Schadensbegrenzung

Am 4. November 1989 findet in Berlin die bisher größte Demonstration für eine gesellschaftliche Erneuerung der DDR statt. Die Bewegung für eine andere DDR erreicht in diesen Tagen ihren Höhepunkt und tritt in eine (rasante) Abstiegsphase ein. Aus „Wir sind DAS Volk“ wird sehr schnell „Wir sind EIN Volk“

Die gelöste Stimmung beim Besuch von Egon Krenz in Moskau täuscht. Die Sowjetunion ist aufgrund krisenhafter Entwicklungen im eigenen Land nicht mehr in der Lage, die DDR-Führung zu unterstützen.  Foto: TASS / AFP

Der SED bleibt dabei lediglich noch die Möglichkeit, Schadensbegrenzung zu betreiben und alles zu vermeiden, was in ungeordnete Konfrontationen treibt. Das ist auch der einzige Rat, den Egon Krenz bei seinem Besuch Anfang des Monats in Moskau nach Hause mitnehmen kann. Die Einschätzungen zur Lage der DDR in Moskau gehen über Gemeinplätze, wie Stärkung der Rolle des Marktes, Streichung von Subventionen, Abbau von Bürokratie, «Hinwendung zur BRD» u.ä. nicht hinaus.[i] Das ist nachzuvollziehen, steckt doch auch sie in einer sich zuspitzenden Krise: Die Abspaltungstendenzen im Baltikum werden immer stärker, die Streiks der Bergleute in Workuta weiten sich aus und die Ergebnisse der Umgestaltungsprozesse liegen weit unter den Erwartungen. Die am 1. November von Günter Sieber, Abteilungsleiter für Internationale Verbindungen des ZK der SED, gegenüber seinem Amtsbruder im ZK der KPdSU Valentin Falin geäußerte Bitte, «Spezialisten der verschiedensten gesellschaftlichen Bereiche» in die DDR zu entsenden[ii] , geht völlig an den Realitäten beider Länder vorbei. Die Sowjetunion muss ihre Ressourcen auf die Wahrung der eigenen Interessen – und die betreffen vor allem die Verhinderung der Erweiterung der NATO im Zuge der sich abzeichnenden deutschen Einheit – konzentrieren.

Eine im Apparat des ZK der SED erarbeitete Information «Zur aktuellen politischen Lage in der DDR» vom 30. Oktober 1989 zeichnet ein recht deutliches Bild:

«Die oft kontrovers geführten Gespräche, die sowohl durch Beifall, Zwischenrufe und Pfiffe begleitet werden, behandelten solche Themen wie:

  • Führungsrolle der Partei,
  • Rechtsstaatlichkeit,
  • Volksbildung,
  • Wahlgesetzgebung,
  • Demonstrations- und Vereinigungsrecht,
  • Reisetätigkeit und anderes.»

In vielen emotional stark aufgeladenen Diskussionen widerspiegelt sich großer Vertrauensverlust in die führende Rolle der Partei, Erschütterung im Bewusstsein der Bürger, das bis zur Enttäuschung, Resignation und Zorn reicht. Das zeigt sich auch in den Reihen der Partei.

Starke Emotionen löste bei vielen die Tatsache aus, dass es erst gesellschaftlicher Erschütterungen bedurfte, bevor die Parteiführung auf Fragen und Probleme reagierte, die bereits seit langem von vielen Grundorganisationen und einzelnen Genossen signalisiert wurden. Tendenzen gestörten Vertrauens zur Parteiführung sowie abwartende Positionen sind noch nicht überwunden.

Seit Anfang September 1989 erklärten 36.209 Mitglieder und Kandidaten den Austritt aus der Partei, in der großen Mehrheit bevor das persönliche Gespräch geführt werden konnte. Sichtbar wird, dass sie teilweise aus Protest die Partei verlassen haben oder auch resignierend nicht mehr bereit sind, für die Ziele und Werte des Sozialismus in den Reihen der Partei zu kämpfen.

Bei nicht wenigen Genossen gibt es einen tiefen Schock über die Lageunkenntnis und mangelnde Kollektivität der Parteiführung. Zu Fragen, wie das künftig verhindert werden kann, gibt es die unterschiedlichsten Auffassungen, die man auch für die eigene Grundorganisation bis zu den Parteiwahlen geklärt haben will… Vor allem aus intellektuellen Kreisen mehren sich Fragen zum Führungsanspruch der SED. Besonders in Grundorganisationen mit hohem Intelligenzanteil werden von Genossen Positionen und Forderungen vertreten, die denen des «Neuen Forum» entsprechen oder nahekommen.

Weiterhin stark zugenommen haben unduldsam und teilweise sehr aggressiv geführte Diskussionen über Privilegien für leitende Partei- und Staatsfunktionäre. Immer wieder und breit werden genannt die Sonderläden, Vergünstigungen für NSW-Urlaubsreisen, Jagdgebiete, Sonderflugzeuge (Urlaub), Erhalt und Besitz von Devisen und die Vergünstigungen, die stark unter Kritik stehen, für Kinder, Enkel und Verwandte von Politbüro- und Regierungsmitgliedern.

Gegenstand scharfer Diskussion war der Neubau des Gebäudes der Kreisleitung der SED auf der Insel Rügen in Bergen. Der Bau wurde in Beziehung gebracht mit nichtgelösten Problemen im Bettenhaus des Krankenhauses Bergen, des Dienstleistungsgebäudes Rotensee sowie gastronomischer und kultureller Einrichtungen. Es wird vorgeschlagen, das Gebäude der Kreisleitung in eine Einrichtung für geschädigte Kinder umzuwandeln.

Die Diskussionen im Kreis Oelsnitz sowie anderen Kreisen des Bezirkes Karl-Marx-Stadt zu dem hohen Ausstattungsgrad im «Haus am See» sowie über größere Ferienheime der Partei und das Haus des Bundesvorstandes des FDGB an der Jannowitzbrücke in Berlin halten an.

Es verbreitert sich die Auffassung, die Regierung reagiere auf Versorgungsprobleme zu schwerfällig und zu langsam. In diesem Zusammenhang gibt es weiterhin kritische Äußerungen zum Interview des Genossen Stoph.

„Das Auftreten des Gesundheitsministers Prof. Dr. Thielmann fand in der Bevölkerung eine starke positive Resonanz, weil er die Lage real beurteilt, Entscheidungen trifft und klare Weisungen erteilt.“[iii]

Der gesamte Text der Information hier.


[i] Karner, Stefan/Kramer, Mark/Ruggenthaler, Peter/Wilke, Manfred (Hrsg.) (2014). Dokument 81: „Die DDR ist bei den kapitalistischen Ländern gefährlich hoch verschuldet.“ Analyse des ZK der KPdSU, in: Der Kreml und die „Wende“ 1989: interne Analysen der sowjetischen Führung zum Fall der kommunistischen Regime; Dokumente, Veröffentlichungen des Ludwig Boltzmann-Instituts für Kriegsfolgen-Forschung, Graz - Wien - Klagenfurt: Sonderband ; 15. Innsbruck: StudienVerlag, 493–497

[ii] Nakath, Detlef/Neugebauer, Gero/Stephan, Gerd-Rüdiger (Hrsg.) (1998). Dokument 2. Vermerk über ein Gespräch von Günter Sieber, Abteilungsleiter für internationale Verbindungen im ZK der SED, mit Valentin Falin, Leiter der Internationalen Abteilung des ZK der KPdSU, am 1. November 1989 in Moskau, in: „Im Kreml brennt noch Licht“: die Spitzenkontakte zwischen SED/PDS und KPdSU 1989-1991, Berlin: Dietz Verlag Berlin, 62–66

[iii] Stephan, Gerd-Rüdiger/Küchenmeister, Daniel (Hrsg.) (1994). Dokument 42. ZK-Information „Zur aktuellen politischen Lage in der DDR" vom 30. Oktober 1989, in: „Vorwärts immer, rückwärts nimmer!“: Interne Dokumente zum Zerfall von SED und DDR 1988/89, Berlin: Dietz Verlag, 186–192