«Spucken gegen den Wind»

Das Bild, das Helmut Kohl am 19.12.89 in Dresden empfängt, soll ihn zur Entscheidung motiviert haben, den Kurs eines schnellen Einigungsprozesses zu verfolgen. Zur gleichen Zeit wenden sich in Berlin 50.000 gegen Wiedervereinigungspläne, mehr als eine Million Menschen setzen sich in dem Aufruf «Für unser Land» für den Erhalt der DDR ein.

Die ProtagonistInnen des Aufrufes «Für unser Land» gehörten teilweise weit auseinanderliegenden Strömungen in der DDR-Gesellschaft an. Allein dies ist schon bemerkenswert. Einer der Erstunterstützer, Friedrich Schorlemmer, wählte später für die Charakterisierung der Aktion die Phrase «Spucken gegen den Wind» – die in ihr vertretenen Ziele sind schon bei der Veröffentlichung nicht mehr erreichbar.[1] Wie viele der ErstunterzeichnerInnen distanzierte er sich auch später nicht von ihm, sieht ihn aber auch kritisch. Ähnlich ergeht es dem «Appell der 89», mit dem sich Intellektuelle und KünstlerInnen (z.T. auch aus dem Kreis der UnterzeichnerInnen des Aufrufs) Anfang Dezember für eine «totale militärische Abrüstung bis zum Jahr 2000» als einseitige Vorleistung der DDR für eine Welt ohne Krieg einsetzen.

Die Situation ist eben nicht mehr unentschieden. Die von den Bildern und Interpretationen vermittelte Suggestion eines starken Willens zur Vereinigung hat durchaus einen rationalen Kern. Zwar belegen Befragungen, dass die AutorInnen des Aufrufs Ende November noch die Hälfte der DDR-Bevölkerung hinter sich wissen können, was diese Zustimmung bedeutet, ist aber höchst unklar. Nach Abschluss der Aktion werden Ende Januar 1990 nur noch 21 Prozent gegen eine Vereinigung sein. Gregor Gysi sagt dem Französischen Präsidenten Mitterand am 21.12.89, dass die Stimmung der Bevölkerung zur Frage der Wiedervereinigung schwankend sei. «Eine klare Mehrheit ist gegen die Wiedervereinigung, die Befürworter aber sind lauter. Meine Partei erklärt den Menschen, dass uns die Wiedervereinigung wirtschaftlich ruinieren würde. Wir würden zum Armenhaus der Bundesrepublik werden… Nach westlichen Umfragen sind 70 % dagegen und 30 % sehr dafür…»[2] Scheinbar unterstützen auch Positionen von Willy Brandt zur Schaffung eines «Deutschen Bundes» zweier unabhängiger Staaten, die Forderung der Alternativen Liste (Westberlin) nach Anerkennung der DDR und andere Wortmeldungen aus der BRD diese Position. In einem Aufruf wenden sich «Gewerkschaftsführer, Kommunalpolitiker, Schriftsteller, Wissenschaftler und Theologen» aus dem Umfeld des «Komitees für Grundrechte und Demokratie» gegen «Versuche der Vereinnahmung der DDR durch die Bundesrepublik».

Aber: Zum einen ist die «Wiedervereinigung» in der DDR immer ein virulentes Problem geblieben. Noch bis in die 1960er Jahre ist der Gedanke der Überwindung der Teilung Deutschlands auch in Teilen der Führung präsent – freilich in der Annahme des Bevorstehens einer Massenbewegung in der BRD, die die Kapitalherrschaft überwinden würde. Das letzte Dokument dieser Tendenz ist der Vorschlag einer deutschen Konföderation, den Walter Ulbricht im April 1966 unterbreitet.[3] Ulbricht meint damals, «daß der Weg der Wiedervereinigung ein langer Kampf zwischen den friedliebenden und demokratischen Kräften und den reaktionären militaristischen Kräften sein wird. Unser Vorschlag der Bildung einer Konföderation dient dem Ziel, dem Volk aus eigener Kraft den Übergang ohne Schaden zu ermöglichen.»

Der Realitätsgehalt dieser Idee ist 1966 allerdings schon hinreichend gering. Eine Konföderation 1989 hätte eine ganz andere Natur. Immerhin geht es hier um zwei Staaten, zwischen denen es hinsichtlich der Bevölkerungszahl und des wirtschaftlichen Potenzials große Unterschiede gibt. Auf der einen Seite steht ein Land, das gerade in eine tiefe politische und ökonomische Krise geraten ist, dessen entscheidende Absatzmärkte und politische Verbündete gerade zusammenbrechen, das unter anhaltender Abwanderung in den Westen leidet; auf der anderen eines, das demgegenüber stabil ist und das in seinem Selbstverständnis die deutsche Einheit immer hochgehalten hat. Unter diesen Bedingungen ist die Aussage vieler Organisationen und Einzelpersönlichkeiten, dass eine Vereinigung nicht auf der Tagesordnung stehe, man über eine Vertragsgemeinschaft oder Konföderation in einen langfristigen Annäherungsprozess eintreten würde, eher unglaubwürdig – und das wurde von einer Mehrheit der DDR-BürgerInnen auch wenigstens so gefühlt.

Zum anderen vollziehen sich im Hintergrund schon ganz andere Prozesse. Erstens ist da das Handeln der Regierung Modrow selbst. Sie befindet sich in einer Zwickmühle: Mit der Ankündigung einer «Vertragsgemeinschaft» und den Ansätzen einer eher am Westen orientierten Wirtschaftsreform hat sie der vorhandenen Strömung für eine deutsche Einheit, wenn auch unbewusst, Legitimität und Mut gegeben. Gleichzeitig muss sie eine stabile Staatlichkeit gewährleisten, das heißt eine auf Dauer gestellte, ohne dafür eine politische und soziale Basis zu haben. Sie kann und will sich auf keine Partei stützen, der Staatsapparat funktioniert zwar, differenziert sich aber in politischer Hinsicht in dem gleichen Maße wie die Gesellschaft überhaupt. Auch die Sicherheitsorgane sind davon erfasst. Unter diesen Bedingungen bleibt nur das pragmatische Lavieren. Zweitens rollt die Ausreisewelle ungebremst. Drittens orientieren sich die Neugründungen von Parteien, Vereinen und sonstigen Organisationen an den analogen Formen der alten BRD, die ihrerseits starke Bindungen an die im Deutschen Reich bzw. in der Weimarer Republik bestehenden Strukturen aufweisen. Fünftens erfreut sich die DDR einer Unzahl von «Unterstützungsangeboten» aus der BRD, die sich vor allem als Angebote der Übernahme westdeutscher Institutionen und Regeln verstehen. Sechstens sind die Bekenntnisse der verschiedenen alten und neuen Organisationen zu einem langfristigen Prozess der Annäherung und der Fortexistenz der DDR in inhaltlicher Sicht außerordentlich inkonsistent und laufen letztlich auf eine Kopie der BRD hinaus. Das macht sie unglaubwürdig. Am 14. Dezember legt z.B. «Demokratie jetzt» einen Plan der nationalen Einheit vor. Hier wird ausführlich die Idee des «Aufeinander-zu-reformierens» entfaltet. Zu den Ansprüchen auf Veränderungen in der BRD heißt es:

«-Einleitung von sozialen und gesellschaftspolitischen Reformen in der Bundesrepublik Deutschland, die zu mehr sozialer Gerechtigkeit, zur deutlichen Dämpfung der Arbeitslosigkeit und zu mehr Umweltverträglichkeit in Produktion und Konsumtion führen; - weitere Dezentralisierung und Stärkung der Länderstruktur in der Bundesrepublik Deutschland; - Beginn eines deutsch-deutschen Abrüstungsprozesses im Rahmen der Bündnisse.»

Das sind sicher bis heute richtige Forderungen – nur wer sollte sie durchsetzen? Bis heute erstaunt die völlige Verkennung der Situation und der Kräfteverhältnisse in der Alt-BRD, konnte man sich doch in weiten Teilen der DDR tagtäglich durch die bundesrepublikanischen Medien über diese informieren.

So ist der Dezember durch einen Gegensatz zwischen gutgemeinten, aber weltfremden Vorstellungen von einer besseren DDR oder einer reformierten größeren BRD auf der einer Seite und dem anschlussorientierten Handeln bestimmter Gruppierungen in der BRD, einer pragmatischen Westorientierung vieler DDR-BürgerInnen und einer oft noch nicht eingestandenen Einheitsorientierung der Bürgerbewegungen, Neu- und Ex-Blockparteien auf der anderen Seite geprägt. Das erklärt letztlich auch, warum Ende Januar trotz des Erfolges des Aufrufs «Für unser Land» der Wunsch nach einer selbständigen DDR nur noch eine Minderheitenposition ist. Die «Weisheit des Volkes» triumphiert über die «heroischen Illusionen».

(Mit freundlicher Unterstützung der Tageszeitung neues deutschland und ihres online-Archivs.)


[1] Zur Chronologie sowie zu den handelnden Personen vgl. Borchert, Konstanze/Steinke, Volker/Wuttke, Carola (Hrsg.) (1994). «Für unser Land»: eine Aufrufaktion im letzten Jahr der DDR, Frankfurt am Main: IKO-Verl. für Interkulturelle Kommunikation, S. 10-27; Die Erklärung zu der zitierten Formulierung vgl. S. 146

[2] Möller, Horst/Amos, Heike/Geiger, Tim/Institut für Zeitgeschichte (Hrsg.) (2015). Dok. 36: Gespräch des Vorsitzenden der SED-PDS, Gysi, mit Staatspräsident Mitterand in Ost-Berlin, 21. Dezember 1989, in: Die Einheit: das Auswärtige Amt, das DDR-Außenministerium und der Zwei-plus-Vier-Prozess, V & R Academic. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 196–204, S. 198

[3] Ulbricht, Walter (1966). Der Weg zum künftigen Vaterland der Deutschen. Festansprache zum 20. Jahrestag der Gründung der SED, Berlin: Dietz Verlag Hier die Ansprache, wie sie im Neuen Deutschland abgedruckt wurde. [link zu Ulbricht 1966 gesamt.pdf]. Hier eine Reaktion aus der ZEIT vom 29.04.1966.