Richtungsentscheidung als Parlamentsposse

Am 17. Juni 1990 beschloss die Volkskammer der DDR das neue Treuhand-Gesetz.

Ein Blick in die Protokolle der Volkskammersitzungen zum Thema Treuhandanstalt zeigt uns, wie wenig souverän die neue Elite den Konsequenzen ihrer eigenen Entscheidungen gegenüberstanden – und wie sehr dieses Gesetz mit deren privaten Karriere verknüpft war. Erhellend sind hier Geschäftsordnungsdebatten. Am 15. Juni sollte das Treuhandgesetz verhandelt werden. Wolfgang Ullmann stellte den Antrag, diesen Tagesordnungspunkt abzusetzen. Günter Nooke (damals noch Bündnis90/Grüne) verwies darauf, dass er das Gesetz erst am Morgen erhalten habe und es nicht im Ausschuss diskutiert worden sei. Er schließt seine Intervention mit den Worten:

«Ich denke, wir sollten die Demokratie ernst nehmen, und ich bitte, diesen Tagesordnungspunkt dort hinten zu lassen, damit wir wenigstens genügend Zeit haben, uns das anzusehen.» [1]

Sabine Bergmann-Pohl, später Ministerin und dann bis 1998 Staatssekretärin (mit einer schon in der DDR bemerkenswerten Karriere), wiegelte diese Einwände ab. Der Antrag von Konrad Weiß (Bündnis 90/Grüne), die Sitzung zu unterbrechen, um wenigstens den Gesetzentwurf lesen zu können, wird bei CDU/DA, wie das Protokoll vermerkt, mit «Heiterkeit» quittiert. Klaus Steinitz (PDS) unterstützte diesen Antrag:

«Ich möchte für den Antrag sprechen. Es geht ja hier, wie mehrmals betont wurde, um einen Beschluss von ungeheurer Tragweite für die Menschen in unserer Republik, bei dem man sich die Konsequenzen, die sich daraus ergeben, sehr gründlich überlegen muss. Wenn jetzt festgestellt worden ist, dass die Mehrheit der Abgeordneten nicht die Möglichkeit hatte, sich gründlich mit dem Text vertraut zu machen, glaube ich, liegt es in unserer Verantwortung, zu verhindern, dass jetzt unter Zeitdruck eine Entscheidung getroffen wird, die wir später vielleicht bereuen müssen. Deshalb bin ich auch dieser Meinung, wir müssen die Bedingungen schaffen und eine Unterbrechung von zwei Stunden vorsehen für die Fraktionen und auch für den Wirtschaftsausschuss, um einige Dinge noch einmal gründlich zu durchdenken und dann eine fundierte Debatte zu führen.»[2]

Die Mehrheit der Volkskammer entschied sich dagegen. Wie der Autor selbst im Zusammenhang mit den Debatten um das Arbeitsförderungsgesetz der DDR erfahren durfte, ging es dieser Mehrheit darum, die Einheit zu haben – nicht um die Schaffung einer von DDR und BRD verschiedenen Gesellschaft. Ein bedeutender Bürgerrechtler hielt ihm im Gesundheitsausschuss der Volkskammer, nach der Darlegung der Kontroversen um das Arbeitsförderungsrecht der BRD, entgegen, dass das doch alles «viel zu kompliziert» sei…

Der Wert des Versprechens de Maizières «DDR-Bürger müssen um Besitz nicht fürchten» war vor diesem Hintergrund ziemlich zweifelhaft. Zwar wurde im Vorfeld der Gesetzesdebatte eine «Gemeinsame Erklärung der Regierungen der BRD und der DDR zur Regelung offener Vermögensfragen» verabschiedet, aber das Parlament verweigerte sich einer ernsthaften Diskussion der entscheidenden Frage des Umgangs mit dem Volkseigentum. Selbst Frank Bogisch von der SPD kritisierte am 12. Juni, dass «das Partizipieren der DDR-Bürger am Volkseigentum ungeklärt» sei.

Für die PDS wird die Kritik der Arbeit der Treuhandanstalt in den folgenden Jahren ein wesentliches Thema bleiben. Anfang Juli kritisiert sie in einer Stellungnahme die fehlende Chancengleichheit verschiedener Eigentumsformen im Umwandlungsprozess und fordert,

«mit der der Volkskammer vorzulegenden Satzung der Treuhandanstalt eindeutig zu klären, welcher Teil des volkseigenen Vermögens zu privatisieren und nach den Prinzipien der sozialen Marktwirtschaft zu verwerten ist und parallel dazu durch Gesetzesvorlagen der Regierung zu klären, welcher Teil des volkseigenen Vermögens künftig im Interesse des Gemeinwohls als Eigentum des Staates, der Länder oder als spezielle Staatsunternehmen bestehen soll.»

Nach den ersten Monaten der Arbeit der Anstalt stellte die PDS fest:

«Die Praxis unserer Tage beweist: Appelle an Investoren - selbst verbunden mit bestimmten Anreizen - reichen ebenso wenig aus, wie bloße Verwaltung von Arbeitslosigkeit. Notwendig ist eine gewissermaßen "konzertierte Aktion", ein mehrjähriges Struktur-und Beschäftigungsprogramm der Bundesregierung mit den Ländern, Unternehmensverbänden und Gewerkschaften für die neuen Bundesländer. In diesem Rahmen muß die Treuhandanstalt dem Ziel einer aktiven Strukturpolitik verpflichtet sein. Das schließt die Privatisierung nicht aus. Aber die Privatisierung von Unternehmen muß nach einem durchdachten Konzept erfolgen, das den Interessen der BürgerInnen der östlichen Bundesländer entspricht. Gefördert werden sollte nicht zuletzt das Belegschaftseigentum.»

Keine revolutionären, sondern ausdrücklich pragmatische Forderungen. Trotzdem wurde ein anderer Weg beschritten, der in der Erinnerung vieler Ostdeutscher tiefe Spuren hinterlassen hat und weite Regionen der ostdeutschen Bundesländer heute prägt.

Freilich blieb die im neuen Treuhandgesetz und in diversen «Rechtsangleichungen» vorgezeichnete Entwicklungsrichtung auch unter den Beschäftigten nicht ohne Widerstand. Schon im späten Winter 1990 gründete sich der Arbeitslosenverband der DDR, am 19. Mai der Mieterbund der DDR. Belegschaften einzelner Betriebe erreichten vorteilhafte Sozialpläne. In Berlin wehrten sich die Beschäftigten der Verwaltung gegen die Befristung ihrer Arbeitsverträge und fragten, ob das der Anfang von Berufsverboten sei. Streiks und Demonstrationen machen deutlich, dass sich mehr und mehr Menschen der Risiken der nächsten Monate bewusst werden.

Das bedeutete allerdings überhaupt nicht, dass der Weg der deutschen Einheit von Mehrheiten abgelehnt worden wäre. Lia Pirskawetz porträtierte im Juni 1990 recht eindrucksvoll das Schwankende und Widersprüchliche im Selbstbild vieler Ostdeutscher. Jörg Roesler beschreibt dies aus wirtschaftsgeschichtlicher Sicht so:

«Die Durchsetzung des von der Bundesregierung verfochtenen Konzeptes einer zügigen Wirtschafts- und Währungsunion lässt sich demnach nicht allein mit berechnendem Kalkül der Verfechter dieser Art Transformation erklären, auch nicht mit rücksichtsloser Ausübung der Kanzlermacht durch Kohl. Zur Macht gesellte sich Überzeugungskraft, ohne die der Kanzler die Meinungshegemonie für sein Konzept in Ost und West nicht hätte erringen können. Den Bundesbürgern malte Kohl die Gefahr einer unkontrollierten Immigration der Ostdeutschen in die Bundesrepublik als Gefahr an die Wand, die bestehen würde, solange es die DM in der DDR nicht gäbe. Im Osten gelang es Kohl mit seinen Auftritten im Wahlkampf für sein Transformationsprogramm, das er unter dem Slogan «im Osten blühende Landschaften schaffen» verkaufte, Mehrheiten zu mobilisieren. Zur Macht gesellte sich Überzeugungskraft, die die Verfechter alternativer Transformationsprogramme – selbst Lafontaine, der vor den Gefahren einer überstürzten Einheit nicht genug warnte konnte – nicht aufbrachten.»

Die Treuhand war aus der Sicht der Öffentlichkeit auch noch ein Abstraktum. Die Finanzen der PDS beanspruchten da schon mehr Aufmerksamkeit. Der Bericht zu den Parteifinanzen war ein wichtiger Teil der Erneuerungsdiskussion, die sich in der Partei, wenn auch mit Schwierigkeiten entwickelte. Die Diskussionen werden am 8./9. September in einer Erneuerungskonferenz ihren ersten Höhepunkt, aber noch lange keinen Abschluss finden.

(Mit freundlicher Unterstützung der Tageszeitung neues deutschland und ihres online-Archivs sowie der Bibliothek der Rosa-Luxemburg-Stiftung)


[1] Keller, Dietmar/Scholz, Joachim (Hrsg.) (1990). Volkskammerspiele, Berlin: Dietz Verlag, S. 170

[2] Ebenda S. 175