Nachricht | Krieg / Frieden - Israel - Palästina / Jordanien - Krieg in Israel/Palästina Rache taugt weder als Strategie noch als Taktik

Eine palästinensische Perspektive auf den Krieg

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Najat Abdulhaq,

al-Ahli Krankenhaus, Gaza Stadt, 18.10.2023: Zwei Männer umarmen sich, um sich zu trösten
al-Ahli Krankenhaus, Gaza Stadt, 18.10.2023 Foto: Mohammed Zaanoun/ActiveStills

Seit dem 7. Oktober 2023 sind die Tage anders: Der gewalttätige Angriff der Hamas auf Israel hat eine neue Ebene des Widerstandes gezeigt, die sowohl Israel als auch die Palästinensische Autonomiebehörde (PA) in Ramallah erst in Verlegenheit und dann in Bedrängnis gebracht hat.

Najat Abdulhaq ist deutsch-palästinensische Wissenschaftlerin und Journalistin. Sie studierte Volkswirtschaft an der Bir Zeit Universität in Ramallah und an der Universität Leipzig und promovierte an der Universität Erlangen im Bereich Nahost-Studien.  Derzeit unterrichtet an der Bir Zeit Universität.

Die Gewalt, die Hamas bei ihrem Angriff ausgeübt und die ca. 1.400 israelische Menschenleben gekostet hat, die Gefangennahme einer dreistelligen Zahl an Geiseln (Soldat*innen und Zivilist*innen) und das Versagen der israelischen Hightech-Sicherheitssysteme[1] gegen einen Angriff von Kämpfern aus dem seit 17 Jahren abgeriegelten Gazastreifen ist eine Zäsur. Dieser Angriff erlaubte Israel, auf Grundlage des Rechts auf Selbstverteidigung, einen massiven Krieg gegen den Gazastreifen zu starten. Die unzähligen Luftangriffe und Tausende vom Bomben, die seit Kriegsbeginn auf den Gazastreifen abgeworfen werden, töteten bislang (26.10.2023, Anm. d. Red.) 7.028 Palästinenser*innen, darunter zwei Drittel Kinder und Frauen. Sie verursachten zudem die vollständige Zerstörung von 16.441 Wohnungen (45% der Wohnungen)[2], ein Ausmaß an Zerstörung, die der Gazastreifen nie zuvor erlebt hat. Dies sind die Ereignisse und Resultate auf den ersten Blick, allerdings ist der 7. Oktober 2023 ein Wendepunkt für Vieles in diesem schmalen Landstreifen, in dem Palästinenser*innen und Israelis seit 1948 mehr oder weniger gezwungen sind, neben- oder miteinander zu leben.

Für die Palästinenser*innen ist dies ein Vernichtungskrieg mit einer Tendenz zum Genozid[3] und eine weitere ethnische Säuberung, die die kollektiven Erfahrungen und Erinnerungen an die Nakba, die Vertreibung der Palästinenser*innen in 1948, wieder hervorrufen. Weiterhin befinden sich die Palästinenser*innen in einer Situation, in der internationale Politiker*innen und die sogenannte internationale Gemeinschaft den Kontext des gewalttätigen Hamas-Angriff ignorieren oder verdrängen und uneingeschränkte Solidarität mit der Besatzungsmacht und den israelischen Opfern zum Ausdruck bringen. Europa und der Westen dulden seit 2007 die Belagerung der Zivilist*innen im Gazastreifen. Seit 10. Oktober gibt einen Einfuhrstopp von Lebensmitteln und Kraftstoff nach Gaza, zeitweise wurde die komplette Kommunikations- und Internetverbindung eingestellt. Der gesamte Gazastreifen liegt in Dunkelheit und Stille, nur der Lärm der Bomben ist zu hören.  

Gleichzeitig wird eine Antipathie und sogar eine Entmenschlichung gegenüber den Palästinenser*innen zum Ausdruck gebracht, in dessen Kontext zugelassen wird, dass wehrlose Zivilist*innen getötet werden. Und das trotz der Tatsache, dass Zivilist*innen nach internationalem Völkerrecht Schutz genießen sollten.[4] Die politischen Stellungnahmen der europäischen Länder, der EU und der USA berufen sich auf eine einseitige Perspektive des Völkerrechts, nach der Israel das Recht gegeben wird, sich zu verteidigen. Die Verantwortung für den Schutz von Zivilist*innen wird dabei vollkommen ignoriert.

In diesen Tagen sind die Palästinenser*innen vereint, unabhängig davon, wie sie geographisch und sozial situiert sind. Sie alle schauen Nachrichten im Fernsehen und verfolgen die Nachrichten in den Sozialen Medien. Sie verbringen schlaflose Nächte in der Hoffnung, dass das Wachbleiben und das Wissen, was passiert, das Leid der Menschen in Gaza mildert. Sie wollen den Schrecken in Häppchen verdauen, anstatt jeden Morgen mit einem neuen Schock aufzuwachen. Alle fordern eine Waffenruhe, den Stopp der Kriegsmaschinerie und eine Vereinbarung zur Befreiung der Geiseln.  

Auf offizieller Ebene: Nach einem relativ langen Schweigen seitens des palästinensischen Präsidenten Mahmoud Abbas und weiterer Funktionäre der PA äußerte sich Abbas während eines Besuchs in Jordanien am 12. Oktober und verurteilte die Gewalt gegen Zivilist*innen. Er sagte: «Wir lehnen die Praktiken der Tötung oder Misshandlung von Zivilisten auf beiden Seiten ab, weil sie gegen Moral, Religion und Völkerrecht verstoßen».[5] Abbas bietet jedoch außer Statements keine Alternativen oder Lösungsansätze und hat sich in den  Zuschauermodus begeben, anstatt zu handeln. 

Die Massivität des Tötens führt zu einer Art Lähmung im Alltag. Eine Mischung aus Wut auf Regierungen der «zivilisierten» Welt, die ohne mit der Wimper zu zucken schweigend dieses Töten erlauben, und Machtlosigkeit. Palästinenser*innen an den verschiedenen Orten versuchen trotzdem ihren Alltag weiterzuführen, wobei zwei Themen vorherrschend sind: Solidarität und Unterdrückung. Einerseits gibt es eine starke, weltweite Solidaritätsbewegung, in die auch viele Juden und Jüdinnen involviert sind[6] und die Tausende von Menschen auf die Straßen der Hauptstädte gebracht haben. Andererseits gibt es eine massive Unterdrückung der palästinensischen Perspektive, insofern, dass die freie Meinungsäußerung der Palästinenser*innen, sei es auf den Straßen von Berlin oder in den Sozialen Medien, zensiert werden.[7] In Israel werden palästinensische Staatsbürger*innen Israels verhaftet wegen ihres Engagements in den Sozialen Medien.[8]

Die Reaktionen der israelischen Armee haben auch in der West Bank neue Dimensionen erreicht, so wurde die Luftwaffe kürzlich gegen eine Stellung der Palästinenser*innen im Flüchtlingslager Jenin eingesetzt, das erste  Mal  seit  der zweiten Intifada im Jahr 2002.[9] Durch die Angriffe des Militärs und durch  Siedler*innen haben seit Beginn des Krieges 102 Menschen in der West Bank ihr Leben verloren. Eine weitere Dimension der Unterdrückung geht von Polizei und Sicherheitsapparat der PA aus, die nach dem 7. Oktober symbolisch und faktisch an Macht verloren haben. Die Gaza-Solidaritäts-Demonstrationen in den verschiedenen Städten in der West Bank wurden ihrerseits mit Tränengas angegriffen,[10] es gab einen Toten und zahlreiche Verletzte.[11]

Was nun, ist die große Frage, die die Menschen beschäftigt: Rache taugt weder als Strategie noch als Taktik, das gilt für Palästinenser*innen, Israelis ebenso wie für die internationale Gemeinschaft und die Geldgeber*innen. Die internationale Gemeinschaft hat in den letzten 20 Jahren in ihrer Rolle als Mediator und «Wächter» des Friedensprozesses versagt. Indem sie ein Auge bei den undemokratischen Praktiken der PA  zugedrückt  hat, u.a. bei der Annullierung der Wahlen im Frühjahr 2021[12], und zwar scheinbar deshalb, weil sie ahnten, dass die Partei des palästinensischen Präsidenten in einem demokratischen Prozess die Wahlen verlieren würde. Oder auch, wenn sie bei der Erweiterung der illegalen Siedlungen und der Belagerung des Gazastreifens einfach zugeschaut hat. In diesem Krieg hat sie ihre eigenen Prinzipien der Gleichheit, Freiheit und Gerechtigkeit verraten.

Mit jedem zusätzlichen Tag, an dem der Krieg auf Gaza anhält, verliert die PA mehr Vertrauen in der eigenen Bevölkerung, was wiederum neue Probleme in der West Bank schaffen kann. Auch die Szenarien, die von israelischer Seite für den Tag nach dem Krieg zu hören sind, sind noch völlig unklar, sicherheitstechnisch nicht nachhaltig, geschweige denn demokratisch, wenn man ein Statement des israelischen Verteidigungsministers Yoav Gallant hört: Das Ziel sei "die Beseitigung der Verantwortung Israels für das Leben im Gazastreifen und die Schaffung einer neuen Sicherheitsrealität für die Bürger Israels" und "für die Region".[13] Auch das angekündigte Einfrieren der Fördermittel für die palästinensische Zivilgesellschaft wird diese massiv schwächen und im Gegenzug die undemokratische PA stärken.  

Die israelische Bevölkerung wird keinen Frieden finden, solange die Rechte der Palästinenser*innen nicht ehrlich und tatsächlich anerkannt und respektiert werden. Die Geschichte seit 1948 hat gezeigt, dass immer neue Gruppierungen entstehen können, die bereit sind, den Kampf aufzunehmen, da die jungen Menschen in der Tat nichts zu verlieren haben. Die Wahl der militärischen Option und die Ablehnung von Verhandlungen zur Freilassung der Geiseln haben Israelis, Palästinenser*innen und die internationale Gemeinschaft in eine Sackgasse manövriert, in der noch unklar ist, welche Auswege jenseits der Kriegsoption möglich sind. Arie M. Dubnov, Historiker und Professor für Israel-Studien an der George Washington University in Washington, DC., hat in einem Artikel jüngst zu Verhandlungen aufgerufen.[14] Ich stimme dem zu.