Nachricht | Portal International - Krieg / Frieden - Israel - Palästina / Jordanien - Krieg in Israel/Palästina Ein Jahr nach dem 7. Oktober 2023

Erinnerung und radikale Empathie | Gil Shohat, Tel Aviv

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Gil Shohat,

An einer Wand der Schule in dem Dorf Newe Schalom/Wahat al-Salam in Israel hängt ein auf Arabisch, Hebräisch und Englisch beschriftetes Schild mit der Aufschrift «The School of Peace». In dem Ort leben zu gleichen Teilen Israelis und Palästinenser friedlich zusammen.
An einer Wand der Schule in dem Dorf Newe Schalom/Wahat al-Salam nahe Jerusalem hängt ein auf Arabisch, Hebräisch und Englisch beschriftetes Schild mit der Aufschrift «The School of Peace». In dem Ort leben zu gleichen Teilen Israelis und Palästinenser*innen friedlich zusammen. Foto: picture alliance / dpa | David Ehl

Es ist ein sonniger Mittwochvormittag Ende Januar 2024, ich fahre mit meinen Kolleg*innen aus dem Israel-Büro der Rosa-Luxemburg-Stiftung (RLS) in Tel Aviv zusammen mit Mitarbeiter*innen aus der Zentrale der Stiftung in Berlin in das jüdisch-palästinensische kooperative Dorf Newe Schalom/Wahat al-Salam (dt.: Stätte des Friedens) nahe Jerusalem. Es ist direkt neben der sogenannten Grünen Linie gelegen, der künftigen Grenze, die israelisches von palästinensischem Staatsgebiet trennen soll. Begleitet von Vogelgezwitscher und dem regelmäßig wiederkehrenden Lärm israelischer Kampfjets, die gerade Luftangriffe auf den Gazastreifen fliegen, treffen wir die palästinensisch-israelische Journalistin und feministische Aktivistin Samah Salaime. Wir wollen mit ihr über jüdisch-palästinensische Solidarität und feministische Allianzen im Zeichen des 7. Oktober und der darauf folgenden (und immer noch andauernden) Zerstörung Gazas sprechen. Salaime hat vor einigen Wochen in einem Beitrag für das +972 Magazine – ein Online-Magazin, mit dem wir zusammenarbeiten – versucht, eine Brücke zwischen Betroffenen sexualisierter Gewalt auf israelischer und palästinensischer Seite zu schlagen. Ihre Botschaft ist einfach und grundlegend: «Unsere Frauenbewegung darf sich nicht am Grenzzaun um Gaza spalten lassen.»

Gil Shohat leitet das Israel-Büro der Rosa-Luxemburg-Stiftung in Tel Aviv.

Mit Samah Salaime sprechen wir über die Spannungen, mit denen zahlreiche jüdisch-palästinensische Organisationen und Initiativen seit dem Massaker der Hamas im Süden Israels und der Entführung Hunderter Zivilist*innen und Soldat*innen sowie dem zerstörerischen Krieg Israels gegen die Palästinenser*innen zu tun haben. Zwar hat die jüdisch-palästinensische Solidarität eine lange Tradition in der sozialistischen Linken sowie anderen progressiven Initiativen Israels. (So ist die Kommunistische Partei Israels die älteste noch bestehende Partei des Landes.) Als jüngere Organisation beruft sich auch die jüdisch-palästinensische Graswurzelbewegung Standing Together auf diese Tradition. Aber die heftigen und brutalen Ereignisse des letzten Jahres haben diese Partnerschaften auf die bisher ernsthafteste Probe gestellt und in einigen Fällen auch zum Bruch geführt.

Als mir meine Freundin gesagt hat, dass sie ansonsten niemanden hat, habe ich verstanden, dass auch ich gebraucht werde.

Salaime schildert uns mit zunehmender Emotionalität, warum das Friedensdorf Newe Schalom für sie so wichtig ist. Sie berichtet von einer Reihe extern moderierter Versammlungen der jüdischen und palästinensischen Bewohner*innen, die Raum für Austausch und gegenseitige Empathie boten. Der Schlüsselmoment sei für sie gewesen, so Salaime, als eine jüdisch-israelische Freundin und zivilgesellschaftliche Aktivistin, die am 7. Oktober mehrere Freund*innen verloren habe, zum Ausdruck brachte, wie sehr sie sich derzeit die Empathie und Solidarität ihrer palästinensischen Genoss*innen wünsche. Denn mit ihrer Trauer und Betroffenheit aufgrund der Ereignisse des 7. Oktober und ihrer gleichzeitigen Opposition gegen die israelische militärische Reaktion in Gaza sei sie in der jüdisch-israelischen Gesellschaft isoliert. Salaime: «Als mir meine Freundin gesagt hat, dass sie ansonsten niemanden hat, habe ich verstanden, dass auch ich gebraucht werde – und wie wertvoll diese gegenseitige Solidarität ist.»

Seit beinahe einem Jahr befinden sich Israel und Palästina (und nun auch Libanon) im Kriegszustand. Ein Krieg, der angeblich noch kein «regionaler Krieg» ist, aber schon vielen unschuldigen Menschen das Leben gekostet, Hunderttausende Israelis, Palästinenser*innen und Libanes*innen aus ihren Gemeinden vertrieben und unzählige Kinder traumatisiert hat. Zweifellos hat der israelisch-arabische Konflikt insgesamt, wie der israelisch-palästinensische Konflikt, schon lange vor dem 7. Oktober 2023 begonnen – dies haben Beobachter*innen angesichts einer übermäßigen Fokussierung auf die Ereignisse des 7. Oktober kritisch angemerkt. Doch haben wir es bei diesem schrecklichen Ereignis – und allen unfassbaren Grausamkeiten, die seitdem folgten – mit einer historischen Zäsur zu tun, deren Ausmaß und zerstörerische Kraft wir immer noch versuchen zu verstehen, zu begreifen, zu analysieren. Doch wie soll etwas begreifbar, betrauerbar, erinnerbar sein, wenn es auf so vielen Ebenen – der Verschleppung der israelischen Geiseln, der Zerstörung Gazas, der Invasion im Libanon, der Vertreibung von Palästinenser*innen aus dem Westjordanland, der regionalen Eskalation mit Iran – noch gar nicht abgeschlossen ist? Die Menschen in der Region stehen an einem existenziellen Abgrund und bisher ist nicht absehbar, wie tief dieser Abgrund ist. Wir sind derzeit einem Strudel aus Dehumanisierung, Ignoranz und Hass ausgesetzt und es ist sehr schwer, dem Menschlichkeit, Solidarität und Empathie entgegenzusetzen.

Wie soll etwas begreifbar, betrauerbar, erinnerbar sein, wenn es auf so vielen Ebenen noch gar nicht abgeschlossen ist?

Wie Ereignisse des 7. Oktober 2023 sind in den vergangenen zwölf Monaten tagtäglich in Israel präsent gewesen – medial, in Reden von Politiker*innen, durch die unzähligen Poster entführter Israelis auf den Straßen Tel Avivs und anderswo, in Form von Massendemonstrationen für einen Geiseldeal, der den Krieg gegen Gaza sowie zwischen Israel und der Hisbollah im Libanon endlich beenden müsste. Angesichts der Ausweitung des Krieges auf den Libanon und der nun angelaufenen Bodeninvasion ist die israelische Gesellschaft allerdings aktuell so weit wie nur irgend möglich davon entfernt, innehalten und der Opfer des 7. Oktober gedenken zu können. Selbst der Streit zwischen dem Großteil der Angehörigen der circa 1.200 Opfer und der israelischen Regierung gerät in den Hintergrund. Der berechtigte Vorwurf der Angehörigen lautet: Mit einer staatlichen Gedenkzeremonie wolle die Regierung letztlich mit diesem Ereignis abschließen und damit auch mit dem Schicksal der noch in Gaza verbliebenen Geiseln. 

In der Woche nach dem Massaker der Hamas schrieb ich in einem Beitrag für nd-aktuell, selbst noch in einem Schockzustand nach der überstürzten Ausreise mit meiner Familie von Tel Aviv nach Berlin:

«Wie konnte es sein, dass Bewohner*innen der Kibbuzim teilweise durch ihre herbeigeeilten bewaffneten Väter mit Militärkarriere befreit wurden, nachdem sie stundenlang alleine mit ihren Kindern in ihren Häusern verharrt hatten? Wie konnte es sein, dass der offensichtlich von langer Hand geplante Angriff der Hamas nicht von den israelischen Sicherheitsbehörden erahnt wurde? Und wie konnte es sein, dass tagelang Kämpfer der Hamas den Grenzzaun Richtung Israel passierten und sich immer neue Kämpfe mit Polizist*innen und Soldat*innen etwa in der grenznahen Stadt Sderot lieferten? All dies, während immer mehr Einheiten der israelischen Armee in das besetzte Westjordanland verlegt wurden, unter anderem um messianische Siedlergruppen zu schützen, die in den vergangenen Monaten unter Schirmherrschaft der rechtsradikalen Minister Itamar Ben-Gvir und Bezalel Smotrich immer wieder palästinensische Dörfer überfielen (und es auch in diesen Tagen außerhalb der öffentlichen Aufmerksamkeit erneut tun).»

Die in diesem Artikel aufgeworfenen grundlegenden Fragen sind immer noch nicht beantwortet, unter anderem deshalb, weil die noch immer amtierende israelische Regierung, teilweise aus offenen Faschisten bestehend, eine Untersuchung des staatlichen Versagens durch eine unabhängige Kommission mit aller Macht verhindert. Das Argument? Jetzt müsse der Fokus auf dem «zweiten Unabhängigkeitskrieg» – so die legitimierende Bezeichnung für die nun seit einem Jahr andauernden Kriegshandlungen gegen die Palästinenser*innen in Gaza, im Westjordanland und nun auch massiv im Libanon – liegen.

Israels jüdische Gesellschaft ist so fragmentiert und gespalten wie selten zuvor.

Sehr viele Menschen haben seit dem 7. Oktober 2023 jedwedes Vertrauen in die staatlichen Verantwortlichen und ihre Versprechen von «ultimativer Sicherheit durch einen endgültigen Sieg» gegen Israels Feinde verloren. Doch trotzdem gibt es bis jetzt keine israelische Massenbewegung, die die Regierung und ihren Kurs der permanenten Eskalation nach außen wie nach innen und inmitten dieser sehr gefährlichen Situation existenziell herausfordern würde. Das Schema, das die Regierung am Laufen hält, scheint aus dem Lehrbuch des «Sozialimperialismus» zu stammen: Sobald der innenpolitische, gesellschaftliche Druck auf die Regierung wächst, macht sie eine weitere außenpolitische Front auf. Und siehe da: Die Demonstrationen für einen Geiseldeal (nicht: für ein Ende des Krieges), die vor wenigen Wochen noch massiv an Fahrt aufgenommen hatten, sind abgeflaut. Durch die israelische Eskalation der militärischen Gewalt im Libanon und die nun daraus folgenden Angriffe aus Iran wurde die Protestbewegung maximal geschwächt und die Regierung fürs Erste stabilisiert. Israels jüdische Gesellschaft ist so fragmentiert und gespalten wie selten zuvor. Zugleich durchleben die palästinensischen Staatsbürger*innen Israels zusätzlich zur grassierenden Waffengewalt innerhalb ihrer Community die heftigsten staatlichen und gesellschaftlichen Repressionen seit der Militärherrschaft (1948–1966). Repressionen, die bei vielen Menschen zu Selbstzensur, Rückzug, physischen und psychischen Angstzuständen, kurz: zurück zum Überlebensmodus führen.

Empathie ist das Einzige, was uns in dieser schier hoffnungslosen Zeit noch Hoffnung gibt.

Gleichwohl muss man festhalten: Inmitten von allgegenwärtiger Trauer, Verzweiflung, Wut und Ohnmacht hat sich in Israel innerhalb des letzten Jahres auch einiges im sogenannten Friedenslager getan. Bis vor knapp einem Jahr dominierten hier die Differenzen zwischen den für ein so kleines Land wie Israel sehr vielen zivilgesellschaftlichen Organisationen. Es wurden stets eher die feinen politischen Unterschiede betont als die Gemeinsamkeiten, nämlich: die Ablehnung von Krieg und Militär zur Durchsetzung politischer Interessen, die Forderung nach einem Ende der völkerrechtswidrigen Besatzung Palästinas, das Streben nach einer politischen Lösung eines militärisch nicht zu lösenden Konflikts, das Einstehen für gleiche Rechte für die jüdischen und palästinensischen Staatsbürger*innen Israels. Heute ist ein größerer Wunsch nach einem vereinten Vorgehen vorhanden. Es werden Bündnisse aus zahlreichen zivilgesellschaftlichen Organisationen geschmiedet, etwa die Peace Partnership, die gemeinsame Forderungen und Ziele formulieren und eine universelle humanistische Opposition zum Krieg und zum sinnlosen Sterben bilden. Oder wie Friedensaktivist Yonatan Zeigen, Sohn der am 7. Oktober ermordeten langjährigen Friedensaktivistin Vivian Silver, kürzlich in einem Gespräch mit mir betonte:

«Ich denke, dass die Situation in Israel jetzt so ist, dass jeder [zivilgesellschaftlich Aktive, Anm.d.Red.] an der Situation mit den Palästinenser*innen interessiert und leidenschaftlich bei der Sache ist, jeder hat etwas zu sagen und ist bereit, sich auf eine Diskussion einzulassen. Das ist eine Chance, etwas zu verändern.»

Auch mir persönlich ist es als Vertreter der Rosa-Luxemburg-Stiftung in Israel ein großes Anliegen, gemeinsam mit meinem jüdisch-palästinensisch-deutschen Team an der Seite derjenigen Akteur*innen zu stehen, die die schrecklichen Ereignisse des 7. Oktober als Signal dafür verstanden wissen wollen, die Ursachen dieser Gewalt zu beenden. Es gilt, sich für radikale Empathie mit den israelischen Opfern des 7. Oktober sowie mit den seitdem zu beklagenden Zehntausenden Opfern auf palästinensischer und libanesischer Seite und für das Ende der Gewalt im Schatten dieses Traumas einzusetzen. Denn es ist das Einzige, was uns in dieser schier hoffnungslosen Zeit noch Hoffnung gibt. Dazu heißt es treffend im Grundsatzdokument der palästinensisch-jüdischen Bewegung Standing Together: «Where there’s a struggle, there is hope.»

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