Nachricht | Wirtschafts- / Sozialpolitik - Südliches Afrika - Commons / Soziale Infrastruktur Südafrika: Weiterhin eine Nation der zwei Volkswirtschaften

Auch 30 Jahre nach der Apartheid bleibt das Land eine der ungleichsten Gesellschaften der Welt.

Information

Autor

Roland Ngam,

Kinder spielen in der «temporären Notunterkunft» im Wembley-Stadion in Turffontein, die nach dem verheerenden Brand des Cape-York-Gebäudes in Hillbrow, Johannesburg, im Jahr 2017 für die Vertriebenen zur Verfügung gestellt wurde. Was als kurzfristige Lösung gedacht war, hat sich zu sechs Jahren erbärmlicher Lebensbedingungen ausgeweitet. Die katastrophalen Bedingungen haben viele dazu veranlasst, nach alternativen Unterkünften zu suchen, was das Versagen der Stadt bei der Bereitstellung angemessener Unterstützung für gefährdete Bevölkerungsgruppen in Krisenzeiten deutlich macht. Foto: Jodi Bieber

1. Einleitung

Als die Menschen in Südafrika zum ersten Mal die langen Warteschlangen sahen, reagierten sie schockiert und entsetzt. Es war der Beginn der Covid-19-Pandemie und Präsident Cyril Ramaphosa hatte kurzfristig eine strenge Ausgangssperre verhängt. Die ganze Nation war aufgerufen, zu Hause zu bleiben. Drei Monate lang sollten die Geschäfte geschlossen bleiben. Nur Ärzt*innen, Pflegepersonal, Polizei, Journalist*innen, Müllabfuhr und andere unverzichtbare Dienstleister*innen durften Tag und Nacht auf die Straße. Eine allgemeine Panik brach aus, als die Bevölkerung versuchte, sich mit Lebensmitteln und anderen Dingen des täglichen Bedarfs einzudecken. Es zeigte sich schnell, dass die Mehrheit der Südafrikaner*innen über keinerlei Ersparnisse verfügte und sich bei Lohnausfall nicht länger als zwei oder drei Tage versorgen konnte. Staatliche Stellen, Nichtregierungsorganisationen und andere Zuwender*innen griffen ein und verteilten Lebensmittelpakete. Die erschütternde Zahl der Menschen, die unterhalb der Armutsgrenze von 15.581 Rand[1] (etwa 80 US-Dollar) pro Monat lebten, musste wachrütteln. Präsident Cyril Ramaphosa kündigte daraufhin eine staatliche Unterstützung von 350 Rand pro Monat (20 US-Dollar) an, um den Menschen zu helfen, die Ausgangssperre zu überstehen. Soziale Organisationen warfen der Regierung vor, diesbezügliche Warnungen überhört zu haben. Sie betonten, dass die seit über 30 Jahren vom Afrikanischen Nationalkongress (ANC) verfolgte Trickle-Down-Ökonomie die Mehrheit der Schwarzen Bevölkerung Südafrikas nur unzureichend aus der Armut geholt habe. Es war an der Zeit, etwas zu verändern.

Roland Ngam arbeitet als Programmleiter im Bereich Klimagerechtigkeit für das Büro der Rosa-Luxemburg-Stiftung in Johannesburg.

Dreißig Jahre nach der Demokratisierung ist Südafrika noch immer ein Land zweier Nationen, wie es der ehemalige Präsident Thabo Mbeki einmal treffend beschrieben hat. Der Traum von wirtschaftlicher Freiheit nach der Apartheid hat sich nicht erfüllt. Das Problem der Armut bleibt, um die berühmten Worte des bedeutenden afroamerikanischen Gelehrten William Edward Burghardt Du Bois aufzugreifen, «das Problem der Color-Line». Statt des lange versprochenen großen Sprungs nach vorn für die Schwarze Mehrheit gibt es eine immer größer werdende Kluft zwischen den beiden Südafrikas, die zu beunruhigenden wie umstrittenen Aussagen geführt hat, wie etwa, dass es den Schwarzen während der Apartheid besser gegangen sei. Weiße Südafrikaner*innen besitzen noch immer beinahe den gesamten Reichtum des Landes. Für die Schwarze Bevölkerung hat sich zwar einiges aber nichts grundsätzlich geändert. Die große Mehrheit ist nach wie vor in mehrdimensionaler Armut gefangen. Gleichzeitig besteht ein Stadt-Land-Gefälle, wobei sich der Großteil des nationalen Wohlstands in städtischen Enklaven konzentriert, während in ländlichen Gebieten Armut und Vernachlässigung vorherrschen.

Der ländliche Raum scheint vielerorts abgehängt und verlassen. Er ist geprägt von einer allgegenwärtigen Apartheid-Geografie mit ihrem hohen Anteil an informellen Siedlungen. Die Gemeinden leiden unter Korruption und einem schlechten Dienstleistungsangebot, was die Probleme in den Bereichen Gesundheitswesen, Verkehr, Schulen und Sicherheit noch verschärft. Die seit dem «Volkskongress»[2] von 1955 geforderte Landreform wurde bis heute nicht umgesetzt. Diese Tatsache verstärkt in der Schwarzen Bevölkerung das Gefühl, verraten worden zu sein und hat den ANC zum Angriffsziel politischer Parteien, insbesondere der Economic Freedom Fighters (EFF), und anderer Aufwiegler*innen gemacht. Die massiven Unruhen im Juli 2021, die nach der Inhaftierung des ehemaligen Präsidenten Jacob Zuma wegen Missachtung des Gerichts zu einer Woche der Plünderungen und mutwilligen Zerstörung von Privateigentum führte, unterstreichen das Ausmaß der Missstände und die Sehnsucht nach Veränderung in Südafrika.

Die Covid-19-Pandemie hat viele Errungenschaften aus der Zeit vor der Pandemie zunichte gemacht. Die Zahl der Schulabbrecher*innen stieg an. Tausende Betriebe wurden geschlossen, einige davon für immer, und viele Beschäftigte der verbleibenden Betriebe wurden entlassen. Die aufgrund der alternden Kohleindustrie schwankende Stromversorgung hat die Wirtschaft des Landes seit 2019 mindestens 50 Milliarden US-Dollar gekostet. Seit Beginn der Lastabschaltungen, einer Form von Stromrationierung im Jahr 2007, hat sich diese Zahl mehr als verdoppelt. Korruption und Misswirtschaft in wichtigen öffentlichen Sektoren sind weitere Gründe für einen drohenden Wirtschaftskollaps in vielen Teilen des Landes.

Dennoch besteht kein Zweifel daran, dass Südafrika auf dem richtigen Weg ist. Das Land ist nach wie vor, so eine Werbung der öffentlichen Radio- und Medienanstalt SABC, «lebendig und voller Möglichkeiten». Die Herausforderung besteht jedoch darin, alle Bürger*innen an diesem Wohlstand teilhaben zu lassen. Dieser Text befasst sich mit den Versuchen des ANC, ein lebenswertes Südafrika für alle zu schaffen. Er untersucht kritisch, warum der Grundsatz der Freiheitscharta – «Das Volk soll am Reichtum des Landes teilhaben» – auch drei Jahrzehnte nach Beginn der Regierung der Schwarzen Mehrheit ein unerreichtes Ziel bleibt. Nicht zuletzt zeigt er, dass viele grundlegende Aspekte der nationalen Frage, insbesondere die Landfrage und die Wirtschaftspolitik, zu lange aufgeschoben wurden und dringend neu angegangen werden müssen, um das Projekt der Regenbogennation wieder auf Kurs zu bringen.

2. Historischer Kontext

Die Kolonisierung Südafrikas durch die Siedler*innen war eine alle Lebensbereiche betreffende Gewalterfahrung. Sie zog über einen sehr langen Zeitraum jeden Quadratkilometer des Landes und alle, die dort lebten in Mitleidenschaft. Die Gründung der ersten Weißen Siedlungen und Territorien (wie der Kapkolonie, der Transvaal-Republik und des Oranje-Freistaats) fiel mit der massiven Enteignung der in der Region seit Jahrhunderten angestammten Schwarzen Bevölkerung zusammen. Der «Natives Land Act No. 27» vom 19. Juni 1913 regelte die Zwangsumsiedlung aller Schwarzen auf nur 7 Prozent des südafrikanischen Territoriums. Diese Zuteilung wurde 1936 durch den «Native Trust and Land Act of South Africa» von 7 auf 13 Prozent erhöht.

Die Politik der Rassentrennung wurde zunächst schrittweise umgesetzt, beschleunigte sich jedoch, als Daniël François Malan 1948 Premierminister Südafrikas wurde. Gemeinsam mit Innenminister Hendrik Frensch Verwoerd führte er eine rassistische Apartheidspolitik ein, die Lebensweise und Wirtschaft der Südafrikaner*innen radikal veränderte. Die Apartheidspolitik verbot es den Schwarzen, in den Weißen Gebieten zu leben, die den größten Teil des Landes ausmachten. Sie untersagte Beziehungen zwischen den Bevölkerungsgruppen und verbot Begegnungen zwischen Weißen und Schwarzen an öffentlichen Orten wie Parks, Bars oder Nachtclubs. Der Zugang zu höherer Bildung war ausschließlich Weißen vorbehalten und wurde Schwarzen verwehrt.

Verwoerd verwandelte überfüllte Schwarze Reservate – auch als Bantu Homelands oder Bantustans bezeichnet – in De-facto-Länder. Insgesamt wurden zehn Bantustans geschaffen, die sich weitgehend an ethnischen Grenzen orientierten: Bophuthatswana (Tswana), KwaNdebele (Ndebele), Lebowa (Nord-Sotho/Pedi), Venda (Venda), Gazankulu (Tsonga), KaNgwane (Swazi), KwaZulu (Zulu), QwaQwa (Süd-Sotho), Transkei (Xhosa) und Ciskei (Xhosa). Diese Pseudo-Länder, in denen es weder Aufstiegsmöglichkeiten noch Arbeitsplätze, anständige Schulen, Wohnraum oder Kanalisation gab, wurden zu einer Art Abladeplatz für Schwarze. Von nun an galten Schwarze nicht mehr als Bürger*innen Südafrikas. Wenn sie «nach Südafrika gehen» wollten, brauchten sie ein sogenanntes «Passbuch», einen Reisepass. Die Townships in den städtischen Gebieten wurden weiterhin nach Stammeszugehörigkeit getrennt. Weißen wie Schwarzen wurde eingeschärft, dass Schwarze nicht zu Afrika gehörten. Rechtlich war es Schwarzen verboten, sich dauerhaft in städtischen Gebieten, die als Weiße Gebiete galten, aufzuhalten. Gesetze wie der «Urban Areas Act» von 1923 sahen vor, dass Schwarze in die Townships und Homelands zurückkehren mussten, wenn sie längere Zeit nicht arbeiteten.

Anthony Butler (2009) zufolge führten vier wichtige Ereignisse zu einem beispiellosen sozialen Wandel in Südafrika nach 1870: Krieg, die Vereinigung der Kolonien, wirtschaftliche Entwicklung und die Entstehung einer migrantischen Arbeiterklasse. 1867 wurden in Südafrika Diamanten entdeckt, woraufhin England der Region große strategische Bedeutung beizumessen begann. Das Land führte in der Folge einen blutigen Eroberungsfeldzug gegen die Burenrepubliken, um die volle Kontrolle über die Bodenschätze Südafrikas zu erlangen. Nach der Befriedung wurden diese Gebiete mit der Kapkolonie zu einer einzigen Republik, der Südafrikanischen Union, vereinigt. Die Diamantenminen zogen große Mengen ausländischer Investitionen an, die zur Entwicklung einer modernen kapitalistischen Wirtschaft und zu dem führten, was Butler als «massive Transformation der ökonomischen Geografie Südafrikas» (2009: 12) bezeichnet. Die wirtschaftlichen Aktivitäten, die Finanzströme und die Art der Arbeitsverteilung im Land wurden dabei von der Rassenpolitik diktiert.

Das rasche Wachstum der südafrikanischen Minen, Industrie und Landwirtschaft erforderte Arbeitskräfte in enormer Zahl, nämlich Arbeitsmigrant*innen aus den Bantustans und anderen Regionen. So entwickelte sich eine konjunkturbedingte Binnenmigration, die gekennzeichnet war durch «jährliche Wanderbewegungen arbeitsfähiger, junger afrikanischer Arbeitskräfte in die und aus den städtischen Schlüsselökonomien» (Butler 2009: 12). Seit den 1920er Jahren waren bis zu 40 Prozent der arbeitenden Schwarzen Männer dauerhaft unterwegs, um in Südafrikas Minen, Farmen und Industrien zu arbeiten, während Frauen und Kinder auf dem Land blieben (Butler 2009: 12).

Die Nachfrage nach Arbeitskräften stieg exponentiell an und das konjunkturabhängige System der Arbeitsmigration innerhalb Südafrikas verwandelte sich schnell in ein prekäres Niedriglohn-System auf dem gesamten Subkontinent. Die Minenbesitzer bevorzugten junge Männer aus dem Ausland, da sie ihnen weniger zahlen konnten als den Schwarzen Südafrikaner*innen. Arbeitsvermittler*innen suchten in den Subregionen (Mosambik, Malawi, Lesotho, Botswana, Namibia, Angola, Simbabwe, Sambia) ständig nach geeigneten Männern für die Arbeit in den Minen. Dieser Zustrom von Ausländer*innen löste bei den Schwarzen Südafrikas große Ressentiments aus, da sie das Gefühl hatten, von den Ausländer*innen ersetzt und beraubt zu werden. Bei vielen Schwarzen führte dies zu einer ausgeprägten Fremdenfeindlichkeit, die von Generation zu Generation weitergegeben wurde. IsiZulu ist eine der wenigen afrikanischen Sprachen, die ein eigenes Wort für «Fremde» hat: Amakwerekwere.

Auch für die Landwirtschaft holte die Regierung Vertragsarbeiter*innen ins Land, und zwar aus Malaysia, China, Indien, Mauritius, Madagaskar und weiteren Ländern. Sie arbeiteten auf Zuckerrohrfeldern, in Weinbergen und im Bereich städtischer Bauprojekte. Die hohe Konzentration von Zuckerrohrplantagen in KwaZulu Natal lockte beispielsweise eine große Zahl indischer Wanderarbeiter*innen in die Region. Malaien siedelten sich vor allem in Cape Coast an. Diese Migrationsbewegungen prägten die Siedlungsstruktur des Landes.

Schwarze Südafrikaner*innen haben sich seit dem Tag, an dem der erste Europäer, Jan van Riebeek, das Kap betrat, gegen rassistische Politik und Kolonisierung gewehrt (Edward Lahiff 2007). Nach der Gründung der Südafrikanischen Union bildeten mehrheitlich Schwarze Parteien wie der Südafrikanische Eingeborenen Nationalkongress (SANNC, gegründet 1912, später Afrikanischer Nationalkongress, ANC, ab 1923) und der Pan-Afrikanische Kongress (PAC, gegründet 1959) eine langjährige gewaltlose Widerstandsbewegung gegen die Apartheidpolitik. Diese gewaltfreien Strategien wurden durch den bewaffneten Kampf ergänzt, als 1961 der bewaffnete Flügel des ANC, Umkhonto we Sizwe (MK, Speer der Nation), gegründet wurde. Während Umkhonto we Sizwe im eigenen Land wichtige südafrikanische Infrastrukturen sabotierte, lancierten die Anführer*innen des politischen Flügels von ihren Büros in Lusaka und London aus eine großangelegte internationale Boykottkampagne. Anfang der 1990er Jahre führte eine Kombination aus zivilen Unruhen und internationaler Isolation schließlich zur Zermürbung der Regierung der Weißen Bevölkerungsminderheit und zum Zusammenbruch des Apartheidsystems. Die bedingungslose Freilassung Nelson Mandelas aus dem Victor Verster Gefängnis am 11. Februar 1990 und der eindeutige Wahlsieg der ANC-geführten Koalition am 27. April 1994 markierten symbolisch die Wende.

2.1. Der Aufbau einer Regenbogennation

Der ANC beendete seinen Konflikt mit dem südafrikanischen Staat formell nach einer Verhandlungslösung, die das nationale Friedensabkommen von 1991, die Konvention für ein demokratisches Südafrika (CODESA I & II) sowie einen Mehrparteien-Verhandlungsprozess umfasste. Die CODESA-Gespräche waren dabei von besonderer Bedeutung, da der ANC, ähnlich wie beim Lancaster-House-Abkommen für Simbabwe, einem marktorientierten Verhandlungsansatz in der Landfrage zustimmte. Die damaligen Landbesitzer*innen konnten nicht ohne Weiteres aufgefordert werden, ihr Land zu räumen, wie es den Vorfahren der Schwarzen Südafrikaner*innen widerfahren war. Vielmehr sollte der Ansatz auf drei Säulen beruhen: auf Restitution (die Gerichte sollten das Land an diejenigen zurückgeben, die zum Zeitpunkt ihrer Vertreibung die Eigentumsrechte besaßen), Umverteilung (eine von der Weltbank empfohlene Methode, die den Kauf von Land von verkaufsbereiten Weißen nach dem Prinzip «willige Käufer*innen, willige Verkäufer*innen» und die anschließende Umverteilung an Schwarze vorsah) und drittens auf einer Reform der Eigentumsverhältnisse (die darauf abzielte, diese so zu ändern, dass das traditionelle Gewohnheitsrecht und andere von Schwarzen praktizierte Formen des Landbesitzes anerkannt wurden).

 

 

 

 

Der Bekezela-Siedlung in Newtown, Johannesburg, droht die Räumung, obwohl sie eine vielfältige Gemeinschaft von Einwanderern und Südafrikanern beherbergt, von denen einige seit 1998 dort leben. Foto: Jodi Bieber

Im Privatsektor drängten die Weltbank und andere Partner den ANC, die wichtigsten Bergbau-, Produktions-, Einzelhandels- und Dienstleistungsunternehmen des Landes zu erhalten. Statt die Eigentumsrechte anzugehen, empfahlen sie zur Stärkung der Schwarzen Bevölkerung Programme für Diversität, Gleichberechtigung und Integration. Der ANC einigte sich bald auf ein Förderprogramm, das unter dem Namen Black Economic Empowerment (BEE) bekannt wurde und schnell im Bergbau, in der Landwirtschaft, in der verarbeitenden Industrie und im Dienstleistungssektor eingeführt wurde. BEE zielte darauf ab, Schwarzen Südafrikaner*innen entweder in Form von Beihilfen für Minderheitsbeteiligungen oder durch ein Entgegenkommen bei der Anerkennung ihrer Leistungen die wirtschaftliche Beteiligung zu ermöglichen.

Zahlreiche Befreiungsparteien im südlichen Afrika, die ihre Wahlsiege auf Grundlage einer sozialistischen Politik errungen hatten, mussten feststellen, dass Regierungsführung bestimmte Fähigkeiten erfordert, die in ihren Reihen nicht immer in ausreichendem Maße vorhanden waren. Es geschieht nicht selten, dass eine erste Generation fähiger Führungspersönlichkeiten einen vielversprechenden Masterplan entwirft, der dann von der zweiten Kadergeneration behindert wird, weil es dieser sowohl an den notwendigen Fähigkeiten als auch an der ideologischen Überzeugung ihrer Vorgänger*innen mangelt. Hinzu kommt, dass sich die zweite Generation in der Regel nicht so sehr für die nationale Agenda einsetzt wie die Befreiungsgeneration und stattdessen die eigene Selbstverwirklichung in den Vordergrund stellt. Dieses Muster scheint sich im gesamten südlichen Afrika wiederholt zu haben, so in Simbabwe (Afrikanische Nationalunion von Simbabwe-Patriotische Front, ZANU-PF), Tansania (Partei der Revolution, CCM), Mosambik (Mosambikanische Befreiungsfront, FRELIMO), Namibia (Südwestafrikanische Volksorganisation, SWAPO) und Angola (Nationale Union für die vollständige Unabhängigkeit Angolas, UNITA).

Die verschiedenen Gruppen Südafrikas unter einer gemeinsamen Flagge zu vereinen, war nach Jahrhunderten brutaler Enteignung und Rassismus keine leichte Aufgabe. 1994 hatte Südafrika eine mehrjährige Rezession hinter sich. Das Land war mit einer Reihe von Herausforderungen konfrontiert, darunter eine hohe Verschuldung im Verhältnis zum BIP (63 Prozent), zahlreiche gewerkschaftlich organisierte Streiks, ein starker Anstieg der Zahl ungelernter Arbeitskräfte, massive Kapitalabflüsse, eine starke Anti-Südafrika-Stimmung auf den Exportmärkten und eine erschreckend hohe Arbeitslosigkeit – fast 30 Prozent aller erwerbsfähigen Erwachsenen waren ohne Arbeit (South African Reserve Bank, 1994). In seiner bahnbrechenden «Zwei-Nationen Rede», manchmal auch als «Zwei-Volkswirtschaften-Rede» bezeichnet, über «Versöhnung und Aufbau der Nation», die er am 29. Mai 1998 vor der Nationalversammlung hielt, beschrieb der ehemalige Präsident Thabo Mbeki die Kluft zwischen Weißen und Schwarzen Südafrikaner*innen sehr anschaulich wie folgt:

Daher können wir getrost sagen, dass Südafrika ein Land zweier Nationen ist.

Eine dieser Nationen ist Weiß und unabhängig von Geschlecht oder geografischer Lage relativ wohlhabend. Sie hat leichten Zugang zu einer gutentwickelten Wirtschafts- und Versorgungsstruktur, zu Bildung, Kommunikation und anderer Infrastruktur. Dies ermöglicht es ihr zu behaupten, dass, abgesehen von der anhaltenden geschlechtsspezifischen Diskriminierung von Frauen, alle Mitglieder dieser Nation die Möglichkeit hätten, ihr Recht auf Chancengleichheit wahrzunehmen, nämlich die Entwicklungsmöglichkeiten zu nutzen, zu denen sich unser Land in der Verfassung von 1993 verpflichtet hat.

Die zweite und größere Nation Südafrikas ist Schwarz und arm, wobei Frauen in den ländlichen Gebieten, die Schwarze Landbevölkerung im Allgemeinen und Menschen mit Behinderungen am stärksten betroffen sind. Diese Nation lebt unter den Bedingungen einer stark unterentwickelten Wirtschafts-, Versorgungs-, Bildungs-, Kommunikations- und sonstigen Infrastruktur. Sie hat praktisch keine Möglichkeit, das theoretische Recht auf Chancengleichheit wahrzunehmen, das innerhalb dieser Schwarzen Nation nur insofern Gleichheit garantiert, wie es nicht verwirklicht werden kann.

Diese Realität zweier Nationen, die durch die Aufrechterhaltung rassistischer, geschlechtsspezifischer und räumlicher Ungleichheiten, die auf eine lange Periode der Kolonialherrschaft und der Apartheid durch die Weiße Minderheit zurückgehen, noch verfestigt wird, bildet die materielle Grundlage, durch die sich der Eindruck verstärkt, dass wir tatsächlich nicht eine, sondern zwei Nationen sind.

Wir sind nicht einmal auf dem Weg, eine Nation zu werden. Folglich ist auch das Ziel der nationalen Versöhnung nicht erreicht. Und das bedeutet: Je länger diese Situation anhält, desto mehr wird sich trotz des Geschenks der Hoffnung, das dem Volk mit der Geburt der Demokratie gemacht wurde, die Überzeugung verfestigen, dass das Konzept der Nationenbildung eine reine Illusion ist und dass es keine Grundlage für eine nationale Versöhnung gibt und geben wird.

Präsident Mbeki hob in seiner Rede hervor, dass die Überwindung der Kluft Zeit brauche. Die Rede machte auch die Dringlichkeit von Sofortmaßnahmen deutlich, um die Not der Schwarzen Mehrheit zu lindern. Um ein zerrissenes Land wie Südafrika zu erneuern, bedurfte es einer jahrzehntelangen beispiellosen Erfolgsgeschichte der Regierung und ihrer Partner. Für die Überwindung der Kluft lassen sich jedoch seit 1994 zwei Schlüsselperioden ausmachen: die Jahre des umfassenden und konsequenten Wandels unter den Präsidenten Nelson Mandela und Thabo Mbeki und das weniger erfolgreiche Jahrzehnt unter den Präsidenten Jacob Zuma und Cyril Ramaphosa.

Nelson Mandela führte Südafrika geschickt durch turbulente Zeiten, in die auch die Ermordung des populären Führers der Südafrikanischen Kommunistischen Partei (SACP), Chris Hani, fiel. Mandela gelang es, unterschiedliche Interessen und sich zum Teil lange bekämpfende Seiten wieder zusammenzuführen (wie im Fall der Inkatha Freiheitspartei, IFP, von Mangosuthu Buthelezi und Constand Viljoen, die sich als Gegenpartei zum ANC versteht). Seine größte Leistung bestand freilich darin, die Schwarzen, die den gesamten Besitz der Weißen mit sofortiger Wirkung enteignen wollten, und die Weißen, die bereit waren, für ihren Machterhalt Waffengewalt einzusetzen, davon zu überzeugen, sich hinter einer gemeinsamen Vision – der «Regenbogennation» – zu vereinen. Als er am 25. Juni 1995 im Ellis-Park-Stadion zum Finale der Rugby-Weltmeisterschaft mit der Nummer 6 von François Pienaar erschien (Rugby galt damals als Sport der Unterdrücker*innen) und Südafrika im Sieg über Neuseeland hinter sich versammelte, umarmten sich Schwarze und Weiße, vergossen Freudentränen und sahen vielleicht zum ersten Mal das Menschliche im jeweils Anderen. Es war die Geburt einer neuen Nation, die Zusammenführung aller Ethnien. Diese Umarmungen haben bis heute eine große Bedeutung. Mandela startete das Wiederaufbau- und Entwicklungsprogramm (RDP) und legte damit den Grundstein für die Transformation. Dieses Programm beinhaltete eine starke Umverteilungsagenda (in Bezug auf Land, Häuser und Unternehmen), aber das Land hatte nicht genug Geld, um die wichtigsten Prioritäten so schnell umzusetzen, wie es der ANC anstrebte. Prioritäten wie die Landreform, die Qualifizierung Schwarzer Arbeiter*innen und die Bereitstellung von hochwertigem, erschwinglichem Wohnraum erhielten nur bescheidene Finanzspritzen aus dem Staatshaushalt. Bemerkenswert ist auch, dass Mandela sein Wahlversprechen einhielt und nur eine Amtszeit absolvierte.

Während Nelson Mandela die Südafrikaner*innen gelehrt hatte, zusammenzuleben und sich gegenseitig wertzuschätzen (mit der Unterstützung von Erzbischof Desmond Tutu), oblag es dem hart arbeitenden, unnahbaren und pragmatischen Thabo Mbeki, die eigentliche Arbeit beim Aufbau einer modernen Wirtschaft zu leisten. Mbekis Präsidentschaft war eine der folgenreichsten in der modernen afrikanischen Geschichte, auch wenn sie durch fremdenfeindliche Übergriffe und den schlechten Umgang mit der HIV/AIDS-Pandemie getrübt wurde (Adebajo 2016). Die Initiativen des ANC wie das Förderprogramm für Wiederaufbau und Entwicklung, das Programm für Wachstum, Beschäftigung und Umverteilung (GEAR) und sogar die Initiative für beschleunigtes und geteiltes Wachstum in Südafrika (ASGISA) zielten alle darauf ab, die Transformationsbemühungen im Sinne der Trickle-Down-Ökonomie zu steuern.

Unter Mbeki wuchs die Wirtschaft stetig um durchschnittlich 4,2 Prozent, die Inflation pendelte sich bei 5,7 Prozent ein und die Arbeitslosigkeit sank von 30 auf 19 Prozent. Mindestens 3 Millionen RDP-Häuser wurden gebaut, um die steigende Nachfrage nach bezahlbarem Wohnraum zu decken. Im Zuge des Wirtschaftswachstums wuchs die Schwarze Mittelschicht am stärksten und verdoppelte sich nahezu zwischen 1993 und 2008 von 2,2 Millionen auf 5,4 Millionen Menschen (Zwane 2019). Mbeki (und Minister Zola Skweyiya) schufen ein nationales Sozialversicherungsprogramm, und bis zum Ende seiner Amtszeit erhielten mindestens 15 Millionen Südafrikaner*innen unterschiedliche staatliche Leistungen. Trotz der vielen Erfolge Mbekis sahen die Bündnispartner des ANC, darunter der südafrikanische Gewerkschaftsbund (COSATU) und die kommunistische SACP, den Transformationsprozess durch die neoliberale Politik abgewürgt. Mbeki hielt jedoch hartnäckig an seiner dirigistischen Präsidialpolitik fest.

Ein Ereignis, das gegen Ende der Amtszeit Mbekis zunächst unbedeutend erschien, aber verheerende Folgen für die Entwicklung Südafrikas ab 2019 haben sollte, trug sich ein Jahr vor dem Ausscheiden Mbekis aus dem Amt zu: Das Land erlebte seine erste Stromabschaltung. Die Weltbank hatte – ganz im Gegensatz zu den Wünschen des damaligen ESKOM-Vorstandsvorsitzenden Reuel Khoza – jahrelang dafür plädiert, dass sich die Regierung nicht in die Stromerzeugung einmischen sollte. Man war der Meinung, dass diese Aufgabe in den Händen des Privatsektors am besten aufgehoben sei. Mbeki folgte zunächst dem Rat der Weltbank. Unter dem Druck der Bündnispartner des ANC (COSATU und SACP) und anderer Kabinettsmitglieder änderte er jedoch seinen Kurs und kündigte den Bau von zwei riesigen Kohlekraftwerken (Medupi und Kusile) an, die zusammen 9.600 Megawatt Strom erzeugen sollten.

Trotz einer Welle von Übergriffen gegen Einwanderer*innen – am 18. Mai 2008 wurde der Mosambikaner Ernesto Alfabeto Nhamuave vor den Augen von Passant*innen und Journalist*innen zusammengeschlagen und anschließend angezündet – beharrte Präsident Mbeki darauf, dass Südafrika kein Problem mit Fremdenfeindlichkeit habe. Seine Weigerung, das Thema entschlossen anzugehen, warf einen Schatten auf die Beziehungen Südafrikas zum Rest des Kontinents. Auch die HIV/AIDS-Politik belastete Mbeki fast während seiner gesamten Amtszeit. Anfang der 2000er Jahre war HIV/AIDS mit einem großen Stigma behaftet, und die Regierung befürchtete, die Zustimmung zur massenhaften Einführung von antiretroviralen Medikamenten könnte als Eingeständnis gewertet werden, dass Südafrikaner*innen sexuell verantwortungsloser seien als die Bevölkerungen anderer Länder (Adebajo 2016). Nach langen Bemühungen von Gruppen wie der Treatment Action Campaign, Nkosi's Haven und anderen änderte Mbeki seinen Kurs und rief eines der größten antiretroviralen Programme der Welt ins Leben.

Im Ausland brachte Thabo Mbeki eine enorme Anzahl von Projekten auf den Weg. Er arbeitete mit Präsidenten wie Abdoulaye Wade aus Senegal, Abdelaziz Bouteflika aus Algerien und Olusegun Obasanjo aus Nigeria zusammen, um die Organisation für Afrikanische Einheit (OAU) in die Afrikanische Union (AU) umzuwandeln. Die Union baute ihre Verwaltung aus, um den wachsenden politischen und administrativen Anforderungen eines zunehmend vernetzten Kontinents gerecht zu werden. Eine weitere wichtige Entwicklung war, dass afrikanische Länder sich nun in die Angelegenheiten ihrer Nachbarstaaten einschalten konnten, sofern die dortige Regierung für schwere Menschenrechtsverletzungen verantwortlich gemacht wurde. Mbeki war auch federführend bei der Schaffung der Neuen Partnerschaft für Afrikas Entwicklung (NEPAD) und des Afrikanischen Peer-Review-Mechanismus (APRM), die es den afrikanischen Ländern ermöglichen, die Entwicklung der anderen Länder zu beurteilen. Darüber hinaus führte er die Bewegung der Blockfreien Staaten an, richtete Programme für die afrikanische Diaspora in Nord- und Südamerika ein, organisierte die Fußballweltmeisterschaft 2010 und verhandelte den Beitritt Südafrikas zur BRIC-Gruppe (Brasilien, Russland, Indien und China), die damit zu BRICS wurde. Auf diplomatischer Ebene wurde eine Reihe von Anstrengungen unternommen, um den Frieden in Konfliktgebieten wie der Elfenbeinküste, der Demokratischen Republik Kongo, Burundi, Liberia und dem Sudan zu fördern. Südafrika hat sich zum größten ausländischen Investor auf dem afrikanischen Kontinent entwickelt, wie die sogenannte «Shoprite-Revolution» veranschaulicht, im Zuge derer die Supermarktkette ihre Präsenz auf mehr als 16 Länder des Kontinents ausdehnte. Ebenso wurden die Telefon-, Daten- und Mobilfunkdienste des Landes von MTN auf über 22 afrikanische Länder ausgeweitet, und DStv (ein digitales Mehrkanal-Bezahlfernseh-Angebot) wurde in 50 afrikanischen Ländern verfügbar.

Am 20. September 2008 wurde Präsident Thabo Mbeki von Anhänger*innen Jacob Zumas aus dem Amt gedrängt – oder «abberufen», wie es der ANC ausdrückt –, nachdem er bei der Wahlkonferenz 2007 in Polokwane den Vorsitz des ANC verloren hatte. Kgalema Mohlanthe fungierte für kurze Zeit als Interimspräsident, bis Jacob Zuma im Mai 2009 das Amt übernahm. Die Absetzung Mbekis wurde von einer massiven Abwanderung erfahrener Parteimitglieder begleitet. Zusammen mit der Weltwirtschaftskrise 2008 hatte dies verheerende Auswirkungen auf die südafrikanische Wirtschaft. Die Tatsache, dass viele derer, die die Lücke der erfahrenen «Mbekis» füllten, Opportunist*innen waren, die es auf lukrative Regierungsaufträge abgesehen hatten, machte die Situation nicht besser.

Die Präsidentschaft Jacob Zumas war geprägt von den Skandalen um die so genannten «Tenderpreneurs»[3], zu denen auch die berüchtigten Gupta-Brüder gehörten, die eine Reihe wichtiger staatlicher Institutionen wie die südafrikanische Steuerbehörde SARS, den nationalen Stromversorger ESKOM und South African Airways aushöhlten und anschließend plünderten. Diese dunkle Episode der Vereinnahmung des Staates in der Geschichte Südafrikas ist in den Berichten der Zondo-Kommission dokumentiert. Unter Zuma geriet die südafrikanische Wirtschaft in eine Rezession, und die Ratingagenturen Standard & Poor und Fitch stuften die Kreditwürdigkeit des Landes auf Ramschniveau herab. Der ehemalige Präsident Thabo Mbeki bezeichnete Jacob Zuma sogar als Konterrevolutionär, der die schlimmste Ära in der Geschichte des ANC an der Spitze des Landes angeführt habe.

Ende 2015 entstand an südafrikanischen Universitäten eine von Student*innen getragene Bewegung. Die Kampagne «Fees Must Fall» forderte die Abschaffung der Studiengebühren. Diese Kampagne beherrschte wochenlang die Schlagzeilen und fand breite Unterstützung in der Öffentlichkeit. Plünderungen von Geschäften und aggressive Übergriffe einiger Demonstrant*innen auf angesehene Hochschulleiter*innen kamen in der Öffentlichkeit jedoch schlecht an. Die Regierung kündigte schließlich die Aussetzung der Studiengebühren für das folgende akademische Jahr an, und die Proteste ebbten ab.

Um der sich verschlechternden Stromversorgung zu begegnen, schloss Jacob Zuma mit Wladimir Putins Russland ein Abkommen über den Bau eines 9600-MW-Kernkraftwerks in Südafrika durch das staatliche russische Unternehmen ROSATOM. Das Geschäft wurde jedoch hinter verschlossenen Türen ausgehandelt und wichtige Ausschreibungsverfahren umgangen. Ein russischer Journalist enthüllte diese Vorgänge gegenüber südafrikanischen Nichtregierungsorganisationen und löste damit eine breite Anti-Atomkraft-Kampagne aus, die dem Ansehen der Regierung Zuma erheblichen Schaden zufügte. Der Western Cape High Court entschied später, dass der Deal illegal war. Infolge dieses Debakels beschloss die Regierung Zuma, die Kohleflotte des Landes praktisch ohne Ausfallzeiten für die nötigen Wartungsarbeiten zu betreiben.

Als Cyril Ramaphosa im Februar 2018 an die Macht kam, erbte er eine ausgewachsene Stromkrise. Seine erste Amtszeit war geprägt von häufigen Stromausfällen, die das Land schwächten. Was mit wenigen Ausfalltagen im Jahr 2007 begann, eskalierte zu über 200 Tagen im Jahr 2022 und fast täglichen Stromausfällen im Jahr 2023. Seitdem hat Präsident Ramaphosa alle Beschränkungen für die Stromerzeugung aufgehoben und alle Menschen, die wollen und können, haben die Möglichkeit, Strom zu erzeugen. Zwischen 2019 und 2023 haben unabhängige Stromproduzenten und südafrikanische Haushalte mehr als 12.000 Megawatt grünen Strom erzeugt. Die mehr als zweijährige Phase von Social Distancing während der Covid-19-Pandemie wirkte sich verheerend auf die Wirtschaft aus, und die Südafrikaner*innen erwarten von Ramaphosa in seiner zweiten Amtszeit deutliche Veränderungen. Neben der Lösung der Energiekrise versprechen sie sich auch eine Lösung der Landfrage, eine Verringerung der Arbeitslosigkeit, die Bewältigung der logistischen Probleme des staatlichen Transportunternehmens und Pipeline-Betreibers TRANSNET sowie nachhaltige Lösungen für die Ungleichheitsprobleme des Landes.

2.2. Die Grenzen von konservativer Steuerpolitik und Trickle-Down-Ökonomie

Die verschiedenen ANC-Regierungen waren davon überzeugt, dass die Trickle-Down-Ökonomie die Mehrheit der Südafrikaner*innen von der Armut befreien würde, insbesondere während der Mbeki-Ära. Deshalb verfolgten sie eine Politik wie GEAR, die auf konservative Haushaltsführung durch Deregulierung, Freihandel, Inflationssteuerung und Schuldenmanagement setzte. Man glaubte, dass die Schwarzen, wenn sie erst eine Ausbildung und dann einen Arbeitsplatz erhielten, ihren Kindern und Verwandten zu mehr Wohlstand verhelfen würden, so dass ein Kreislauf in Gang gesetzt würde, der die Vorteile einer robusten Wirtschaft effektiv nach unten weitergeben würde. Die größten Nutznießer dieser Transformation waren jedoch die Unternehmen in Weißem Besitz, die sich trotz ihres beispiellosen Wachstums den Transformationsbemühungen widersetzten. Die Gewerkschaften, allen voran der südafrikanische Gewerkschaftsbund COSATU, sahen darin einen schweren Verrat des ANC an den Wünschen der Bevölkerung. Dies war einer der Hauptgründe, warum sich der damalige COSATU-Generalsekretär Zwelinzima Vavi 2007 mit Jacob Zuma verbündete, um Mbeki aus dem Amt zu drängen. Moeletsi Mbeki (2009) kritisierte den ANC unter der Führung seines Bruders Thabo und anderer als «Architekten der Armut».

Das Scheitern der südafrikanischen Transformation ist nicht nur eine Folge der Unzulänglichkeiten oder Versäumnisse des ANC. Es ist zweifellos auch eine Folge des erbitterten Widerstands der Privatwirtschaft und der wichtigsten Oppositionspartei, der Demokratischen Allianz (DA), deren Ideologie sich um die Überzeugung dreht, dass jeder es aus eigener Kraft schaffen kann. Beide Akteure, natürlich mehrheitlich Weiße, glauben, dass die Lösung der Probleme Südafrikas in der Herausbildung einer Bürgerschaft liegt, die in der Lage ist, für sich selbst zu sorgen. Die Gewährung von Sozialhilfe für die Armen ist für sie eine reine Alibiveranstaltung, gleichbedeutend mit Günstlingswirtschaft oder Stimmenkauf. Die von der DA geführte Westkap-Region agierte sowohl wirtschaftlich als auch in Bereichen wie Bildung und Energieversorgung wie ein unabhängiges Land. Die DA widersetzte sich aktiv dem Aufbau einer Nation, und die ehemalige Premierministerin und DA-Vorsitzende Hellen Zille bezeichnete 2012 Binnenmigrant*innen aus der Provinz Ostkap als «Geflüchtete». Zille war sich der politischen und wirtschaftlichen Konnotationen dieses Wortes sehr wohl bewusst, als sie es aussprach. Auf dem Höhepunkt der Energiekrise schlugen DA-Politiker*innen sogar vor, den Rest des Landes vom Kernkraftwerk Koeberg abzuschneiden, so dass nur das Westkap von der Stromversorgung profitieren würde.

3. Südafrika heute: Weiterhin ein Land der zwei Volkswirtschaften

3.1. Einleitung: Die guten Nachrichten

Auch wenn über die Leistungen des ANC seit seiner Regierungsübernahme 1994 schon vieles gesagt worden ist, brachten diese 30 Jahre an der Macht dennoch viele Fortschritte für die Schwarze Bevölkerungsmehrheit. Wie man es auch dreht und wendet, einige der Errungenschaften des ANC sind beispiellos innerhalb Afrikas, sowohl in Bezug auf Reichweite und Ausmaß der Veränderungen als auch auf den Zeitrahmen, in dem sie realisiert wurden. Für diejenigen allerdings, die noch immer unter Armut, Ungleichheit und Arbeitslosigkeit leiden, gibt es nur wenig Grund zur Freude. Um die heutige Situation des Landes umfassend beurteilen zu können, müssen diese Fortschritte genauer betrachtet werden.

Die wichtigste Errungenschaft Südafrikas unter der Schwarzen Mehrheitsregierung ist zweifellos die Einführung eines neuen Gesellschaftsvertrags, dem die überwältigende Mehrheit der Gesamtbevölkerung noch immer zustimmt. Dabei wurde nicht nur ein neues System etabliert, sondern auch eines, das zumeist effektiv funktioniert. Dieses nationale Projekt ging aus der im Dezember 1996 verabschiedeten Verfassung hervor und stützt sich auf Werte wie menschliche Würde, Antirassismus und Antisexismus sowie auf die Souveränität der Verfassung, Rechtsstaatlichkeit und das allgemeine Wahlrecht für Erwachsene. Aufrechterhalten werden diese Leitlinien durch ein allgemeines nationales Wählerverzeichnis, regelmäßige ordentliche Wahlen und ein demokratisches Mehrparteiensystem. Die Verfassung garantiert außerdem das Recht auf eine gesunde Umwelt sowie freien Zugang zu Flüssen, Seen, Wäldern, Graslandgebieten und Parks des Landes für alle Menschen.

Foto: Jodi Bieber

Seit der Einführung der Demokratie infolge der historischen Wahlen, die vom 26. bis 29. April 1994 stattfanden, ist Südafrika von fünf verschiedenen Präsidenten regiert worden: von Nelson Rolihlahla Mandela, Thabo Mvuyelwa Mbeki, Kgalema Motlanthe, Jacob Gedleyihlekisa Zuma und Cyril Matamela Ramaphosa. Keiner von ihnen hat je versucht, die Verfassung zu ändern, nur um seine Amtszeit zu verlängern, wie es in anderen afrikanischen Ländern geschehen ist. So trat Jacob Zuma von seinem Amt zurück, nachdem ein Bericht des Public Protector aufgedeckt hatte, dass der südafrikanische Staat von einer Reihe korrupter Personen und Unternehmen vereinnahmt worden war. Das ist auf dem afrikanischen Kontinent beispiellos.

Mit einem Frauenanteil von 46 Prozent in der Nationalversammlung nimmt Südafrika bei der Gleichstellung der Geschlechter in den gesetzgebenden Körperschaften eine Spitzenposition ein. Darüber hinaus verfügt Südafrika über ein dezentrales Regierungssystem, das auf drei Verwaltungsebenen basiert: der nationalen, der Ebene der Provinzen und der kommunalen Ebene. Zuletzt hat die Landesregierung 48,6 Prozent der auf nationaler Ebene eingenommenen Mittel zugewiesen bekommen, während 41,4 Prozent an die Provinzregierungen und 10 Prozent an die Lokalverwaltungen gingen. Aufgrund dieses Anteils am Staatshaushalt verfügen die Ministerpräsident*innen der Provinzen über beträchtliche Macht und es herrscht ein gesunder Wettbewerb unter ihnen. Der Ministerpräsident von Gauteng, Panyaza Lesufi, beispielsweise steht einer Wirtschaft vor, die mit der Marokkos vergleichbar ist.

Mit der Verankerung des Gesellschaftsvertrags hat die ANC-Regierung in den letzten drei Jahrzehnten entscheidende Verbesserungen erreicht. Als der ANC an die Macht kam, hatten Schwarze Familien so gut wie keinen Zugang zu sauberem Wasser. Heute werden über 88 Prozent dieser Haushalte mit Trinkwasser versorgt, auch wenn die Leitungen aufgrund von Dürreperioden und Korruption in manchen Teilen des Landes manchmal tagelang trocken bleiben. Die Stromversorgungsquote in den Schwarzen Communities lag 1994 bei 36, heute liegt sie bei 94 Prozent. Die Bantu-Völker sind inzwischen in ein Bildungssystem integriert, das darauf ausgerichtet ist, jungen Schwarzen die Fähigkeiten zu vermitteln, die sie brauchen, um in der heutigen Gesellschaft erfolgreich zu sein. Dank des National Student Financial Aid Scheme (NSFAS), das der Mehrheit der Schüler*innen, die ihren Sekundarabschluss machen, Stipendien anbietet, studieren an den Universitäten heute mehr Schwarze Student*innen als je zuvor. Mindestens 4,7 Millionen Wohnhäuser wurden im Rahmen des RDP-Förderprogramms für die ärmeren Bevölkerungsschichten gebaut und Präsident Cyril Ramaphosa kündigte erst kürzlich weitere 4,2 Millionen solcher Neubauten in der Provinz Nordkap an. Darüber hinaus verfügt Südafrika über das zehntgrößte asphaltierte Straßennetz der Welt.

Der stabile Produktions- und Dienstleistungssektor macht das Land zur führenden Volkswirtschaft auf dem Kontinent. Südafrika ist zudem einer der weltweit größten Obst- und Wein-Exporteure und mit einer Nennleistung von 52.000 Megawatt größter Energieproduzent Afrikas. Mit einer Leistung von 6.200 Megawatt, die vom Stromversorger ESKOM und mehreren unabhängigen Stromerzeugern (Independent Power Producers, IPPs) produziert werden sowie weiteren 6.000 Megawatt, die von privaten Haushalten erzeugt werden, ist Südafrika auch im Bereich der grünen Energie führend. Dank dieser Elektrizitätsmenge und des technischen Know-Hows ist das Land heute ein wichtiger Automobilhersteller sowie Produzent von Stahl, Baumaschinen und Konsumgütern. Es ist das erste afrikanische Land mit einem Hochgeschwindigkeits-Eisenbahnnetz, dem Gautrain-Netz, das Thabo Mbeki als Schlüssel für die Ausrichtung der FIFA Fußball-Weltmeisterschaft 2010 bezeichnet hatte.

Viele seiner städtischen Gebiete stehen den Metropolen des Globalen Nordens in nichts nach. Der Unterschied zwischen einer Wohnung in Sandton, Johannesburg, und einem Apartment in London oder Los Angeles ist wahrscheinlich lediglich an den Steckdosen und kaum am Niveau der Infrastruktur zu erkennen. Straßen, Wohnhäuser, Restaurants, Geschäfte und Werbetafeln strahlen eine vergleichbare urbane Modernität aus. Das Internet ist hervorragend, die Straßen sind gut ausgebaut und die Häuser oft in einem besseren Zustand als in vielen Teilen des Globalen Nordens. Die Rasenflächen sind gepflegt, die Schulen bieten Bildung auf Weltniveau und den Möglichkeiten für junge Menschen sind keine Grenzen gesetzt. In mancher Hinsicht ist Südafrika einigen Ländern des Nordens sogar überlegen. Während Südafrikaner*innen innerhalb eines Tages ein Bankkonto eröffnen können und die Freiheit genießen, über digitale Bankingplattformen Überweisungen zu tätigen, müssen sich Kund*innen in den USA noch mit Scheckbüchern herumschlagen und in Deutschland muss man oft bis zu einem Monat auf die Eröffnung eines Bankkontos warten.

Schwarze Südafrikaner*innen stellen heute den Großteil der Mittelschicht des Landes sowie die Mehrheit der Universitätsabsolvent*innen, der 1,2 Millionen Beschäftigten des öffentlichen Dienstes, der 14,3 Millionen Beschäftigten in der Privatwirtschaft sowie die überwältigende Mehrheit der Arbeiternehmer*innen und Hausbesitzer*innen im privaten Sektor. Trotzdem ist die Ungleichheit massiv: Während das Durchschnittsgehalt eines Schwarzen aus der Mittelschicht bei 22.000 Rand liegt, beträgt es bei Weißen durchschnittlich 100.000 Rand. Das durchschnittliche Vermögen eines Weißen Haushalts der Mittelschicht liegt bei 4,7 Millionen Rand, während Schwarze Familien nur über 1,7 Millionen Rand verfügen. Leider konzentriert sich zudem ein Großteil des Reichtums auf die städtischen Gebiete, die dadurch vom Rest des Landes beinah vollständig abgekoppelt zu sein scheinen.

3.2. Die schlechten Nachrichten: Ein deutliches Wohlstandgefälle bleibt bestehen

Das Gefälle zwischen den städtischen und ländlichen Regionen Südafrikas ist enorm. In den meisten Kleinstädten scheint die Zeit stehen geblieben zu sein und die Zahlen zur Ungleichheit zeichnen ein erschreckendes Bild. Während das städtische Südafrika ein exponentielles Wachstum erlebt hat, sind die ländlichen Gebiete noch immer von der Apartheid-Geografie gezeichnet. Aus der Armut herauszufinden, bleibt für viele ein unerreichbarer Traum. Das Land, die florierenden Geschäfte und Unternehmen, die Villen gehören noch immer den Weißen, während Schwarze in Hütten leben, als Servicekräfte arbeiten oder Schwerstarbeit auf Farmen und in den Minen verrichten. Diese Teile des Landes stehen in starkem Kontrast zur Vision einer als Regenbogennation vereinten Gesellschaft.

Thabo Mbekis Land der zwei Volkswirtschaften drückt sich heute vor allem in einem Stadt-Land-Gefälle aus. Stadtrandgebiete bestehen zum großen Teil aus überfüllten Townships, in denen die meisten Angehörigen der arbeitenden Klasse leben. Die Schlafstädte, Überbleibsel des Beschäftigungssystems aus der Zeit der Apartheid, zeigen sich in neuem Glanz. Saubere Reihenhäuser dominieren noch das Bild, das sich jedoch nach und nach mit den Wohnhütten einer wachsenden Zahl abgehängter Menschen füllt. Man denke nur an Alexandra, die Barracken-Schlafstadt von Sandton; oder an Shoshanguve, das Sammelbecken für die Billigarbeitskräfte Pretorias; oder an Khayelitsha, wo in Armut lebende Kinder auf die Hochglanzbauten und getrimmten Rasenflächen der bewachten Wohnanlagen im Zentrum Kapstadts blicken. Auch nach drei Jahrzehnten einer Regierung der Schwarzen Mehrheit hat jede Metropolregion noch immer ein großes, vorherrschend Schwarzes Township in direkter Nachbarschaft.

Südafrika ist offizieller Spitzenreiter in Bezug auf soziale Ungleichheit und kann sich mit einem enorm hohen Ungleichverteilungskoeffizienten (Gini-Index) von 63 brüsten. Ein genauerer Blick auf die Statistik zeigt, dass der Gini-Index der Provinz Limpopo 0,93 Prozent beträgt und damit der höchste des Landes ist und zu den höchsten weltweit gehört (Redders 2021). Einer der Faktoren, die der Gini-Koeffizient misst, ist zum Beispiel die Anzahl der Menschen, die unter der Armutsgrenze von R1417 (74 US-Dollar) leben, die von Statistics South Africa verwendet wird. In seiner Rede an der Witwatersrand-Universität sagte Thomas Picketty 2021, dass die reichsten 10 Prozent der Südafrikaner*innen mehr Vermögen besäßen als 85 Prozent der Haushalte des Landes zusammen. Nach Angaben des World Inequality Lab besitzen die reichsten 3.500 Menschen in Südafrika mehr Vermögen als die 32 Millionen Menschen am unteren Rand zusammen. Die Einkommensungleichheit pro Kopf ist in den sogenannten ländlichen Provinzen wie Limpopo, Mpumalanga, Ostkap, Nordwest, und Nordkapdoppelt so hoch wie in den Provinzen Gauteng und Westkap.

Laut Statistics South Africa sind mehr als 8 Millionen Menschen arbeitslos und 6,1 Millionen davon sind Langzeitarbeitslose (Stats SA 2023). Die Mehrheit der Armen lebt der Statistik zufolge in Mpumalanga, Limpopo, Nordwest und Ostkap. Dort liegt die durchschnittliche Arbeitslosenquote bei 40 Prozent. Der Schwerpunkt der südafrikanischen Wirtschaftstätigkeit gemessen am BIP liegt in den Provinzen Gauteng (33 Prozent), KwaZulu-Natal (15 Prozent) und Westkap (14 Prozent).

Die Allgemeine Haushaltserhebung von Statistics South Africa aus dem Jahr 2021 zeigt, dass Beihilfen (51 Prozent) nach den Gehältern (59,4 Prozent) die zweitwichtigste Einkommensquelle für Haushalte sind. Die Zahlen sind in den Provinzen Free State, wo 60 Prozent der Bevölkerung auf Beihilfen angewiesen sind, Ostkap (63,7 Prozent), Limpopo (65,7 Prozent) und Mpumalanga (66,2 Prozent) noch eindeutiger. Für 42 Prozent der Haushalte in Ostkap und für 35,2 Prozent in Limpopo sind Beihilfen sogar die Haupteinkommensquelle (Stats SA 2021). Mindestens 85 Prozent der Südafrikaner*innen betreiben Landwirtschaft, um sich eine zusätzliche Nahrungsquelle zu sichern und weitere 4 Prozent decken ihren gesamten Nahrungsmittelbedarf ausschließlich durch Eigenanbau (Stats SA 2021:54). Nur in Gauteng und Westkap betreibt die Mehrheit der Menschen Landwirtschaft als Freizeitbeschäftigung.

Eine kürzlich von Amnesty International durchgeführte Studie ergab, dass die Mehrheit der 9-jährigen Schüler*innen in den ländlichen Gebieten nicht sinnerfassend lesen kann. Lehrkräfte haben die Aufgabe Kinder zu unterrichten, deren Erstsprache nicht der Unterrichtssprache entspricht. Die Apartheid-Geografie ist nach wie vor ein wichtiger Faktor für den Erfolg. Die 200 besten Schulen des Landes sind weitaus besser ausgestattet als die schlechtesten 6.600. Der Bericht von Amnesty zitiert Erhebungen der Regierung für 2018, die zeigen, dass 19 Prozent der 23.471 staatlichen Schulen ausschließlich auf rechtswidrige Grubenlatrinen (Außentoiletten) als sanitäre Einrichtungen angewiesen waren, wobei 37 Schulen überhaupt keine sanitären Einrichtungen hatten. In 86 Prozent der staatlichen Schulen fehlten darüber hinaus Technik- und Fachräume und in 77 Prozent Bibliotheksräume. 72 Prozent hatten keinen Internetzugang (239 Schulen keine Stromversorgung) und 42 Prozent keine Sportanlagen. Die bauliche Infrastruktur war in 56 Prozent der Fälle mangelhaft und 70 Prozent der Schulen meldeten eine unzureichende Ausstattung der Bibliotheken – ein deutlicher Unterschied zum OECD-Durchschnitt von 16 Prozent.

Die ökonomischen Schwierigkeiten, mit denen die ländlichen Regionen zu kämpfen haben, sind naturgemäß ein emotionales Thema. Obwohl das ländliche Südafrika über beträchtlichen Wohlstand verfügt und die Wirtschaft des Landes nach wie vor weitgehend von Rohstoffen aus dem ländlichen Raum abhängt, wandern wertvolle Ressourcen in die Metropolen oder ins Ausland ab. Die entscheidenden Fachleute, die über den Verkauf ihrer Rohstoffe verhandeln, leben ebenfalls im Ausland. Der in Mpumalanga produzierte Strom versorgt beispielsweise das ganze Land, doch viele Bewohner*innen der Provinz leiden unter schlechten Lebensbedingungen. Ähnlich verhält es sich in den Cape Winelands, wo der meiste Wein des Landes produziert wird, in Limpopo, das für seine Zitrusfrüchte bekannt ist, und in Free State, wo Mais angebaut wird. Diejenigen, die all die Güter produzieren, die Südafrika reich machen, leben in bitterer Armut.

In einigen Regionen gibt es weder Trinkwasser noch Strom. Den Kindern fehlen angemessene Bibliotheken, Spielplätze oder gut ausgestattete Fachunterrichtsräume, die mit denen in städtischen Gebieten vergleichbar sind. Oft leben sie in Gegenden, in denen die einzigen wirtschaftlichen Unternehmen Minen, große kommerzielle Farmen oder Hotelanlagen sind und wo es kaum alternative Betätigungsfelder gibt. Oft versorgen Großeltern mit ihren Beihilfen ihre Enkelkinder und zahlen die Schulgebühren, denn für diese Familien ist Bildung der einzige Weg aus der Armut. Wie Präsident Cyril Ramaphosa in seinem Brief an die Nation am 22. Januar 2024 sagte: «Im Jahr 2023 bestanden mehr als 160.000 Abiturient*innen, die eine Form der sozialen Unterstützung erhielten, mit Auszeichnung und mehr als 200.000 qualifizierten sich für den Hochschulzugang. Mehr als 65 Prozent der insgesamt erreichten Bachelor-Abschlüsse stammen von Schüler*innen von gebührenfreien Schulen.» Das spricht Bände.

Der Erfolg einiger Lernender darf allerdings nicht über die Hindernisse hinwegtäuschen, mit denen viele junge Menschen, insbesondere Mädchen, in ländlichen Gebieten konfrontiert sind. 2016 verzeichnete Südafrika rund 114.000 Schwangerschaften von Minderjährigen. Diese Zahl hat sich zwischen 2017 und 2021 um fast 50 Prozent erhöht (Barron et al. 2022).  Nach Angaben von Statistics South Africa (2022) wurden in den Jahren 2021/22 insgesamt 129.223 Entbindungen Minderjähriger in den Einrichtungen des öffentlichen Gesundheitswesens registriert. Die meisten dieser Geburten gab es in den ländlichen Provinzen, wo junge Mädchen oft von sogenannten AmaBlessers (Sugardaddys) mit Geld geködert werden. Viele der Mädchen leben entweder bei einem alleinerziehenden Elternteil, der tagsüber arbeitet, oder werden von ihren Großeltern versorgt, während ihre Eltern in der Stadt arbeiten. Diese AmaBlessers tragen auch zu den hohen HIV/AIDS-Infektionsraten bei. Einige traditionelle Praktiken verschlimmern diese Situation noch. So werden häufig noch sehr junge Mädchen in eine Ehe gedrängt, die in Ostkap und in KwaZulu-Natal als Ukuthwalwa bezeichnet wird. Aufgrund ihrer Jugend werden sie Opfer von geschlechtsspezifischer Gewalt und anderen Formen des Missbrauchs. Glücklicherweise haben staatliche Programme der südafrikanischen Regierung, NGOs und Initiativen wie der Notfallplan des Präsidenten zur AIDS-Bekämpfung (PEPFAR) dazu beigetragen, die Verbreitung von HIV deutlich einzudämmen. Das Virus wird nicht mehr tabuisiert und in den meisten Kliniken wird heute die medikamentöse Behandlung mit antiretroviralen Wirkstoffen durchgeführt.

In den ländlichen Gegenden Südafrikas sind Arbeitsmöglichkeiten kaum vorhanden. Nicht selten sieht man Gruppen kräftiger, arbeitsfähiger junger Leute herumstehen und auf einen Gelegenheitsjob warten. Viele Möglichkeiten gibt es nicht. Die wenigen, die eine feste Arbeit haben, müssen die sogenannte «Schwarze Steuer» bezahlen. Das bedeutet, dass sie einen großen Teil ihres Gehalts für die Unterstützung anderer Mitglieder ihrer Großfamilie aufwenden müssen. Hinter jeder Schwarzen Person, die einen Arbeitsplatz hat, steht eine Reihe von Kindern, deren Schulgebühren bezahlt werden müssen und eine Familie, deren Lebensmittel am Ende des Monats ausgehen.

3.3. Die Landfrage: Weiterhin ein Grund für Wut und Spaltung

Die Landfrage ist nach wie vor nicht gelöst und sorgt weiterhin für große Spannungen zwischen Weißen und Schwarzen. Land ist für viele Menschen ein Bezugspunkt, ein Anker, die heimische Erde, in der die Vorfahren beerdigt sind. Es ist der Ort, wo Gemeinschaften ihre Zusammengehörigkeit stärken und Kraft schöpfen, um in die Welt zu ziehen oder wohin sie zurückkehren, um neue Kraft zu schöpfen. Land hat also nicht nur wirtschaftlichen Wert – es ist vor allem identitätsstiftend. Im Falle Südafrikas stellt es zudem einen inoffiziellen Gradmesser für den Fortschritt bei der Wiedergutmachung des während der Apartheid erlittenen Unrechts dar. Viele Schwarze haben keinen Zugang zu Land. Sie «hausen» auf Farmen, wo sie ausgebeutet werden und verschiedenen Formen von Missbrauch ausgesetzt sind. Landarbeiter*innen müssen zudem eine monatliche Gebühr für die Errichtung von Hütten auf dem Gelände der Weißen Farmbesitzer*innen bezahlen. 

Während der Apartheid war das sogenannte Dop- oder Tot-System in südafrikanischen Weinanbaubetrieben weitverbreitet: Statt den Arbeiter*innen ihren Lohn vollständig auszubezahlen, entlohnten die Farmbesitzer*innen sie häufig mit billigem Wein. Das führte bei vielen zu schwerer Abhängigkeit und zur Geburt von Kindern mit fetalem Alkoholsyndrom. Landarbeiter*innen, die sich dieser missbräuchlichen Praxis ihrer Gutsherr*innen entzogen, wurden kurzerhand zur Räumung des Hofes gezwungen. Diesen Zwangsräumungen wurde 1997 im Rahmen einer Ausweitung des Gesetzes zum Kündigungsschutz («Extension of Security of Tenure Act 62») ein Ende gesetzt. Nach Inkrafttreten des Gesetzes vertrieben Weiße Farmbesitzer*innen die verbliebenen Landarbeiter*innen und unterbanden weitere Ansiedlungen, wodurch die Wohnraumkrise sich verschärfte und noch mehr Hütten und informelle Siedlungen entstanden.

1994 versprach der ANC die Überschreibung von 30 Prozent der 87 Millionen Hektar fruchtbaren Bodens an Schwarze Südafrikaner*innen bis zum Jahr 2000. Doch 2019 hatten lediglich 10 Millionen Hektar die Besitzer*innen gewechselt. Um sein Ziel zu erreichen, legte der ANC eine Reihe von Hilfsprogrammen auf, darunter waren Beihilfen zur Ansiedlung und zum Landerwerb (SLAG), das Programm zur Umverteilung von Land zugunsten landwirtschaftlicher Entwicklung (LARD) sowie die Proaktive Landerwerbsstrategie (PLAS). Diese Maßnahmen wurden durch neue Gesetze, wie das Gesetz zum Kündigungsschutz und das Gesetz zur Verhinderung von Zwangsräumungen und unrechtmäßiger Inbesitznahme von Land («Prevention of Illegal Evictions from and Unlawful Occupation of Land Act 19») aus dem Jahr 1998, sowie durch Gerichtsverfahren unterstützt.

Das marktorientierte Prinzip «willige Käufer*innen, willige Verkäufer*innen» führte allerdings zu einer Unterfinanzierung, und so kam die Landreform nur im Schneckentempo voran. Bei Verhandlungen ließ die Regierung der Privatwirtschaft zudem viel zu häufig die Bedingungen diktieren. Sobald es Anzeichen gab, dass der ANC vom Prinzip «willige Käufer*innen, willige Verkäufer*innen» abweichen würde, startete Agriculture South Africa (AgriSA), die größte Bauerngewerkschaft des Landes, Medienkampagnen mit Diskriminierungsvorwürfen und Warnungen vor drohenden Hungersnöten. Gleichzeitig heizten Interessengruppen wie AFRIFORUM das gesellschaftliche Klima mit der Behauptung an, Schwarze Menschen seien «faul» und nur auf Almosen aus. Diese Gruppen melden sich sogar in den großen Fernsehsendern des Globalen Nordens wie Fox News zu Wort und schwadronieren von einem Genozid gegen Weiße.

Ein weiterer Grund für das langsame Vorankommen der Landreform ist der Ansatz der Regierung, Weiße kommerzielle Farmer*innen durch die gleiche Anzahl Schwarzer kommerzieller Farmer*innen zu ersetzen (Ngam 2021). Das bedeutet, dass mit Erwerb einer Farm von der Schwarzen Person erwartet wird, das Stück Land in einen blühenden Wirtschaftsbetrieb zu verwandeln, selbst wenn keinerlei Erfahrung mit der Leitung eines großen Landwirtschaftsbetriebs vorliegen. Diese Farmen sind mit durchschnittlich ungefähr 1.640 Hektar sehr groß. Die Landreform ist zudem darauf ausgelegt, genau bemessene Landflächen von Weißen an Schwarze zu übergeben. Wenn man nun bedenkt, dass es 1994 nur 120.000 Weiße kommerziell arbeitende Farmer*innen gab, wird deutlich, dass ohne Aufteilung des Farmlands Hunderttausende Schwarzer Menschen leer ausgehen werden.

Auch die Argumente von AgriSA sind veraltet. Durch Mechanisierung und Verdichtung ist die Zahl der gewerblichen Landwirt*innen auf etwas über 37.000 geschrumpft. Das eröffnet der Regierung einen beachtlichen Handlungsspielraum, um anspruchsvolle Reformprojekte auf den Weg zu bringen. Bei der Rückgabe von Land ziehen sich Gerichtsverfahren oft über viele Jahre hin, selbst wenn Schwarze nachweisen können, dass sie von einem Stück Land vertrieben wurden, für das sie Besitzrechte besaßen. Manche solcher Verfahren dauern sogar mehrere Jahrzehnte, wie der ehemalige Richter am Land Claims Court (LCC), Tembeka Ngcukaitobi, kürzlich in einem öffentlichen Vortrag erklärte.

Drei nationale Probleme verstärken zudem den Druck auf eine Lösung der Landfrage. Das erste ist die Armut. Jüngste Erhebungen haben gezeigt, dass die Hälfte der Menschen im Land nicht die Mittel hat, regelmäßig Nahrungsmittel zu kaufen. Gut bewirtschaftete Farmen werden häufig von Banden überfallen, weil sie die wichtigste wirtschaftliche Aktivität in einem großen Gebiet darstellen. Besitzer*innen großer Ländereien brauchen ihr Land nicht einmal zu bearbeiten, um es produktiv zu machen. Für viele Stadtbewohner*innen sind diese Farmen im Besitz Weißer Grundbesitzer*innen Ausgangspunkt für Wanderungen. An den beliebten Wanderouten können die Eigentümer*innen pro Wochenende bis zu 300.000 Rand verdienen. Gelegenheitskriminalität wird in diesem Bereich zunehmen, wenn die Menschen nicht in der Lage sind, sich zu ernähren.

Das zweite Problem ist die Klimakrise. In Südafrika herrscht Wasserknappheit. Paradoxerweise ist das Land auch der zwölftgrößte Verursacher des Ausstoßes von Treibhausgasen (hauptsächlich aufgrund seiner Kohlekraftwerke) und der größte Exporteur landwirtschaftlicher Güter auf dem afrikanischen Kontinent. Die in Südafrika vorherrschenden kommerziellen Großfarmen verbrauchen mehr als 60 Prozent des verfügbaren Wassers des Landes. Droht eine Dürreperiode, so beurlauben diese Betriebe viele ihrer Arbeitskräfte. Auf diese Weise verloren aufgrund einer mehrjährigen Dürre in den 2010er Jahren mindestens 14.000 Menschen ihre Arbeit. Für viele von ihnen waren die informellen Siedlungen der städtischen Gebiete die Endstation.

Das dritte Problem ist die besorgniserregende Verschlechterung der Beziehungen zwischen Schwarzen und Weißen. Morde auf Farmen sind zu einem heißen Eisen geworden, weil die Opfer meist Weiße sind. Das hat einige Weiße politische Parteien und Interessengruppen wie AFRIFORUM dazu gebracht, von einem Genozid an Weißen Landwirt*innen zu sprechen, obwohl die Mehrheit der Opfer von tödlichen Gewaltverbrechen insgesamt Schwarze sind. Verbrechen an Weißen erhalten jedoch größere Aufmerksamkeit, weil diese die Minderheit im Land darstellen. Regelmäßig vor den Wahlen benutzen Provokateure landesbezogene Themen, um Spannungen zu schüren und drängen Südafrika auf diese Weise noch weiter an den Rand. Das zeigte sich nach dem brutalen Mord an dem jungen Landwirt Brendin Horner, als ein Streit zwischen Schwarzen und Weißen in der verschlafenen Kleinstadt Senekal beinahe in eine Schießerei ausartete. Ähnliche Szenen haben sich Ende April 2021 in dem Städtchen Piet Retief abgespielt, als vier Weiße Landwirte nach den Morden an zwei Arbeitssuchenden vor Gericht standen.

Ein neueres Phänomen, das Schwarze in ländlichen Regionen beunruhigt, geht von den Mitgliedern ihrer eigenen Gemeinschaft aus, insbesondere von der aufstrebenden Schwarzen Elite und den Angehörigen der politischen Klasse. Fährt man heute durch eine beliebige ländliche Gegend, so sieht man inmitten von Hütten und heruntergekommenen Barracken imposante Anwesen mit bis zu zwanzig Zimmern. Es sind die Paläste der Neureichen, der aufstrebenden Schwarzen Bourgeoisie: Mitarbeiter*innen der Regierung, Politiker*innen, «Tenderpreneurs» und Führungskräfte, die in den Städten arbeiten. Diese teuren Anwesen schüren Feindseligkeiten unter den Ortsansässigen, vor allem wenn die Besitzer*innen aus einfachen Verhältnissen innerhalb der Community stammen. In einigen Teilen des Landes hat das zu einem Anstieg von gezielten Tötungen geführt. Mitglieder der Lokalverwaltung werden nicht nur durch ihre Posten reich, sondern auch durch Schmiergelder, die sie bei den Wahlkonferenzen der politischen Parteien für die eine oder andere Stimme einstreichen. Für manche ist der schnellste Weg, in ländlichen Gebieten zu Geld zu kommen, einen Gemeinderat oder sogar die Bürgermeisterin «auszuschalten». Seit 2010 sind mindestens 3.000 Politiker*innen ermordet worden.  Die palastartigen Wohnhäuser der privatwirtschaftlich Tätigen ermutigen junge Menschen zusätzlich, in die städtischen Zentren zu ziehen, um schnelles Geld zu verdienen.

Die Kluft überbrücken: Eine Lösung für die Armut in Südafrikas ländlichen Regionen

Der Wandel in Südafrika ist weitgehend zu einem alleinigen Projekt der nationalen Regierung geworden, da das Weiße Südafrika seinen Erfolg oft nur harter Arbeit und Entschlossenheit zuschreibt und dabei die in der Geschichte des Landes verwurzelten systemischen Ungleichheiten außer Acht lässt. Doch das Unrecht existiert weiterhin, vom Gesetz geschützt. In den Kommentarspalten der Weißen Medien wird der weit verbreitete Mythos, dass Schwarze Menschen faul und bestechlich seien und es auf kostenfreie Leistungen abgesehen hätten, aufrechterhalten. Dabei wird jedoch übersehen, dass es Schwarze waren, die Südafrika aufgebaut und die Mineralien aus der Erde geholt haben, mit denen das New York des Südens – Johannesburg –, Kapstadt und alles dazwischen aufgebaut wurde. Doch was kann die südafrikanische Regierung ändern, um eine integrativere Wirtschaft aufzubauen? In Thabo Mbeki argumentiert Adebajo (2016), dass das Programm für Wachstum, Beschäftigung und Umverteilung (GEAR) zu nachsichtig gegenüber Weißem Kapital gewesen sei, da es zu stark auf ausländische Investor*innen ausgerichtet war. Es besteht kein Zweifel, dass ein neuer und ehrgeizigerer Transformationsansatz notwendig ist. Eine mögliche Lösung könnte eine Art Marshallplan sein, um die Neugestaltung des ländlichen Südafrika massiv voranzutreiben.

Photo: Jodi Bieber

Oberste Priorität ist es, die Gemeinden zu stabilisieren und für ihre Aufgaben zu rüsten. Die Haushalte der Gemeinden sind zum Selbstbedienungsladen für «Tenderpreneurs», Rentiers aller Couleur und alte ANC-Kader verkommen, die auf Kosten der Steuerzahler*innen an ihren Posten kleben. So ist es also kaum überraschend, dass Gemeindevertreter*innen immer häufiger Opfer von Auftragsmorden werden. Die Landesregierung als eine der drei Verwaltungsebenen des südafrikanischen Staates ist für 48 Prozent des Haushalts verantwortlich. Über den Rest verfügen die Provinz- und Regionalregierungen. Die Dezentralisierung hat jedoch zu Problemen geführt, vor allem auf Provinz- und Kommunalebene, wo Korruption und Inkompetenz Tradition haben. Die Finanzprüfung von 2021/22 ergab, dass nur 38 von 257 Gemeinden und nur zwei von acht Großstädten saubere Bilanzen vorweisen konnten. Aus dem Bericht über den Zustand der Kommunalverwaltung (State of Local Government Report) für denselben Zeitraum geht hervor, dass die Verwaltung in 64 von 257 Gemeinden nicht voll funktionsfähig ist. Schlechte Führung führt jedes Jahr zu durchschnittlich 300 Protestaktionen im Dienstleistungsbereich. Die Gemeinde Makana ist zum Paradebeispiel für die Dysfunktionalität auf regionaler Ebene geworden. Im Januar 2020 ordnete der High Court des Ostkaps in der Stadt Makhanda die Auflösung des Gemeinderats von Makana an, weil dieser seinen verfassungsmäßigen Pflichten nicht nachgekommen war. Die Gemeinden sollten in der Lage sein, Schulen, Krankenhäuser, Sicherheitsdienste, Parks, Gemeindezentren und Bibliotheken angemessen zu verwalten.

Die Stärkung der Gemeinden kann den Weg ebnen für den zweiten drängenden Problembereich: eine universelle Grundversorgung mit Infrastruktur. Das Zwei-Nationen-Problem Südafrikas hat zum Teil auch damit zu tun, dass in den ländlichen Regionen die Infrastruktur fehlt, die den Stadtbewohner*innen im Überfluss zur Verfügung steht. Dazu gehören Grundbedürfnisse wie Internet, Schulen, Mobilfunk, Wasser, Strom, Gesundheitsfürsorge, Landbesitz, erschwinglicher hochwertiger Wohnraum, Freizeitprogramme, öffentlich nutzbare Räume und Sicherheit. All das sind wichtige Schritte auf dem Weg zu einer funktionierenden Zivilgesellschaft und stabilen Gewerbetätigkeit, die die ländlichen Gebiete für einen Aufschwung benötigen. Wenn es nicht gelingt, diese Grundbedürfnisse zu befriedigen, heißt das, dass auch nach drei Jahrzehnten Demokratie die Apartheid-Geografie und die überkommene Politik des Redlining (die Abgrenzung von bestimmten Gebieten aufgrund rassistischer Zuschreibungen) noch immer wirksam sind. Die Regierung muss das nötige Geld investieren, um sicherzustellen, dass die Schwarze Landbevölkerung gute Bildungschancen und die notwendige Unterstützung bekommt, damit die Menschen auf der Suche nach Arbeit nicht abwandern müssen, sondern in der Lage sind, in ihren eigenen Gemeinden zu leben und sie zu gestalten.

Gleichzeitig sollte die Regierung nach Möglichkeit die finanzielle Unterstützung für die Schwarze Bevölkerung deutlich erhöhen. Präsident Ramaphosa hat dies in seiner Rede zur Lage Nation 2023 in Aussicht gestellt, nun müssen Taten folgen. Die Einführung eines bedingungslosen Grundeinkommens wird bereits diskutiert. Während die Möglichkeiten dazu noch ausgelotet werden, könnte man zumindest die Beihilfen verdoppeln. So würde auch deutlich mehr Geld in die Ernährung und Bildung Schwarzer Kinder fließen. Darüber hinaus würde dies den Menschen den Zugang zu einer besseren Infrastruktur ermöglichen und damit ihre Lebensqualität insgesamt verbessern.

Mindestens 3,2 Millionen Südafrikaner*innen in den ländlichen Gebieten der Provinzen betreiben eine Form von Landwirtschaft zur Ergänzung ihres Nahrungsmittelbedarfs, doch ihnen fehlt Land, um noch mehr anzubauen. Das macht deutlich, dass die Landreform mehr umfasst als nur die Bereitstellung von Land zur wirtschaftlichen Nutzung. Eine entscheidende Maßnahme wäre die direkte Übergabe von begrenzten Landflächen zwischen 2 und 10 Hektar an Schwarze Berechtigte, verbunden mit der Bereitstellung eines gewissen Startkapitals oder von Geräten zur Bewirtschaftung des Landes. Sorgfältig geplante Schulungen und ein mit ausreichend Kapital ausgestatteter Ressourcentransfer sind durchaus sinnvoll, aber diese Prozesse nehmen zu viel Zeit in Anspruch. Die Empfänger*innen haben mehr davon, wenn sie ins kalte Wasser springen und mit dem anfangen, was sie haben – vorausgesetzt, sie bekommen etwas, womit sie anfangen können.

Das Bildungswesen muss grundlegend verbessert werden. Südafrikanische Universitäten beklagen häufig den Zustrom von Studienanfänger*innen, die mit den Anforderungen einer Universitätsausbildung nicht Schritt halten können. Dies führt zu einem Rückstau von Student*innen, die Kurse wiederholen müssen, wie der frühere Chefstatistiker Pali Lehotla während der Kampagne zur Senkung der Studiengebühren erklärte. Während seiner Amtszeit leitete Lehotla eine Untersuchung, die offenbarte, dass über 400.000 Student*innen im Universitätssystem feststeckten und immer noch Förderung durch das National Student Financial Aid Scheme (NSFAS) erhielten, um ihr Studium fortsetzen zu können. Im Parlament erklärte er: «Es gibt (fast) eine Million Student*innen und wir geben Geld für diejenigen aus, die keine Aussicht darauf haben, ihr Studium abzuschließen […] 300.000 Menschen im System (der höheren Bildung), die nicht dorthin gehören, die keinen Abschluss schaffen werden […] Es gibt zahlreiche Hinweise darauf, dass sie nicht über die finanziellen Mittel verfügen, um ihr Studium abzuschließen, und dass sie es aus diesem Grund auch nicht schaffen werden».

In Südafrika wurden kürzlich zwei neue Universitäten eröffnet: die Sol Plaatjie University in Kimberley und die University of Mpumalanga. Zwei weitere Universitäten in Hammanskraal und in Ekurhuleni sind geplant. Der Wunsch nach einer Universitätsausbildung, die der übliche Weg in ein Angestelltenverhältnis ist, ist unter Schwarzen weitverbreitet, obwohl die Zahl der offenen Stellen in Südafrika in diesem Bereich von Jahr zu Jahr sinkt. Dagegen gibt es einen massiven Mangel an qualifizierten Handwerker*innen, an Elektriker*innen, Installateur*innen, Bauhandwerker*innen, Schweißer*innen, IT-Techniker*innen, Webentwickler*innen und Köch*innen. Dies spiegelt ein größeres Problem in Gesamtafrika wider, wo Universitäten ursprünglich die Funktion von Kaderschmieden der Angestelltenelite hatten. Als aber die Wirtschaft zu wachsen begann, und die Urbanisierung sich beschleunigte, wurde wenig getan, um dieses Paradigma zu ändern. Im Falle Südafrikas besteht die Ironie darin, dass arbeitslose Schwarze Südafrikaner*innen oft Migrant*innen aus den Nachbarstaaten bezahlen müssen, um Kabelanschlüsse legen und Klempnerarbeiten erledigen zu lassen. Ein populäres TikTok-Video, das einen mosambikanischen Handwerker zeigt, der alles im Haus reparieren kann, von geplatzten Rohren über kaputte Fliesen bis hin zu Badeöfen, verdeutlicht diese Realität. Um diese Ungleichheit zu beseitigen, müssen unbedingt mehr Mittel in die Berufsschulausbildung fließen, damit mehr jungen Menschen praktische Fähigkeiten vermittelt werden können.

Und schließlich gilt es, in ländlichen Gebieten Gründerzentren einzurichten, in denen Schwarze die Möglichkeit erhalten, ihr Wissen anzuwenden. Diese Gründerzentren sollten alle Wachstumssektoren umfassen, die für die südafrikanische Wirtschaft von entscheidender Bedeutung sind, darunter grüne Energie, IT, Landwirtschaft und Tourismus. Durch die Einrichtung von Hunderten von Gründerzentren für Solar- und Windkraftanlagen in ganz Südafrika könnte die Regierung Schwarzen helfen, die entstehende Lücke in dieser Schlüsselindustrie zu schließen. Die Tatsache, dass nur drei Jahre nach Beginn des Booms der erneuerbaren Energien in Südafrika die überwältigende Mehrheit der Kapazitäten in diesem Bereich im Besitz von Weißen ist, spricht Bände. Es ist auch ein Zeichen dafür, dass sich die Situation nur ändern wird, wenn ernsthafte Maßnahmen ergriffen werden. Andernorts könnten junge schwarze Landwirt*innen in die Lage versetzt werden, kleine Betriebe zu führen, die Transportlogistik zu bewältigen und so Zugang zu lokalen Märkten und Supermärkten zu bekommen. Es muss zudem dafür gesorgt werden, dass Regierungen und Gemeinden Aufträge an junge Unternehmen vergeben, die aus solchen Gründerzentren hervorgehen. In den letzten Jahren sind einige solcher Lieferketten entstanden, die meisten allerdings in städtischen Gebieten. Für eine gerechte Verteilung des Wohlstands ist es jedoch entscheidend, auch die ländlichen Gebiete zu erreichen.

4. Schlussfolgerungen

In mehreren seiner Reden im Parlament hat Thabo Mbeki das Gedicht «Harlem» des amerikanischen Dichters Langston Hughes zitiert:

Was wird aus dem vertagten Traum?

Vertrocknet er

wie die Rosine an der Sonne?

Oder schwärt er wie eine Wunde,

aus der dann Eiter fließt?

Stinkt er wie verfaultes Fleisch?

Oder bildet er eine Zuckerkruste

wie ein allzu süßer Sirup?

Kann sein, dass er nur zusammensackt,

wie eine schwere Last.

Oder explodiert er?

Der Traum von mehr Macht in den Händen des Volkes und Chancengleichheit hat sich in Südafrika noch nicht wirklich erfüllt. In einigen Fällen «eitert» der Traum, in anderen «stinkt» er schon – um mit den Bildern aus Langston Hughes‘ Gedicht zu sprechen. Zu viele Menschen mussten viel zu lange warten, um am Wohlstand des Landes teilzuhaben. Nach Jahren der Trickle-Down-Ökonomie ist es an der Zeit, eine gezielte und gut finanzierte Initiative zu entwickeln, die speziell auf ländliche Gebiete zugeschnitten ist und durch umfangreiche Mittel und eine strenge Aufsicht abgesichert wird. Geschieht dies nicht, wird sich die Kluft zwischen dem Schwarzen und Weißen Südafrika weiter vertiefen. Die Ausschreitungen im Juli 2021 folgten einem bestimmten Muster. Supermärkte und nicht Buchhandlungen waren die vorrangigen Ziele. Dies unterstreicht die Dringlichkeit einer Lösung für die Ernährungsunsicherheit. Wenn eine solche Lösung ausbleibt, geschieht das, was Langston Hughes in seinem Gedicht ausdrückt und was Thabo Mbeki dem südafrikanischen Parlament vor Augen führte: der Traum explodiert. Glücklicherweise gibt es einige fähige Führungspersönlichkeiten des ANC, wie Zamani Saul, der Investitionen von mehr als 100 Milliarden Rand in grüne Energie am Nordkap angestoßen hat, oder Panyaza Lesufi, der mit seinem Nasi Ispani-Programm nach kaum einem Jahr im Amt über 100.000 Arbeitsplätze für junge Menschen in Gauteng geschaffen hat. Sie gehen mit gutem Beispiel voran, aber es gibt noch viel zu tun.

Übersetzung von Camilla Elle und Sabine Voß für Gegensatz Translation Collective.

Bibliografie

Adebayo, A. (2016): Thabo Mbeki, Jacana Media, Johannesburg.

Amnesty International (2020): Broken and Unequal; the State of Education in South Africa, amnesty.org.za/wp-content/uploads/2020/02/FINALBrokenAndUnequal_FULLREPORTredu_compressed.pdf (letzter Zugriff März 2024).

Barron, P. et al. (2022): Teenage Births and Pregnancies in South Africa, 2017–2021 — A Reflection of a Troubled Country: Analysis of Public Sector Data, in: Issues in Public Health, April 2022, Vol. 112, Nr. 4, S. 252–258.

Butler, A. (2009): Contemporary South Africa, Palgrave Macmillan, London.

Mbeki, M. (2009): Architects of Poverty; Why African Capitalism Needs Changing, Bidvest Data, Kapstadt.

Mbeki, T. (1998): The Two Nations, Rede vor dem Parlament, https://www.anc1912.org.za/wp-content/uploads/2021/07/Umrabulo-Issue-No.5-3rd-Quarter-1998.pdf (letzter Zugriff Januar 2024).

Mtyala, Q. (2016): Tertiary System ‹Constipated› with Too Many Students, Cape Argus, https://www.iol.co.za/capetimes/news/tertiary-system-constipated-with-too-many-students-2083626 (letzter Zugriff 10. Januar 2024).

Ngam, R. N. (2021): Government-Driven Land and Agrarian Reform Programmes in Post-Apartheid South Africa — A Brief History (1994-2021), in: African Sociological Review/Revue Africaine de Sociologie, Vol. 25, Nr. 1, S. 131-152.

Ramaphosa, C. (2024): Education Is Our Most Powerful Weapon against Poverty, https://www.stateofthenation.gov.za/newsletter/education-is-our-most-powerful-weapon-against-poverty (letzter Zugriff 22. Januar 2024).

Redders, H. (2021): Regional Inequality and Rural Dependency in South Africa, UN University SA-TIED Programme, https://sa-tied-archive.wider.unu.edu/sites/default/files/SA-TIED-WP-163.pdf (letzter Zugriff 23. Januar 2024).

South African Reserve Bank (1994): Annual Economic Report 1994, SARB, Pretoria.

Stat SA (2022a): General Household Survey 2021, Stat SA, Pretoria.

Stat SA (2022b): Profiling Health Challenges Faced by Adolescents (10-19 years) in South Africa, Stat SA, Pretoria.

Stat SA (2023): Quarterly Labour Force Survey, Stat SA, Pretoria.

Zwane, T. (2019): Black Middle Class More than Doubled but the Struggle Continues,  https://www.news24.com/citypress/business/black-middle-class-more-than-doubled-but-the-struggle-continues-20190429 (letzter Zugriff 2024).


[1] Die Armutsgrenze wird von Statistics South Africa nach dem international anerkannten Cost of Basic Needs-Ansatz ermittelt.

[2] Der Congress of the People war eine Versammlung, die vom 25. bis 26. Juni 1955 in Kliptown (Provinz Gauteng), Südafrika, stattfand und an der mehr als 3.000 Delegierte teilnahmen. Er brachte ein Bündnis aus politischen Parteien (ANC, Indian Congress, Coloured People's Organisation und Congress of Democrats), Gewerkschaften, zivilgesellschaftlichen Organisationen und religiösen Vereinigungen zusammen. Ziel war es, eine gemeinsame Vision für Südafrika zu entwickeln. Der Kongress verabschiedete schließlich die historische Freiheitscharta.

[3] Unter «Tenderpreneurs» versteht man in Südafrika gut vernetzte «Geschäftsleute» (Unternehmer*innen), die sich mit Hilfe ihrer politischen Kontakte um die meisten staatlichen Aufträge (Ausschreibungen) bewerben und diese auch gewinnen. Die University of Western Cape definiert den Begriff wie folgt: «Tenderpreneur» ist ein umgangssprachlicher südafrikanischer Begriff für eine Geschäftsperson, die politische Kontakte nutzt, um Regierungsaufträge (so genannte «Tenders») zu erhalten, oft im Rahmen eines gegenseitigen Austauschs von Gefälligkeiten oder Vorteilen. Der Begriff ist ein Kofferwort aus «tender» (Ausschreibung) und «entrepreneur» (Unternehmer). Tenderpreneure werden heute mit Korruption, Vetternwirtschaft und Klientelismus in Verbindung gebracht. Der Grund dafür ist, dass die Vergabe vieler Ausschreibungen eher von informellen Interessen und/oder politischer Zugehörigkeit bestimmt wird als von den Anforderungen eines formalen Verfahrens. Die Informalität des «Tenderpreneurship» liegt also in diesen außerrechtlichen gesellschaftlichen und politischen Beziehungen begründet.