Illusionen zerbrechen

Die langen Schatten von 1953, 1956, 1968,1976, 1988 …

Liest man die Interpretationen des Jahres 1989 durch damals einflussreiche Funktionsträger der DDR, so fallen zwei Dinge auf: erstens der hohe Stellenwert, den sie dem Schutz der Herrschaft der SED durch die Sowjetunion zumessen und zweitens das Fehlen einer systematischen Auseinandersetzung mit der Vielfalt der oppositionellen Strömungen in der DDR. Letztere werden letztlich immer auf das durchaus vorhandene antisozialistische Moment reduziert. Sollte dieses zu stark werden, so offensichtlich die Denkfigur, würde (siehe Punkt 1) die Sowjetunion das Problem schon durch eine Intervention oder zusätzliche Warenlieferungen lösen. Angesichts des ansonsten zur Schau gestellten Selbstbewusstseins und der unbestreitbaren Erfolge in 40 Jahren DDR, und nicht zuletzt der Ergebnisse des KSZE-Prozesses, war und ist diese Sichtweise verblüffend, illusorisch und war auch nicht Gemeingut der Masse der AnhängerInnen der sozialistisch-kommunistischen Idee und Praxis. Insofern war die Aussage, die M. Gorbatschow am 6.7.1989 vor dem Europarat traf, auch keinesfalls aufregend:

«Die soziale und politische Ordnung in diesem oder jenem Land hat sich in der Vergangenheit verändert und kann sich auch in Zukunft ändern. Dies ist aber ausschließlich Angelegenheit der Völker selbst und deren Wahl. Jede Einmischung in die inneren Angelegenheiten und alle Versuche, die Souveränität der Staaten einzuschränken, seien das Freunde und Verbündete oder nicht, sind unzulässig.»[1]

Wenige Tage später bestätigte die Bukarester Tagung des Politischen Beratenden Ausschusses des Warschauer Vertrages diesen Grundsatz. Im Kommuniqué heißt es:

«Die Teilnehmerstaaten gehen davon aus, daß es keinerlei universelle Sozialismusmodelle gibt und niemand das Monopol auf die Wahrheit besitzt. Der Aufbau einer neuen Gesellschaft ist ein schöpferischer Prozeß. Er entwickelt sich in jedem Land entsprechend seinen Bedingungen, Traditionen und Erfordernissen… Es wurde ebenfalls die Notwendigkeit unterstrichen, die Beziehungen zwischen ihnen auf der Grundlage der Gleichheit, Unabhängigkeit und des Rechtes eines jeden, selbständig seine eigene politische Linie, Strategie und Taktik ohne Einmischung von außen auszuarbeiten, zu entwickeln.»[2]

Damit sei, so die heute herrschende Lesart, das Ende der Breshnew-Doktrin verkündet worden. Nach der Intervention in der CSSR 1968 hatte der damalige Generalsekretär der KPdSU Leonid Breshnew erklärt:

«Und wenn die inneren und äußeren dem Sozialismus feindlichen Kräfte die Entwicklung irgendeines sozialistischen Landes auf die Restauration der kapitalistischen Ordnung zu wenden versuchen, wenn eine Gefahr für den Sozialismus in diesem Land, eine Gefahr für die Sicherheit der gesamten sozialistischen Staatengemeinschaft entsteht, ist das nicht nur ein Problem des betreffenden Landes, sondern ein allgemeines Problem, um das sich alle sozialistischen Staaten kümmern müssen.»[3]

Praktisch war die Absage an eine derartiges Konzept lange vollzogen. Zum einen hatte sich Gorbatschow schon 1985/1986 in ähnlichem Sinne wie vor dem Europarat geäußert, zum anderen hatte Ungarn am 27. Juni die ersten Schritte zur Öffnung der Grenze zu Österreich eingeleitet, ohne dass die UdSSR reagiert hätte. Viele DDR-BürgerInnen versuchten nun, auf diesem Wege in die BRD auszureisen. Dass im Kommunique der Tagung des Politisch Beratenden Ausschusses des Warschauer Vertrages die Öffnung der Grenze zwischen Ungarn und Österreich am 27. Juni 1989 nicht erwähnt wird, interpretiert Hans Modrow als Zustimmung Gorbatschows zu diesem Schritt. Er meint, dass die «Grenze und ihre Undurchlässigkeit … Teil der Abmachung im Warschauer Vertrag [waren], de facto war Ungarn damit aus diesem Vertrag ausgestiegen.»[4] Egon Krenz als Teilnehmer des Treffens vermerkt, dass sich das Verhältnis zur DDR seitens der anderen Delegationen abkühlte und führt dies auf die Kritik an Perestroika und Gorbatschow zurück. «Unsere schulmeisterhafte und falsche Einstellung gegenüber den Entwicklungen in der übrigen sozialistischen Welt hatte die SED in dieser Zeit bereits viele Sympathien gekostet.»[5]

So oder so – das in 40 Jahren entstandene Verständnis von Sicherheit, von Solidarität und vor allem die Sicht auf diejenigen, die nicht dem Machtzirkel angehörten, das «außerhalb» des Apparates (und hier wieder in abgestufter Hierarchie), änderte sich auch in der Krise der Beziehungen innerhalb des sozialistischen Lagers nichts. Damit kommt eine Entwicklung zu ihrem (vorläufigen) Endpunkt, die mit den Krisen von 1953, 1956, 1968, der Ausbürgerung Wolf Biermanns 1976 und schließlich dem Verbot der Zeitschrift «Sputnik» 1988 jeweils unterschiedliche Etappen der Spaltung und der Erosion des Teils der linken, den Realsozialismus im Grundsatz bejahenden, Bewegung in der DDR darstellen. Schließlich stand die Führung alleine; Bertold Brecht hatte schon 1953 gegen die Forderung, das Volk müsse das Vertrauen der Regierung wiedergewinnen, polemisch die Frage gestellt, ob die Regierung sich nicht lieber ein anderes Volk wählen sollte

In der Rückschau erscheint dieser Weg schnell zwangsläufig und alternativlos. Die damit verbundenen Repressionswellen lösten in Teilen der Gesellschaft und vor allem unter den Intellektuellen Traumata und Verhaltensweisen aus, die die weiteren Entwicklungen auch in den späteren ostdeutschen Bundesländern beeinflussen sollten. Land und Posselke haben in einer Untersuchung zu den Lebenswegen von Oppositionellen in der SED bzw. ihrem Umfeld («SED-Reformer») deutlich den Zusammenhang zwischen den genannten Etappen und Veränderungen in den Versuchen, neu entstehende Grenzen für Kritik und Veränderung zu überwinden, dargestellt.[6] Diese Diskussionen unterscheiden sich wiederum von denen der KritikerInnen des Realsozialismus, die in Teilen des Staats- und Parteiapparates, und hier wieder getrennt nach Hierarchieebenen, versuchten, alternative Entwicklungswege zu eröffnen. Dazu kommen dann noch die Diskussionen innerhalb des Apparates, wie sie in den Autobiographien ehemals führender Persönlichkeiten deutlich werden und die eher an höfische Intrigen erinnern. Mit Selbstverständlichkeit spricht Honecker darüber, wie er mit diesen und jenen KünstlerInnen spricht, wie sie dann leider, wie Biermann auch, doch gehen – als ob es um einen Familienzwist ginge, nicht um brisante Entscheidungen mit weitreichenden politischen Folgen.

Überaus deutlich wird die Differenz zwischen diesen Teilen der Opposition und dem von E. Jesse als durch einen (in sich wieder heterogenen) «antiextremistischen Konsens»[7] verbundenen Flügel, der sich zum großen Teil nach 1990 in den etablierten herrschaftstragenden politischen Strukturen der Bundesrepublik wiederfinden wird. Bis heute wird diesem Flügel, soweit sich seine VertreterInnen in der Kritik an der Berliner Republik zurückhalten, auch die Hoheit über die Interpretation von DDR und «friedlicher Revolution/Wende» zugesprochen.

Land/Posselke machen für den Diskurs im Umfeld der SED drei Richtungen aus, die jeweils auch für bestimmte Generationen stehen.[8] Die erste ist der Diskurs der «Altkommunisten», die den eigenen Gestaltungsanspruch «vor allem moralisch aus dem Widerstand» gegen den Faschismus begründen. Es geht um die Konsequenzen aus dem Faschismus und die Bestimmung des Weges zum Sozialismus. Die Diskussionen um einen «nichtsowjetischen» Weg zum Sozialismus, zum «Neuen Kurs» 1953 und um den XX. Parteitag bzw. die Überwindung des Stalinismus sind mit unterschiedlichen Richtungsentscheidungen und auch personellen Konsequenzen (vor allem durch Ausreise oder das Kaltstellen – bis zur Inhaftierung – der unterlegenen Gruppen) verbunden. Teile der Generation, etwa Honecker, kann sich nicht aus diesem Diskurs und seinen Logiken lösen. Als zweite Richtung charakterisieren Land/Posselke die Debatten der Aufbaugeneration, die sich um die Art und Weise der Umgestaltung der Gesellschaft in allen gesellschaftlichen Bereichen drehte. «Das erklärte Ziel bestand darin, die Vorzüge des Sozialismus durch kompetentes Handeln und funktionierende sozialismusadäquate Abläufe in Wirtschaft, Staat, Kultur und Gesellschaft gegenüber der Bundesrepublik zur Geltung zu bringen.» Dieser Diskurs sei, so die Autoren, Ende der sechziger Jahre mit dem Ende des «Neuen Ökonomischen Systems» (NÖS – eine breit angelegte Wirtschaftsreform) und dem Einmarsch in der CSSR (Niederschlagung des Prager Frühlings) gescheitert. Die dritte Welle habe dann Mitte der siebziger Jahre begonnen «und drehte sich um die Deutung des immer offensichtlicher werdenden Scheiterns der realsozialistischen Entwicklung. Mit einem avantgardistischen Selbstverständnis ausgestattet, sahen sich seine Vertreter als diejenigen, die die Entwicklung des Sozialismus in eine neue Richtung zu wenden hätten.»[9] Allerdings ist dies auch ein letztlich elitärer Diskurs. Dieser Diskurs, wie auch die Erinnerungen Hans Modrows, Egon Krenz‘, Hartmut Königs, Kurt Hagers oder auch Erich Honeckers erhellen die Facetten dieses politisch-sozialen Raumes aus dem Blickwinkel unterschiedlicher Generationen und Sozialisierungen und verweisen auf einen zentralen langfristig wirkenden Faktor – das Organisationsverständnis und die Organisationspraxis. Sie sind, selbst aus der Sicht in der DDR gesellschaftlich Aktiver und sich keiner Opposition zurechnender, Berichte aus Parallelgesellschaften. Anders gesagt, die dann im September vom Neuen Forum konstatierte Kommunikationsunfähigkeit war nicht nur eine zwischen «Volk» und Regierung, sondern auch – und wahrscheinlich vor allem – eine innerhalb des «Volkes».

Mit freundlicher Unterstützung der Tageszeitung neues deutschland und ihres online-Archivs.

Sowohl die Prozesse in der Führungsschicht und die Reflexionen darüber, als auch die Diskurse der «ReformerInnen» und «KritikerInnen» zeigen, wie richtig die Einschätzung des Außerordentlichen Parteitages der SED vom Dezember 1989 war: Es ging darum, mit dem Stalinismus als SYSTEM zu brechen, es ging nicht nur um diese oder jene Elemente des traditionellen Selbstverständnisses der linken Bewegungen. Es ging darum, die Gründe, warum sich antiemanzipatorischen Praxen trotz aller negativer Erfahrungen und trotz aller personeller Umschläge halten konnten, aufzudecken und ihre erneute Reproduktion unmöglich zu machen.


[1]             Gorbatschow, Michael S. (1989). Rede von Michail Gorbatschow vor dem Europarat in Strasbourg, in: Neues Deutschland vom 07.07.89 S. 3.

[2]             KOMMUNIQUE der Tagung des Politischen Beratenden Ausschusses der Teilnehmerstaaten des Warschauer Vertrages in: Neues Deutschalnd vom 10.07.1989 S. 2.

[3]             Breshnew, Leonid (1968). Unsere Solidarität schlägt die Feinde. Rede des Generalsekretärs des ZK der KPdSU Leonid Breshnew in Warschau, in: Neues Deutschland vom 13.11.1968, S. 3–4.

[4]             Dürkop, Oliver/Gehler, Michael/Modrow, Hans (Hrsg.) (2018). In Verantwortung: Hans Modrow und der deutsche Umbruch 1989/90, Innsbruck/Wien/Bozen: StudienVerlag, S. 170f.

[5]             Krenz, Egon (1990). Wenn Mauern fallen: die friedliche Revolution: Vorgeschichte, Ablauf, Auswirkungen, Wien: Paul Neff., S. 26f.

[6]             Land, Rainer/Possekel, Ralf (1998). Fremde Welten: die gegensätzliche Deutung der DDR durch SED-Reformer und Bürgerbewegung in den 80er Jahren 1. Aufl., Berlin: Ch. Links

[7]             Jesse, Eckhard/Reich, Jens (Hrsg.) (2000). Eine Revolution und ihre Folgen: 14 Bürgerrechtler ziehen Bilanz, Berlin: Ch. Links, S. 14

[8]             Darstellung vgl. Land/Possekel, a.a.O. S. 10

[9]             ebenda S. 11