentwürfen sollte das Recht der Menschen auf Land, Nahrung, Lebensunterhalt und Versammlungsfreiheit eingeschränkt werden. Das fehlende Feingefühl bei der Einführung des Steuergesetzes, eine Reihe von unbeliebten Gesetzesentwürfen und die sich hinziehenden Streiks im öffentlichen Dienst bildeten einen fruchtbaren Boden für Demonstrationen.

Die Proteste wurden vorwiegend von jungen Menschen organisiert. Wie sahen Organisationen und Netzwerke hinter den Protesten aus? Was, denkt ihr, sagt uns das über die politische Opposition in Kenia heute? Wie unterscheidet sie sich von früheren Protestwellen?

JK: Die Gen-Z-Demonstrationen haben eine parteilose, stammesunabhängige und furchtlose Identität angenommen. Anders als bei vorhergehenden Aktionen kam ein Großteil der Akteur*innen dieses Mal aus der jungen, gebildeten Mittelklasse – einer in Kenia ursprünglich privilegierten sozioökonomischen Klasse – die zunehmend schwindenden Aufstiegschancen entgegensieht.

IA: Die Jugendbewegung gehört zu keiner der etablierten politischen Gruppen und ihre Protestaktionen haben dieses Mal die großstädtischen Grenzen von Nairobi, Mombasa und Kisumu überschritten.

Die politische Aktionsform wurde völlig demokratisiert – das Handeln wurde nicht den am meisten benachteiligten jungen Menschen und Aktivist*innen überlassen. Zum ersten Mal lösten junge Menschen Verbindungen zu Unternehmen und führenden Persönlichkeiten, die sie für mitschuldig an den kenianischen Regierungsproblemen hielten.

Einzigartig war auch das gestiegene Gefühl der Solidarität und Kompliz*innenschaft. Junge Menschen leisteten Verletzten medizinische Hilfe in einer Versorgungsstelle auf dem Gelände, gaben kostenlosen Rechtsbeistand und betrieben Fundraising für bei den Protestaktionen gebrauchte medizinische und finanzielle Mittel. Was den Zustand der politischen Opposition Kenias angeht, können wir im Moment nicht von einer offiziellen politischen Opposition sprechen – die Bevölkerung selbst hat die Rolle der Opposition eingenommen.

Anfangs reagierte die kenianische Regierung brutal auf die Proteste. Wie kam es zum Sinneswandel von Präsident Ruto, und welche wesentlichen politischen Veränderungen konnten die Demonstrationen bewirken?

JK: Die Proteste der Generation Z waren ziemlich spontan geartet, Regierung und Sicherheitskräfte hatten mit einem so einen großen Aktionsradius innerhalb des Landes nicht gerechnet. Anfangs reagierte die Polizei brutal, tötete mehr als 40 Demonstrant*innen und verletzte über 300.

Es ist aber wichtig, nicht nur ein Ende des Regimes zu fordern, sondern auch an einer Alternative zu arbeiten, die die Bürger*innen in den Mittelpunkt stellt – an einem neuen, progressiven Gesellschaftsvertrag, der Kenias kapitalistisches Wirtschafts- und Politiksystem umstrukturiert.

Durch internen und externen Druck zog Präsident Ruto das Steuergesetz zurück, entließ alle Mitglieder seines Kabinetts und ernannte ein neues, in dem auch seine Hauptkritiker*innen vertreten waren. Ruto wechselte seine Strategie und setzte die sozialen Medien ein, um die jungen Menschen zu erreichen. Zu dieser Zeit hatten die Demonstrant*innen sogar den Rücktritt des Präsidenten gefordert, und es gelang ihm mit seinem Vorgehen, das politische Klima zu beruhigen.

Vor den Unruhen war Kenia von Seiten der USA und EU für seine demokratische Reputation gelobt worden und ist im Mai 2024 sogar als ein zentraler Verbündeter abseits der NATO eingestuft worden. Welche Folgen für diese Beziehungen könnte die Reaktion des Präsidenten auf die Demonstrationen haben?

IA: Rutos Beziehung zu den USA und der Europäischen Union ist nach den Gen-Z-Demonstrationen unverändert und zur normalen Tagesordnung zurückgekehrt. Auf die starken Verletzungen der Bürger*innenrechte während dieser Demonstrationen haben weder die USA noch die EU reagiert. Junge Menschen haben ihr Leben verloren oder werden vermisst, Entführungen wurden registriert und doch gibt es weiterhin keine ernsthafte Kritik an Präsident Ruto vonseiten der westlichen Verbündeten.

Tatsächlich beobachten wir vermehrt prowestliche Initiativen der Regierung und ein Bemühen um ausländische Direktinvestitionen. Deutschland und Kenia haben beispielsweise im September dieses Jahres ein Partnerschaftsabkommen über Migration und Mobilität abgeschlossen, das es verhältnismäßig gut ausgebildeten Kenianer*innen erlaubt, nach Deutschland zu kommen und dort in verschiedenen Bereichen zu arbeiten. Auch mit den USA sind die Verhandlungen zu einer strategischen Handels- und Investitionspartnerschaft vorangekommen.

Einige Besonderheiten der Generation Z – ihre digitale Vernetzung, ihr Anspruch, ohne Führung zu agieren – ähneln früheren Protestbewegungen an anderen Orten der Welt, wie Occupy oder dem Arabischen Frühling. Was kann die kenianische Bewegung eurer Meinung nach von diesen früheren Erfahrungen lernen?

JK: Das Besondere an den Demonstrationen in Kenia besteht darin, dass die Jugend an der Spitze steht. Aber die Forderungen nach Veränderungen durch junge Menschen sind nicht für Kenia spezifisch – ähnliche Protestaktionen gab es auch im benachbarten Sudan. Was wir vom Arabischen Frühling gelernt haben, ist die Kunst, soziale Medien für uns zu nutzen, verschiedene Gruppen unabhängig zu organisieren und die gebildete, normalerweise apolitische Mittelschicht zu mobilisieren. Wir haben uns von der Occupy-Bewegung und dem Arabischen Frühling vor allem abgeschaut, wie man sich außerhalb der etablierten politischen Strukturen organisiert und die verschiedenen Kämpfe der Landwirt*innen, Lehrer*innen und der Beschäftigten im medizinischen Sektor bündelt.

IA: Die Demonstrationen der Gen-Z hatten einige Schwächen. Wir haben zum Beispiel mehr Forderungen in Bezug auf die Verfassung gestellt und nicht an die Politik. Unsere Strategien sollten aber über eine Reform der Verfassung Kenias hinausgehen. Die aktuelle Regierung hielt nie besonders viel von der Verfassung und ließ zu, dass sie trotz ihrer progressiven Elemente von der politischen Elite ausgenutzt wurde. Es geht nicht nur darum, ein Absetzen der gegenwärtigen Regierung zu fordern, sondern auch, denke ich, darum, an Alternativen mitzuarbeiten, die die Bürger*innen in den Mittelpunkt stellen – es geht um einen neuen, progressiven Gesellschaftsvertrag, der Kenias kapitalistisches Wirtschafts- und Politiksystem umstrukturiert.

Habt ihr den Eindruck, dass die Gen-Z-Proteste von der alten politischen Oligarchie, die jetzt in die Regierung gelangt ist, gekapert wurden?

IA: Ich denke nicht, dass sie gekapert worden sind, weil die etablierten Parteien nicht von der ersten Stunde an dabei waren. Die alte politische Hierarchie unter der Führung des ehemaligen Ministerpräsidenten Raila Odinga gestaltete die Protestaktionen der Demonstrationen nicht mit – unsere Forderungen als junge Menschen unterscheiden sich von ihren. Zum Beispiel fordern wir das Ende des Regimes von Präsident Ruto und sie wollen, wie wir sehen, vor allem politische Manöver, um an der aktuellen Regierung beteiligt zu werden.

Früher haben kenianische Oppositionsführer*innen Volksbewegungen zur Durchsetzung ihrer politischen Agenda ausgenutzt, und natürlich konnten Teile der Jugendbewegung von der politischen Klasse vereinnahmt werden. Aber inzwischen sind die Frontlinien zwischen Bürger*innen und der derzeitigen politischen Elite klar. Politiker*innen, sowohl aus der derzeitigen Regierung als auch der Opposition, erhalten immer seltener eine Bühne, und ihre Sichtbarkeit in der Öffentlichkeit verringert sich stark. Das gibt uns Hoffnung, dass unsere Widerstandsbotschaften an die politische Klasse gehört werden.

Die von uns gestarteten politischen Aktionen ziehen harte und langwierige Kämpfe nach sich und wir rechnen natürlich mit Herausforderungen. Wir wollen, dass die Bewegung eine politische Dynamik entwickelt, also müssen wir unsere Unabhängigkeit bewahren, klare Ziele definieren, die uns vom politischen Establishment abgrenzen und auf Graswurzeln setzen statt auf eine Anpassung an die traditionellen politischen Parteien.

Ist es denkbar, dass die Gen-Z-Bewegung bei den Wahlen 2027 das gewohnte Wahlverhalten Kenias auf den Kopf stellt?  

IA: Ja, wir sehen definitiv einige Anzeichen dafür. Im Moment versuchen junge Menschen, drei Abgeordnete ihres Wahlkreises, die das kontroverse Steuergesetz unterstützt haben, ihres Amtes zu entheben.

Auch gibt es verstärkte politische Forderungen, etwa nach einer unabhängigen Untersuchung der Todesursache von Demonstrant*innen, eine Prüfung von Kenias Staatsverschuldung und Forderungen nach einem Wiedereinsetzen der Kenya Independent Electoral and Boundaries Commission für die Organisation der Wahlen.

JK: Es ist auch wichtig zu wissen, dass es 2022 mehr als acht Millionen Nichtwähler*innen gab, mehrheitlich junge Menschen. Bei den aktuellen Entwicklungen vermuten wir aber eine aktivere Rolle junger Menschen in der Wahlpolitik. Das könnte bei den Wahlen 2027 den Ausschlag geben. Politische Parteien werden ohnehin immer weniger relevant dafür, dass junge Menschen sich organisieren und das könnte die Politik der Stammeszugehörigkeit beeinflussen und die die kenianische Politik jahrzehntelang dominiert hat.

Es ist eine kritische Zeit für die kenianische Politik. Junge Menschen ergreifen eine aktive Rolle als Staatsbürger*innen und werden zur treibenden Kraft in Kenias politischem Gefüge.

[Übersetzung von Nicola Tams & André Hansen für Gegensatz Translation Collective]