Nachricht | Soziale Bewegungen / Organisierung - Geschlechterverhältnisse - Gesellschaftstheorie - Queer-Trans - Feminismus Bite Back! – Queere Prekarität, Klasse und unteilbare Solidarität

Buch zu trans* marxistischen Perspektiven von Lia Becker, Atlanta Ina Beyer und Katharina Pühl

Bite Back! – Queere Prekarität, Klasse und unteilbare Solidarität

Es ist Zeit zurückzubeißen ... Der Aufstieg der autoritären Rechten bedroht queere und trans*Leben und Errungenschaften der LGBTIQ-Bewegung.

Zugleich sind steigende Mieten, prekäre Jobs und Altersarmut, Rassismus, Sexismus und Trans*feindlichkeit für viele queere Menschen Alltag. Die Grenzen liberaler Identitätspolitik werden immer deutlicher.

Lia Becker / Atlanta Ina Beyer / Katharina Pühl (Hg):
Bite back! Queere Prekarität, Klasse und unteilbare Solidarität.
Edition Assemblage. Münster 2024

Queere und trans* Stimmen fehlen oft in aktuellen linken Diskussionen über Klasse, in Diskussionen um Intersektionalität kommt «Klasse» oft zu kurz. Der vermeintliche Gegensatz von «Identitäts»- und «Klassenpolitik» ist eine Sackgasse, wenn es um radikale Veränderung und die Überwindung von Gewalt- und Ausbeutungsverhältnissen geht. Wie können wir neue Gemeinsamkeiten und Solidarität in der Differenz entwickeln?

Bite back! greift genau da ein. Eines der ersten deutschsprachigen Bücher, das trans* marxistische Perspektiven aufgreift. Das Buch versammelt Beiträge zu einem herrschaftskritischen Verständnis von queer und trans* sowie zu intersektionalen Perspektiven auf Klasse.

Einleitung der Herausgeber*innen

Es ist Zeit zurückzubeißen!

Ein Plädoyer für intersektionale, queere Klassenperspektiven

Derzeit dominieren heftige Kulturkämpfe um die geschlechtliche Selbstbestim-mung von trans* Menschen, gegen «wokeness» oder eine vermeintliche Gender-Ideologie. Neben Rassismus gegen geflüchtete Menschen und Muslime sind Themen wie Antifeminismus und Trans*feindlichkeit, aber auch Positionen zu reproduktiven Rechten Brennpunkte in den Strategien der transnationalen Rechten. Sie verbinden Konservative und Rechtsextreme weltweit. Joanna Wuest (2023) verweist etwa auf eine Politik der «gezielten Grausamkeit» in den gegenwärtig systematisch organisierten trans*feindlichen Kampagnen in ver­schiedenen US-Bundesstaaten.

Aus der Perspektive rechter Erzählungen bedrohen nicht die ausbeuterischen und klimazerstörenden Politiken des autoritären Neoliberalismus unsere Zukunft, sondern der Umstand, dass sich Menschen gegen Rassismus und die Gewalt einer immer noch stabil auf Zweigeschlechtlichkeit und Heterosexuali­tät basierenden, patriarchalen Geschlechterordnung zur Wehr setzen. Die rechts-autoritären Kräfte sind, wie Wuest konkret am US-Beispiel zeigt, eng verflochten mit fossiler Industrie, Finanz- und Immobilieneigentümern sowie großen Familienunternehmen. Der rechte Kulturkampf richtet sich gegen die unteren und marginalsten Teile der Arbeiter*innenklasse. Er ist auch ein Klassenkampf von oben.

Die trans*feministische Künstler*in Yishay Garbasz spricht dies im Inter­view in diesem Band an (s. ebd.): „Rechte Kampagnen gehen gegen trans* Kids sowie ihren Zugang zu Schulen und Gesundheitsversorgung, aber auch zu öffentlichen Toiletten und (Not-)Unterkünften vor.“ Diese Kampagnen werden oft von rechten, neoliberalen und ultrareligiösen Spendern (wie z.B. der in den USA ansässigen Family Heritage Foundation) finanziert. Mit kämpferischen Botschaften zur Verteidigung der Familie oder zum Schutz der Kinder gegen die Apologeten der Gender-Ideologie gelinge es ihnen, relevante Teile der Arbeiter*innenklasse anzusprechen. Die rechte Strategie, so Garbasz, ziele darauf, das «schwächste Glied» bei den liberalen und linken Kräften, in LGBTIQ*- und feministischen Bewegungen zu finden. «Das ist Teil eines Kriegs gegen Arme und Minderheiten – Klassenkampf in extremer Form.»

Der globale Aufstieg der Rechten, prekäre Lebensverhältnisse und die Klima­krise bedrohen queere und trans* Leben. Es ist Zeit zurückzubeißen. Wir wollen dazu einladen, gemeinsam nachzudenken, welche Rolle der lange als überholt geltende Begriff der Klasse dabei spielen könnte.

Die Mehrheit queerer Menschen in Europa lebt in prekären Verhältnissen – ein Großteil der lohnabhängigen trans* Menschen ist Teil des «queeren Prekariats» (Hollibaugh/Weiss 2015). Ihr Arbeits- und Lebensalltag ist durch dauerhafte Unsicherheit geprägt. Steigende Mieten und Lebenshaltungskosten, unsichere Jobs, (drohende Alters-)Armut, aber auch Sexismus, Rassismus, Queer- und Trans*feindlichkeit, die derzeit deutlich zunehmen, zwingen zu Kämpfen um das Überleben. Die Lebenserwartung von trans* Menschen ist in vielen Ländern deutlich geringer als die der Durchschnittsbevölkerung.

Die Corona-Pandemie als gesellschaftliche Krisenerfahrung hat die Lebens­situation Vieler, auch queerer und trans* Personen, in den letzten Jahren noch verschärft (vgl. Taylor 2023). Und dennoch sind solche Realitäten nicht auto­matisch gemeint, wenn von «queer» oder von «prekär» die Rede ist.

In Politik und medialen Diskursen werden die Stimmen prekär lebender Queers systematisch ignoriert. Wir möchten an dieser Stelle betonen, dass es uns keines­falls darum geht, queere und trans* Leben als homogen prekär darzustellen. Natürlich sind Queers oft auch Teil der Mittelklasse und manchmal des Bürger­tums. In diesem Buch aber möchten wir queere Prekarität zum Ausgangspunkt nehmen, um queere Politiken, Klasse und Prekarität neu zu denken.

In Debatten um das «abgehängte Prekariat» bleiben queere und trans* Per-spektiven bislang meist völlig ausgeblendet. In LGBTIQ*-Politiken spielt Klasse dagegen nur selten eine Rolle. Gerade, wenn sie auf Gleichstellung zielen – was sie häufig tun – ist implizit die Gleichstellung mit dem Status Quo in der heteronormativen und rassistisch strukturierten Klassengesellschaft gemeint.

Queere prekäre Leben in den Fokus zu stellen, ermöglicht aus unserer Sicht, Brücken zwischen oft getrennt gedachten (Politik-)Feldern zu bauen und diese jeweils «von unten» oder «von den Rändern» aus neu zu durchdenken. Gerade in diesen Zeiten schleichender Faschisierung, in denen Klassenkampf von oben und rechte Kulturkämpfe immer stärker ineinander übergehen, geht es uns darum, «Bilder prekären Lebens zu entwerfen, die mehr Gegenwehr ermög­lichen […] und unwahrscheinliche Solidarität über Grenzen hinweg vorstell­bar machen» (Beyer 2018). Klasse soll stärker in ihrer Heterogenität und Ver­wobenheit mit gelebten queeren und trans* Leben fassbar werden. Dazu wollen wir Stimmen derer (ver-)stärken, die bislang nur an den Rändern der Debatten um Klassen- und queere Politiken hörbar sind. Wir sind sehr dankbar, dass Tomka Weiß ein Cover gestaltet hat, das dieses Anliegen kreativ aufgreift.

Der vorliegende Sammelband ist aus der Veranstaltungsreihe «Beziehungsweise Klasse» hervorgegangen, die wir 2019 an wechselnden Orten in Berlin organisiert haben und bei der wir mit unterschiedlichen Menschen aus LGBTIQ*-Communities über ihre Perspektiven auf Klasse, Prekarität und Solidarität diskutierten.

Von der Veranstaltungsreihe bis zu den Texten in diesem Band, die ein breiteres Spektrum an Perspektiven und Debatten abbilden, war es ein weiter Weg. Auf den nächsten Seiten wollen wir einige unserer Gedanken zu queerer Prekarität, Klasse und unteilbarer Solidarität vorstellen. Die Diskussion möchten wir auch im Online-Dossier der Rosa Luxemburg-Stiftung mit weiteren Texten und Interviews fortsetzen:.

Queere Prekarität und Klasse

Armut, Prekarität, Marginalisierung – diese Begriffe beziehen sich auf viele unterschiedliche Erfahrungen, die auch Klassenerfahrungen sind (zur Unter­scheidung von Prekarität, Marginalisierung und Minorisierung vgl. den Beitrag von Lia Becker; zu Armut und Klassismus Francis Seek und Yishay Garbasz in diesem Band). Prekarität umfasst nicht nur prekäre Lohnarbeit und öko­nomische Unsicherheit des Lebensunterhalts, sondern auch die Verwundbar­keit von Körpern durch den Zusammenhang von intersektionaler Gewalt und Ausbeutung. Auch durch die heteronormative Organisation der Reproduktion von Gender, Körpern und Arbeitskraft in Privathaushalten und Familie werden queere Leben auf spezifische Weisen prekarisiert (vgl. auch Jules Gleeson/Elle O‘Rourke und Inga Nüthen in diesem Band).

Es geht daher um das ganze Leben. Für uns gehören Fragen von Geschlecht, Sexualität, Rassismus, internationaler Arbeitsteilung, Flucht, Transition, aber auch Trauma und Heilung untrennbar dazu, wenn wir über Klasse sprechen. In linken Diskursen und Politiken ist dies keineswegs eine geteilte Basis – es gibt zahlreiche Auslassungen, Herausforderungen und Sackgassen.

Eine Verkürzung stellt die Verengung des Klassenbegriffs auf die Erfahrungen von cis-männlichen, weißen, heterosexuellen Männern dar. Dieses auch in Dis­kussionen über Marxismus oft kritisierte Klassenverständnis war schon immer ein Zerrbild und bleibt doch bis heute wirkmächtig. Die damit einhergehende Vorstellung von Klassenkämpfen macht viele andere Erfahrungen und Kämpfe unsichtbar. Oft sind es gerade auf Identitätsfragen bezogene Politiken, die ermöglichen, Formen von Ausbeutung und Gewalt zu adressieren, die in einem engen Begriff von Klasse nicht aufgehen.

In linken und liberalen Diskussionen wird aber immer wieder ein vermeint­licher Gegensatz von Identitäts- und Klassenpolitik unterstellt, der manchmal in ein regelrechtes Bashing anderer Positionen und Personen übergeht. In der Trennung von Klassen- und Identitätspolitik wird strukturell unsichtbar gemacht, wie unterschiedliche Formen von Gewalt das Leben von Queers in jeweils spezifischer Weise prekär machen.

Die dritte Herausforderung betrifft liberale LGBTIQ*-Anerkennungspolitiken, die auf (rechtliche und kulturelle) Anerkennung queerer Lebensweisen zielen. Sie können zweifellos positive und teilweise überlebensnotwendige Veränderungen bewirken. Aktuelle Beispiele im deutschen Kontext sind dafür etwa die längst überfällige Abschaffung des diskriminierenden Transsexuellengesetzes oder not­wendige Reformen des Familien- und Abstammungsrechts, die allerdings trotz aller Versprechen immer noch auf sich warten lassen.

Zur Widersprüchlichkeit der gesellschaftlichen Situation gehört, dass es hierzu­lande keinen Siegeszug rechtlicher Anerkennung von trans* und nicht-binären Lebensweisen gibt. Trans* sein bleibt im liberalen, sozialdemokratischen und auch linken Feld heftig umkämpft. Dies zeigt sich an den gewaltvollen Grenzen des geplanten Selbstbestimmungsgesetzes. Liberale Anerkennungspolitik in Gesetzesform ist dabei auch das widersprüchliche Resultat gesellschaftlicher Kämpfe: Der Gesetzesentwurf der Bundesregierung ist durch jahrelange trans* feministische und queere Kämpfe genauso geprägt wie vom organisierten Backlash rechter und konservativer Kräfte bis hin zu trans*feindlichen, selbst­ernannten Feminist*innen. Die Bundesbeauftragte für Antidiskriminierung Ferda Ataman kritisierte zurecht das Einknicken der Ampel-Regierung vor dem trans*feindlichen gesellschaftlichen Gegenwind. Während die Auseinander­setzungen um das Selbstbestimmungsgesetz zur Zeit unseres Schreibens andauern – Initiativen wie TransInterQueer (Triq) fordern grundlegende Änderungen ein und das Bündnis «Selbstbestimmung selbst gemacht» hat aus trans* und nicht-binären Perspektiven heraus einen alternativen Gesetzentwurf erarbeitet – urteilte das Bundessozialgericht gegen die Kostenübernahme für sogenannte geschlechtsangleichende Operationen für nicht-binäre Menschen. Das Urteil spiegelt Versuche der Krankenkassen, Kosten zu sparen und zugleich die unzureichende rechtliche Absicherung von trans* Gesundheitsversorgung insgesamt. Strukturelle Trans*feindlichkeit und Logiken neoliberaler Kürzungs­politik drohen hier noch stärker in Weisen ineinander zu greifen, wie wir sie unterschiedlich bereits in Großbritannien oder den USA erleben.

Die Grenzen liberaler LGBTIQ*-Politik werden insbesondere angesichts der aktuellen Krisen im neoliberalen Alltag immer deutlicher. Selbst Teil des kapitalistischen Diversity Managements, greift diese Politik systematisch zu kurz, wenn es um ein kritisches Verständnis der Verschränkung von strukturellen Gewaltverhältnissen mit Ausbeutung und Herrschaft geht.

Ein Kaleidoskop unterschiedlicher Erfahrungen und Perspektiven

Die in diesem Band versammelten Texte verbindet aus unserer Sicht ein not­wendiger Spagat zwischen Intersektionalitäts- und Klassenperspektive – oder, anders formuliert, die Frage: Wie können wir Klasse intersektional, also mit Differenz, denken (vgl. auch Becker 2018)?

Um den Klassenbegriff queer aneignen zu können, müssen wir den Blick auf Zusammenhänge zwischen Klasse und queeren prekären Leben erweitern. Dabei geht es auch darum, dem Wissen über Klasse queere Perspektiven einzu­schreiben. Dies schließt ein, Geschichten von Klasse und Klassenkämpfen aus der Sicht unterschiedlicher queerer Klassenerfahrungen anders zu erzählen. Im Fokus dieses Bandes steht also nicht die eine queere Klassenperspektive. Die Bei­träge lassen vielmehr ein Kaleidoskop gelebter Klassenerfahrungen, politischer Reflexionen und solidarischer Praxen entstehen: Aktivistische Perspektiven, das Teilen eigener Erfahrungen in unterschiedlichen erzählerischen Formen und eher theoretisch-analytische Zugänge stehen nebeneinander.

Queere Prekarität hat viele Gesichter. Die Erfahrungen von Queers und trans* Menschen in unterschiedlichen Lohnarbeitsverhältnissen sind ein wichtiges Thema. Dazu gehören prekäre Jobs und informelle Arbeit, auch Sexarbeit (vgl. den Beitrag von Caspar Tate). Trans* und trans*feminine Erfahrungen stehen im Fokus mehrerer Beiträge im ersten Teil des Buches: «Trans*feministische Perspektiven auf Prekarität». Zoe Steinsberger nimmt etwa Transitions­erfahrungen und die besondere Prekarität trans*femininer Beschäftigter in den Blick. Von ihnen wird verlangt, vorherrschende zweigeschlechtliche, sexistische Geschlechter-, Körper- und Gesundheitsnormen zu erfüllen, um als produktive Arbeitskraft anerkannt zu werden. Mit Mehrfach-Belastungen, Verletzungen und Prekarität müssen sie individuell umgehen. Im Interview mit Beth und Luca geht es auch um die Idee einer militanten Befragung, die kollektive solidarische Umgangsweisen und Care-Politiken stärkt. Immer wieder werden in den Beiträgen die psychischen und gesundheitlichen Folgen von Prekarität, Diskriminierung und Gewalt thematisiert – wie auch die Suche nach kollektiven und politischen Antworten darauf. Die Organisation von trans* Care bleibt prekär (vgl. F. Seeck in diesem Band sowie die Beiträge in Appenroth/Castro-Varela 2019).

Zu den Lebensbedingungen vieler trans* und queerer Menschen gehört, dass der Zugang zu Gesundheitsversorgung eingeschränkt ist und es an einer Infra­struktur für queer- und trans*spezifische Gesundheitsversorgung mangelt. Auch Altersarmut zählt für viele zu den großen Risiken. Es fehlt flächendeckend an Infrastruktur für queeres Leben und für Sorge umeinander im Alter. Zahlreiche Beiträge in diesem Band gehen auf Zusammenhänge intersektionaler Gewalt ein: von Rassismus und Antiziganismus, queeren und Klassenerfahrungen; von cis-Normativität, Trans*Feindlichkeit und Trans*Misogynie. Im Text von Jutta Brambach etwa geht es nicht nur um den Kampf um ein Wohnprojekt, sondern in Verbindung damit auch um die oft unsichtbare Prekarität von Lesben und Dykes im Alter. Yishay Garbasz schildert ihre Erfahrungen als dyslexische Person (mit einer Lese- und Schreibbehinderung). Unterschiedliche Beiträge thematisieren Klassismus, Rassismus und Erfahrungen der Marginalisierung innerhalb linker und queerer Kontexte (vgl. u.a. die Beiträge von Queeraspora Bremen und Kes Otter Liefe).

Eine politisch folgenreiche Leerstelle in unserem Buch, das wollen wir auch so benennen, sind aber Prekaritäts-Erfahrungen von Menschen mit Behinderung und von neurodiversen Menschen. Ableismus-kritische Perspektiven, die sich mit gesellschaftlichen Behinderungen und Gewalt auf Grund von Gesundheits-, Körper- und Produktivitätsnormen auseinandersetzen, kommen in diesem Band systematisch zu kurz.

Unteilbare Solidarität?

Die Beiträge im zweiten Teil des Buchs «Unteilbare Solidarität - intersektionale Allianzen» reiben sich an Machtverhältnissen in Bewegungen, mit denen ein Umgang gefunden werden muss. Dies zeigen etwa die oft schwierigen Beziehungen zwischen linken, feministischen, antirassistischen und queeren Politiken.

Die transnationale Dimension intersektionaler Politiken taucht in unserem Buch an unterschiedlichen Stellen auf. Ausgehend vom historischen Blick lotet Nađa Bobičić mögliche Allianzen zwischen queeren, feministischen und linken Bewegungen in der heutigen Region Ex-Jugoslawiens aus. Aktuelle Projekte im heutigen Jugoslawien, in denen sich unterschiedliche Politiken kreuzen und neu verknüpfen, rücken dabei in den Fokus.

Die Macht des Erinnerns, Affekte wie Trauer und Wut, sind ein wichtiger Teil intersektionaler Politiken. Ausgehend von der eigenen (Familien-)Geschichte schreibt Simonida Selimović Rom*nja-Empowerment. Viele Rom*nja sind bis heute von Armut, rassistischer und antiziganistischer Gewalt betroffen, werden aber aus einer Vielzahl von Identitäten – z.B. aus nationalen Identitäten und Vorstellungen von Klasse – systematisch ausgeschlossen. Gegen-Erinnern ist Empowerment und kann zu Allianzen beitragen, die unterschiedliche Zuge­hörigkeiten anerkennen und transformativ verändern. Masha Beketova schreibt über den «Marzahn Pride» im Berliner Arbeiter*innen-Bezirk Marzahn als utopischen Ort queer-migrantischer Gegenöffentlichkeit. Es wird ein Raum geschaffen, in dem sich queere postsowjetische Migrant*innen angesichts der Erfahrungen von Marginalisierung und verzerrenden Zuschreibungen in der Diaspora empowern. Ahmed Awadallas Beitrag wiederum erinnert an die queere Aktivist*in und Kommunist*in Sarah Hegazi, ihr durch revolutionäre Arbeit, Erfahrungen von Homophobie, Flucht und Rassismus geprägtes Leben. Dabei wird eine transformative Kraft des Vergebens als Teil queerer und linker Politiken reflektiert.

Inga Nüthen plädiert dafür, Ausbeutungsverhältnisse intersektional in den Blick zu nehmen, als «Kern kapitalismuskritischer Perspektiven der Solidarität», die ihren gemeinsamen Horizont «von den Rändern her» bestimmen (s. ebd.). Eine solche Solidarität, die Erfahrungen von machtvoller Differenz zur Grundlage nimmt, statt diese im Namen vermeintlich homogener gemeinsamer Interessen auszublenden, muss in konkreten Praxen entwickelt werden.

Tarek Shukrallah re-konstruiert unterschiedliche (historische wie gegenwärtige) queere, antirassistische (Klassen-)Kämpfe und plädiert von diesen ausgehend für ein Verständnis «situierter Solidarität».

Die Beiträge im zweiten Teil des Bandes verweisen auf sehr unterschiedliche Praktiken queerer Solidarität – und zeigen Spannungsverhältnisse auf: Emilia Roig betont im Interview aus Schwarzer feministischer Perspektive die Kraft einer «klaren und starken Vision» für transformative Bewegungen wie Black Lives Matter. Das Interview mit Jennifer Ramme zu den konkreten Solidaritäts­praxen der feministischen Streikbewegung in Polen verweist auf das notwendige Spannungsverhältnis zwischen intersektionalen und popularen (im Alltag der unteren Teile der Gesellschaft spürbaren und breit verankerten) Bewegungen.

Für intersektionale Klassenperspektiven

Dieser Band ist auch ein Plädoyer dafür, Klasse und Klassenkampf als herr­schaftskritische Begriffe, die auf die Überwindung kapitalistischer Ausbeutungs-, Gewalt- und Herrschaftsverhältnisse zielen, queer anzueignen. Ein undog-matischer marxistischer Begriff von Klasse verweist auf Zusammenhänge von gesellschaftlicher Arbeitsteilung, Ausbeutung, Gewalt und Herrschaft (vgl. die Beiträge in Candeias 2021) – und eben nicht nur auf eine Vielzahl unterschied­licher Unterdrückungserfahrungen.

Isoliert oder gar als Gegensätze betrachtet, verlieren Begriffe wie Klasse, Gender, ‚race‚, Sexualität, ability an Erklärungs- und politischer Kraft. Die kapitalistische Produktions- und Lebensweise ist mit patriarchalen, sexistischen, hetero­normativen, rassistischen und kolonialen Verhältnissen untrennbar verwoben. Auch die Kämpfe dagegen lassen sich also nicht voneinander trennen (vgl. zu Dimensionen intersektionaler Gewalt Fütty 2019; zu Intersektionalität und Marxismus vgl. Bohrer 2019). Dennoch erleben wir immer wieder, dass auch in kritischen marxistischen Ansätzen und politischen Diskussionen um «ver­bindende Klassenpolitik» queere, trans* und intersektionale Erfahrungen immer noch ein – vorsichtig formuliert – randständiges Dasein führen. Umgekehrt wird seit Längerem aus queeren und rassismuskritischen Perspektiven heraus eine Ent-Politisierung der akademischen Intersektionalitätsdiskussion kritisiert (vgl. Erel u. a. 2010).

Im dritten Teil des Bandes geht es daher um Suchbewegungen aus unterschied­lichen herrschaftskritischen Perspektiven auf das Verhältnis von Intersektionalität und Klasse. Sie beziehen sich unter anderem auf Schwarzen und postkolonialen Feminismus, feministische Rassismuskritik und marxistische Hegemonietheorie (vgl. die Beiträge von Denise Bergold-Caldwell, María do Mar Castro Varela, Gianmaria Colpani, Atlanta Ina Beyer, Jules Gleeson & Elle O´Rourke). Denise Bergold-Caldwell rekonstruiert Verbindungslinien unterschiedlicher Konzepte der Intersektionalität beim Combahee River Collective, Kimberlé Crenshaw und María Lugones. Atlanta Ina Beyer bezieht sich auf Ansätze Schwarzer queerfeministischer Wissensproduktion (u. a. Cathy Cohen und Charlene Carruthers) und lässt so eine Kontrastfolie zur heutigen polarisierten Diskussion um Klassen- vs.- Identitätspolitik entstehen. Atlanta Ina Beyer, Gianmaria Colpani, Tarek Shukrallah und Inga Nüthen reflektieren auf je unterschiedliche Weise theoretische und bewegungspolitische Alternativen zum vermeintlichen Gegensatz von Klasse und Identität. Colpani erinnert an Stuart Halls Verständ­nis von Politiken um Identität und seine Kritik des autoritären Populismus. Davon ausgehend macht er Ansätze der Queer of Color-Kritik für eine queere hegemonietheoretische Perspektive produktiv. Die Texte von Beyer, Colpani, Bergold-Caldwell und Shukrallah beziehen sich auch auf Prozesse der politischen Neuzusammensetzung in sozialen Bewegungen wie Black Lives Matter, in denen andere Imaginationen von Klassen-, queeren und antirassistischen Kämpfen ent­stehen. Bergold-Caldwells Text endet mit dem Plädoyer: «Eine emanzipatorische kollektive Identitätspolitik zielt auf ein neues, gegen-hegemoniales Subjekt, das abolitionistisch und herrschaftskritisch gedacht wird.»

María do Mar Castro Varela und Jules Gleeson/Elle O‚Rourke zeigen auf sehr unterschiedliche Weise auf, wo der Begriff Klassismus zu kurz greift, um Klasse als gesellschaftliches Herrschaftsverhältnis zu fassen. Eine Besonderheit ist, dass materialistische trans*feministische und trans*marxistische Perspektiven in diesem Buch einen wichtigen Stellenwert einnehmen (vgl. die Beiträge von Claudia Sofía Garriga-López, J. Gleeson/E. O‘Rourke, Z. Steinsberger sowie L. Becker). Insofern ist das Buch auch ein Beitrag zu einer auch hierzulande stärker werdenden pluralen queer- und trans*materialistischen Diskussion (vgl. auch Beier 2023, Laufenberg/Trott 2023, Beyer 2024, Gleeson/O‘Rourke 2021).

Ausblick

Es ist Zeit zurückzubeißen. Mit Blick auf die sich aktuell zuspitzenden Bedingungen eines zunehmend autoritären Kapitalismus, der Klimakrise und der Gefahr durch die neofaschistische Rechte muss es um breit getragene Politiken eines solidarischen Überlebens und darum gehen, über Grenzen hinweg «miteinander werden» zu können, wie es die queere sozialistische Feminist*in Donna Haraway vorschlägt (Haraway 2018). Zugleich brauchen wir «neue Organisationsformen, die einen machtvollen Vorgriff auf die Zukunft durch­setzen» (Bhattacharya 2018). Angesichts der Kriege und alltäglichen Gewalt­verhältnisse, die uns manchmal eher (ver)zweifeln lassen, ist das scheinbar leicht gesagt. Neue Formen der «Intersektionalität der Kämpfe», wie Angela Davis es nennt (2022), sind aber bereits in der Welt. Intersektionale Feminismen, die sich nicht an den Rand von Bewegungen und progressiven Kräften drängen lassen oder sich auf (notwendige) eigene Räume beschränken, versuchen, populär und popular zu werden. Intersektionale queere und trans*feministische Perspektiven ermöglichen neue Bündnisse – ob sie zustande kommen und wie weit sie tragen, hängt nicht allein von trans* Menschen und Queers ab.

Literatur

Appenroth, Max Nicolai/ Castro Varela, María do Mar (Hg.) (2019): Trans & Care: Trans Personen zwischen Selbstsorge, Fürsorge und Versorgung. Bielefeld.

Becker, Lia (2018): New Queens on the block. Transfeminismus und neue Klassenpolitik. In: Zeitschrift Luxemburg (Online-Ressource). zeitschrift-luxemburg.de/artikel/new-queens-on-the-block/ 

Bhattacharya, Tithi (2018): Auf dem Dachboden der Geschichte kramen. Klassengedächtnis, Klassenkampf und die Archivar*innen der Zukunft. In: Zeitschrift Luxemburg (Online-Ressource). zeitschrift-luxemburg.de/artikel/auf-dem-dachboden-der-geschichte-kramen/ 

Beier, Friederike (Hg.) (2023): Materialistischer Queerfeminismus. Theorien zu Geschlecht und Sexualität im Kapitalismus. Münster.

Beyer, Atlanta Ina (2018): Dein Geschlecht gehört Dir, Proletarier*In! In: Zeitschrift Luxemburg (Online-Ressource). Wie wir den Klassenkampf verqueeren können. zeitschrift-luxemburg.de/artikel/dein-geschlecht-gehoert-dir/

Dies. (2024): Queer Punk Utopien. Ästhetische Strategien und Re-/Visionen politischer Kollektivität bei Limp Wrist, Tribe 8 und Cristy C. Road. Bielefeld (i.E.).

Bohrer, Ashley (2019): Marxism and Intersectionality. Race, Gender, Class and Sexuality under Contemporary Capitalism. Bielefeld.

Candeias, Mario (Hg.) (2021): Klassentheorie – Vom Making und Remaking. Hamburg.

Davis, Angela (2022): Freiheit ist ein ständiger Kampf. Münster.

Erel, Umut/Haritaworn, Jin/Gutiérrez Rodríguez, Encarnación/Klesse, Christian (2010): On the Depoliticisation of Intersectionality Talk. In: Yvette Taylor, Sally Hines, Mark E. Casey (Hg.): Theorizing Intersectionality and Sexuality. London.

Fütty, Tamás Jules (2019): Gender und Biopolitik. Normative und intersektionale Gewalt gegen Trans*Menschen. Bielefeld.

Gleeson, Jules/O‘Rourke, Elle (Hg.) (2021): Transgender Marxism. New York.

Haraway, Donna (2018): Unruhig bleiben. Die Verwandtschaft der Arten im Chthuluzän. Frankfurt a.M.

Hollibaugh, Amber/Weiss, Margot (2015): Queer Precarity and the Myth of Gay Affluence. In: New Labor Forum, 24(3), 18-27.

Laufenberg, Mike/Trott, Ben (Hg.) (2023): Queer Studies. Schlüsseltexte. Frankfurt a.M.

Taylor, Yvette (2023): Working-Class Queers. Time, Place and Politics. London.

Wuest, Joanna (2023): Gezielte Grausamkeit. Das Kapital und die trans*feindliche Agenda. In: Zeitschrift Luxemburg (Online-Ressource). zeitschrift-luxemburg.de/artikel/gezielte-grausamkeit/ 

Inhalt

Teil I Trans* Leben und Prekarität – trans* feministische Perspektiven

  • Yishay Garbasz: «Niemand zurücklassen». Über systemische Gewalt und Überleben, Kunst und queere Politik
  • Kes Otter Lieffe: Mein Gender ist Prekarität
  • Maja Tegeler: Trans*at work. unsichtbar, prekär, kreativ
  • Lia Becker im Gespräch mit Beth und Luca: Erfahrungen mit trans* Sein, prekärer Arbeit in Gastronomie und auf dem Bau in Berlin
  • Caspar Tate: Straßenstrich
  • Zoe* Steinsberger: Das Unprivatisierbare privatisieren – Trans*weiblichkeit in postfordistischer Lohnarbeit
  • Francis Seeck: Trans* Prekarität Warum wir eine trans* und nicht-binäre Klassenpolitik brauchen
  • Lia Becker: Schnitte durch die «zweite Haut». Über Gender-Gewalt und Heilung, Klasse und trans*feministische Allianzen

Teil II Unteilbare Solidarität - intersektionale Allianzen

  • Claudia Sofía Garriga-Lopez: Mikropolitiken und trans*feministische Politische Ökonomie in Ecuador
  • Nađa Bobičić: Queer, Feminismus und die Linke im postsozialistischen Jugoslawien
  • Ahmed Awadallah: Über Vergeben und queeres Erinnern Im Gedenken an Sarah Hegazi
  • Jennifer Ramme: Der Streik der «gewöhnlichen» Frauen und feministische Allianzen in Polen
  • Jutta Brambach: Frauenraum in Frauenhand bleibt ein Traum – über lesbisches Leben im Alter, Wohnen und soziale Ungleichheit
  • Masha Beketova: Marzahn Pride. Queere Gegenöffentlichkeit oder Liebesbrief an ein Phantasma?
  • Simonida Selimović: Romni, Rom, Roma - Na und?
  • Queeraspora: Queer BIPoC Aktivismus: Eine Bestandsaufnahme von Queeraspora Breme
  • Tarek Shukrallah: Von Kämpfen lernen. Queere, antirassistische und Klassenkämpfe verbinden
  • Inga Nüthen: Queer*feministische, antikapitalistische Politiken: Solidarität und die Bedingung von Differenz und Relationalität

  • Emilia Roig: Mit einer klaren und starken Vision funktionierts am besten. Ein Gespräch über Intersektionalität und Allianzen im Kampf gegen Rassismus

Teil III Klasse in Bewegung. Suchbewegungen (nicht nur) in der Theorie

  • Denise Bergold Cauldwell: Schwarze Leben zählen – oder warum die generelle Gegenüberstellung von Identitätspolitik und wirklicher Herrschaftskritik fehlschlägt. Ein Nachdenken aus Schwarzer feministischer Perspektive
  • Gianmaria Colpani: Intersektionalität und Hegemonie Notizen zum materialistischen Turn in der Queer-Theorie
  • Atlanta Ina Beyer: Über Klasse sprechen: Dinge, die ich von Schwarzen Queerfeminist*innen lerne
  • Jules Gleeson & Elle O’Rourke: Transgender-Marxismus Warum Marxismus für trans* Befreiung unverzichtbar ist
  • María do Mar Castro Varela: Queere Klassen-Arithmetik Klassenkämpfe und die Macht der Beschämung