Nachricht | Erinnerungspolitik / Antifaschismus - Kommunikation / Öffentlichkeit - Israel - Palästina / Jordanien - Antisemitismus (Artikel) «Es handelt sich um einen Versuch der Einschüchterung»

Interview mit Peter Ullrich über die Proteste gegen den Gaza-Krieg, die Kampagne der «Bild»-Zeitung gegen Wissenschaftler*innen und die Komplexität von Antisemitismusverständnissen.

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Peter Ullrich

Frage: Die «Bild»-Zeitung hat jüngst einen großen Artikel veröffentlicht, der die Unterzeichner*innen eines offenen Briefes kritisiert, der sich gegen die Einschränkung der Demonstrations- und Meinungsfreiheit der Studierenden auf dem Campus der Freien Universität Berlin richtete. Der Titel dieses Artikels lautet: «UniversiTäter». Veröffentlicht wurden auch Fotos mit Namen einiger Unterzeichner*innen – auch von dir. Wie ordnest du das ein?

Dr. Dr. Peter Ullrich ist Protest- und Antisemitismusforscher an der TU Berlin und Referent im Studienwerk der Rosa-Luxemburg-Stiftung. Das Interview mit ihm führte Henning Obens.

Peter Ullrich: Das ist eine aus dieser Richtung zwar nicht unerwartete Kampagne, die aber doch eine krasse Zuspitzung darstellt. Man muss sich zunächst vergegenwärtigen, wen und was die Springer-Presse da eigentlich angreift. Es gab Proteste an der FU Berlin von propalästinensisch orientierten Studierenden, die sich für die Beendigung des Gaza-Krieges ausgesprochen haben. Das in diesem Kontext auf dem Campus errichtete Camp ließ die Universitätsleitung dann umgehend räumen.

Wenn man sich die Polizeiberichte und die verschiedenen Augenzeugenberichte anschaut, kann man festhalten, dass die Universität hier ihr Hausrecht in Anspruch genommen hat – und nicht etwa, dass es zu relevanten Rechtsverstößen gekommen wäre. Die Proteste waren zwar nicht angemeldet, und es gab im Zuge der Räumung vereinzelt Sachbeschädigungen, aber im Grunde wollte die Unileitung das Camp einfach aus dem Weg haben.

Daraufhin haben sich viele Dozent*innen zusammengetan und ein Statement verfasst, dass ich ebenfalls unterschrieben habe. Dieses Statement macht deutlich, dass wir eine grundsätzlich andere Vorstellung als die FU-Leitung davon haben, wie mit Protesten an Universitäten umgegangen werden soll und wie Universitäten als öffentlicher Raum und als Raum der Debatte zu gestalten sind. Wir sprechen uns klar für das Recht der Demonstrierenden auf friedlichen Protest aus, und dagegen, dass derartige Proteste mit polizeilichen Gewaltmaßnahmen überzogen werden.

In dem offenen Brief enthalten wir uns explizit einer Stellungnahme zu den konkreten Forderungen der Protestierenden. Ich gehe zwar davon aus, dass ein Großteil der Unterzeichnenden diesbezüglich gewisse Sympathien hegt, aber das war nicht das Thema des Briefes. Es ging vielmehr darum, das Recht auf freie Meinungsäußerung zu verteidigen und auf bestimmte Grundstandards im Versammlungsrecht hinzuweisen. Also, dass Versammlungsfreiheit auch in teilöffentlichen Räumen gilt und dass auch in Fällen, wo es zu kleineren Gesetzesbrüchen kommt, die Möglichkeit besteht, dagegen vorzugehen, ohne gleich den gesamten Protest zu kriminalisieren. Uns war es wichtig, Stellung zu beziehen, dass Hochschulen auch in solchen Konfliktthemen einen Diskurs führen und Studierende begleiten. Insbesondere Lehrende haben auch eine Verantwortung für die Studierenden, die sich dort treffen, und eine andere Vorstellung, wie mit konflikthaften Situationen dieser Art umzugehen ist.

Das Dramatische an dieser Situation ist aber weniger die erwartbare Skandalisierung der «Bild», die völlig unzutreffende Vorwürfe formulierte und im Grunde eine Schmähkritik darstellt. Das Dramatische ist vielmehr, dass sie dafür Rückendeckung von sehr hohen politischen Amtsträger*innen erhalten hat, von der Bundesbildungsministerin bis zum Regierenden Bürgermeister Berlins, die diese Hetze durch ihre unreflektierten, holzschnittartigen Stellungnahmen, dass es sich bei dem Camp um eine Ansammlung von Antisemiten und Israel-Hassern gehandelt habe, sekundierten.

Jetzt gibt es eine breite Unterstützungswelle gegen diese absurden Vorwürfe. Mittlerweile haben über 1000 Wissenschaftler*innen den Aufruf unterschrieben. Wer wurde denn ins Zentrum der Springer-Berichterstattung gestellt?

Es ist wirklich interessant sich das anzuschauen. Das waren allesamt Unterzeichner*innen aus Berlin, die namentlich und mit ihrer Institution und sogar mit Foto aufgelistet wurden. Ins Zentrum gestellt wurde Naika Foroutan, die Direktorin des Berliner Instituts für empirische Integrations- und Migrationsforschung, und daneben Leute, die teilweise einen Themenbezug haben, der diese Vorwürfe nochmal besonders abstrus erscheinen lässt – etwa Michael Wildt, einer der wichtigsten deutschen Holocaust-Forscher, oder ich als Antisemitismus-Forscher. Darüber hinaus wurden Leute rausgepickt, die Fächer vertreten, die den Rechten ohnehin ein Dorn im Auge sind, beispielsweise Gender und Diversity, und mehrere Vertreter*innen der Arabistik und verwandter Fächer. Es sind aber auch Leute dabei, bei denen man sich wirklich fragt, wie sie auf diese Liste gekommen sind – deshalb wirkt das alles ein bisschen willkürlich, und daran erkennt man meines Erachtens auch, dass es sich um einen Versuch der Einschüchterung handelt. Menschen, die überlegen, sich öffentlich ähnlich zu äußern, sollen verunsichert werden, und alle sollen sich als potenzielle Angriffsziele wahrnehmen. Das wiederum ist besonders für diejenigen dramatisch, die etwa einen ungesicherten Aufenthaltsstatus haben, die befristet beschäftigt sind, bei denen also unmittelbar Existenzängste auftauchen, wenn sie öffentlich an den Pranger gestellt werden.

Es gibt ja eine ganz ähnliche Tendenz in den USA, wo es inzwischen sogar im Kongress zu Anhörungen über die Situation an den Universitäten und zu Auseinandersetzungen über die dort vermeintlich katastrophalen Zustände gekommen ist. Ist das eine Art Bauplan, der jetzt aus den USA übernommen wird, um Hochschulen als kritische Orte anzuprangern und unliebsame Fächer zu schließen?

Ich möchte hier zwei Ebenen unterscheiden. Es gibt zum einen diese allgemeinen Angriffe auf Fächer, die irgendwie als ‚links‘ gelten, und autoritäre Angriffe auf bestimmte wissenschaftliche Positionen, die als nicht wissenschaftlich diskreditiert werden sollen. Begleitet wird dies von autoritären politischen Eingriffen in Universitäten. Aber man muss zum anderen auch sehen, dass das Ganze zugleich eine spezifische Dimension besitzt. Denn die Konflikte um das Thema Antisemitismus unterliegen in Deutschland einer ganz bestimmten Entwicklung, die ich als Verrechtlichung und Versicherheitlichung der Nahost- und Antisemitismusdebatte analysiere. In diesem Konfliktfeld spielt Antisemitismus auch eine Rolle, spielt Rassismus eine Rolle – es ist ein ausgesprochen widersprüchliches Feld, mit sehr unterschiedlichen Arten von Akteuren. Diese komplexe Gemengelage, in der sich die Beteiligten auch nicht immer nur analytisch und differenziert äußern, wird zunehmend zu einem Ordnungsproblem gemacht, das mit sicherheitsbehördlichen Maßnahmen administrativ abgefertigt werden soll.

Man merkt allerdings – insbesondere an der Freien Universität, aber auch an den anderen Hochschulen in Berlin –, dass derzeit ein Umdenken stattfindet und die Hochschulen erkennen, dass sie dem widersprüchlichen Komplex nicht einfach entkommen können, indem sie trügerische Ruhe herstellen. Denn das Thema ist dadurch ja nicht weg. Es gibt eine Vielzahl von Menschen, die aus sehr unterschiedlichen Perspektiven involviert bzw. vom Konfliktgeschehen auf unterschiedliche Art und Weise betroffen sind, und dieser Umstand verlangt ein grundsätzlich anderes Herangehen – eines, das den Diskurs betont, die offene Auseinandersetzung, das andere Positionen wahr- und ernstnimmt.

Wie der Zufall es will, hast du ja gerade mit anderen ein von der Rosa-Luxemburg-Stiftung gefördertes Buch geschrieben, das versucht, sich der Frage, was Antisemitismus ist, in ihrer Komplexität anzunähern. Wie kam es denn zu diesem Buchprojekt?

Unser Ausgangspunkt ist der in den letzten Jahren intensiv geführte Streit um eine Definition des Antisemitismus bzw., wie man es auch formulieren könnte, die Suche nach einer in allen Lebenslagen glücklich machenden und für alle verbindlichen Definition von Antisemitismus. Ich habe ja vor einigen Jahren für die Rosa-Luxemburg-Stiftung und Medico International in einem Gutachten die bekannteste Arbeitsdefinition, die von der International Holocaust Remembrance Alliance stammt, kritisch analysiert. Wir haben uns in der Stiftung aber auch dazu verständigt, dass unsere Auseinandersetzung mit und unser Engagement zu dem Thema keinesfalls bei einer solchen Diskurskritik bleiben darf, sondern dass es sich um ein sehr wichtiges Thema handelt, dass wir ernst nehmen und bearbeiten wollen – nicht zuletzt auch mit Blick auf eine bestimmte, und eben auch antisemitische, Tradition, die es in der politischen Linken gibt. In diesem Zusammenhang kam die Idee auf, einen produktiveren Beitrag zu einer besser geeigneten Antisemitismusdefinition zu leisten.

2021 kam dann jedoch die Jerusalemer Erklärung zum Antisemitismus heraus (an der ich auch mitgearbeitet habe), und man hat ganz schnell gemerkt, dass jeder, der einen Vorschlag in die Debatte einbringt, sofort in die antagonistischen Lager der Nahostdebatte eingeordnet wird. Es wird deutlich: Diese Definitionen haben eine Symbolfunktion. Deshalb haben wir uns die Frage gestellt, was es eigentlich mit diesem Definitionsproblem auf sich hat. Was können und wollen Definitionen, welche Kriterien gilt es zu beachten, und wie ist die Antisemitismusforschung damit bisher konkret umgegangen? Denn man kann meines Erachtens konstatieren, dass es viele gute Gründe gibt, warum in der Geschichte der Forschung Leute zu unterschiedlichen Zeitpunkten, aus unterschiedlichen fachlichen Perspektiven, mit unterschiedlichen historischen Analysen usw. zu sehr unterschiedlichen Einschätzungen darüber gelangen, was Antisemitismus eigentlich genau ist, und wo Grenzen zu anderen Phänomenen liegen. Das wiederum erfordert eine intensive Auseinandersetzung, weil es sich um ein hochkomplexes Feld handelt, das aber in der politischen Debatte sehr reduktionistisch behandelt wird. Es wird zu viel über den Wortlaut von Definitionen debattiert und zu wenig über ihren Symbolgehalt und damit zusammenhängende Vorverständnisse. Und es fehlt bisher fast völlig die genuine Perspektive von Expert*innen für Begriffsbildung, also der Wissenschafts- und Erkenntnistheorie. All das wollten wir behandeln.

Worum drehen sich denn die Debatten, kannst du sie an einem dieser Spannungsfelder beschreiben?

Ein wichtiges Gegensatzpaar sind eternalistische und ‚modernistische‘ Positionen – also diejenigen, die sagen, Antisemitismus gibt es seit 2500 Jahren, seit der griechischen Antike, und diejenigen, die Antisemitismus als ein Produkt der Moderne mit einer vielleicht 150- bis 200-jährigen Geschichte verstehen. Dieser starke Gegensatz hat sich in der Forschung mittlerweile indes weitgehend aufgelöst. Inzwischen dominieren Positionen, die sowohl Kontinuitäten als auch Brüche ausmachen – die Diskussion dreht sich dann eher darum, wo die Brüche jeweils angesetzt werden. Das ist durchaus produktiv, aber eben auch herausfordernd. Lassen sich beispielsweise die Zugehörigkeitskonstruktionen moderner Gesellschaften, die maßgeblich für die Form des heutigen Antisemitismus sind, überhaupt mit Gemeinschaftsvorstellungen in der griechischen Antike oder im Frühchristentum vergleichen? Die Positionen werden in der öffentlichen Debatte jedoch häufig mit einer Verve vorgetragen, die angesichts der Kompliziertheit der vielen Sachfragen, die damit zusammenhängen, doch überrascht.

Noch ein anderes Beispiel: Was ist eigentlich das Spezifische des Antisemitismus? Wann ist es sinnvoll, von Antisemitismus zu sprechen und nicht beispielsweise von Phänomenen, die allgemeine Konfliktkonstellationen darstellen, in denen auch eine jüdische Seite Partei ist? Etwas flapsig gesagt: Auch Jüdinnen und Juden sind Parteien in Ehestreitigkeiten oder in wirtschaftlichen Konflikten oder eben in nationalen Konflikten. Antisemitisch wird es dann, wenn in den Konfliktkonstellationen Feindbilder konstruiert werden, die antisemitische Muster reproduzieren.

Was die historische Dimension betrifft, gibt es da sehr unterschiedliche Antworten. Nur ein Beispiel: Gavin Langmuir macht den Umschlag im Spätmittelalter fest, als die bekannten antijüdischen Legenden aufkamen: Ritualmordlegende, Kindstötung, Brunnenvergiftung usw. Ab diesem Punkt hat der Antisemitismus eine «chimärische» Qualität und sich völlig von der Realität jüdischer Existenz abgelöst. Das grenzt er beispielsweise von der Antike ab, wo judenfeindlicher Exzesse vielleicht eher in Gruppenkonflikten gründeten, die religiös aufgeladen waren, aber wo das spezifische Jüdisch-Sein nicht so maßgeblich war, wie in anderen Situationen, in denen das antijüdische Feindbild einen welterklärenden Charakter bekommt.

Es gibt in eurem Buch eine Definition des sogenannten israelbezogenen Antisemitismus. Dieser markiert ja eine neue Dimension des zweieinhalb Jahrtausende alten Antisemitismus. Könntest du diese Form des Antisemitismus beschreiben?

Es stellt sich die Frage, ob dieser Antisemitismus wirklich neu ist. Thomas Haury, der in unserem Buch darüber schreibt, argumentiert, dass der moderne, nationale Antisemitismus, der sich seit der Mitte des 18. Jahrhunderts herausbildete – als die Frage der rechtlichen Emanzipation der Juden aufkam –, einem jüdisch-nationalen Projekt von Anfang an grundsätzlich feindlich gegenüberstand. Das hängt auch mit den Vorstellungen zusammen, die der Antisemitismus vom Judentum und von Jüdinnen und Juden hat: dass sie nicht fähig seien zur Gemeinschaftsbildung, zur Sesshaftigkeit, zur Produktivität. Diese Feindbilder legen nahe, dass man sich einen jüdischen Nationalstaat nicht vorstellen kann. So gesehen ist der moderne Antisemitismus – und dazu gibt es viele prägnante Äußerungen – von Beginn an antizionistisch und israelfeindlich. Das gilt gerade auch für rechtsradikale Akteure, auch wenn sie sich in der Gegenwart oberflächlich positiv auf Israel beziehen, weil man da Alliierte gegen Muslime oder Araberinnen vermutet.

Grundsätzlich kann man von israelbezogenem Antisemitismus sprechen, wenn Deutungen oder Handlungsweisen gegenüber Israel antisemitische Muster reproduzieren. Das wurde in der Geschichte auch mal mehr, mal weniger gut kaschiert. Da gibt es, auch in der Geschichte der Linken, viele traurige Phasen und Episoden. Aber das ist das Unterscheidungsmerkmal. Es geht nicht darum, ob die Kritik zutrifft, oder ob sie besonders radikal oder zugespitzt ist, sondern ob sie semantische Muster des Antisemitismus reproduziert: also eine Wir-Gruppe abgrenzt und als unvereinbar erklärt mit einer jüdischen Gruppe, der ein solcher Gemeinschaftscharakter nicht zugestanden wird  – und damit eine dichotome Unterscheidung vornimmt und die Feindgruppe abwertet. Die Juden sind in dieser Perspektive nämlich nicht nur andere wie die Franzosen usw., sondern unterlaufen und bedrohen die ‚natürliche‘ nationale Ordnung der Welt. Der Nahostkonflikt bietet Andockflächen, Gelegenheitsstrukturen für antisemitische Argumentationsmuster, die ihren Antisemitismus dahinter verstecken, dass man «Israel» sagt. Aber noch mal: Es geht nicht darum, ob eine Kritik zutrifft oder hart ist, sondern ob sie Antisemitismus reproduziert.

Es gibt in der Tat eine relativ klare Vorstellung davon, dass es sich um versteckten Antisemitismus handelt, wenn man in seiner Kritik an der Politik der israelischen Regierung antisemitische Muster benutzt. In den politischen Debatten wird dieser Vorwurf des israelbezogenen Antisemitismus aber auch immer wieder anders bzw. breiter ausgelegt. Die Frage, die sich für mich hier anschließt, lautet: Warum ist das so?

Es gibt hier etwas, das man Concept Creep nennen könnte, also eine schleichende Bedeutungsausweitung des Konzepts, die in der Konsequenz dazu geführt hat, dass manche auch einen Antisemitismusbegriff vertreten, für den ein antijüdisches Feindbild gar nicht mehr notwendig ist. Besonders unrühmlich ist in diesem Kontext der «3-D-Test» von Natan Sharansky, der wie folgt argumentiert: Israel ist ein jüdischer Staat, und wenn Israel mit doppelten Standards bewertet oder delegitimiert oder dämonisiert wird, dann ist das Antisemitismus. In dieser Konzeption muss gar nicht mehr nachgewiesen werden, dass es um den jüdischen Charakter des Staates geht, sondern es genügt, dass Israel sich als jüdisch definiert – dadurch gilt Israelkritik automatisch als antisemitisch. Das ist verstörend, weil auf diese Weise alle anderen Dimensionen, die eine Rolle spielen (können), vernachlässigt werden – etwa, dass es einen jahrzehntelangen nationalistischen und religiösen Konflikt gibt, einen Konflikt um Ressourcen und Lebenschancen, eine jahrzehntelange Besatzung. Und das ist ein Problem.

Dieses Phänomen hat unterschiedliche Quellen, die in einer «Koalition des Schreckens» zusammenkommen. Es wird von israelischer Politik zur Selbstlegitimation genutzt; das geht so weit, dass es die gleichzeitig sichtbaren genozidalen Ambitionen eines Teils der israelischen Regierung irgendwie schönzurechnen versucht. Es gibt in diesem Zusammenhang aber auch eine linke Tradition, die ihren Ausgangspunkt in einer Kritik von Antisemitismus in der Linken hatte und über Radikalisierungsprozesse letztendlich bei einer radikal rechtszionistischen Position landete. Das lässt sich als Identifikations- und Radikalisierungsprozess nachzeichnen. Aber beide Quellen – und weitere, darunter ein religiöser Philosemitismus – konvergieren jetzt und sind daran beteiligt, den Antisemitismusbegriff zu einem wohlfeilen Vorwurf verkommen zu lassen.

Gibt es da einen Ausweg? Müssen wir uns jetzt alle mit den Definitionen beschäftigen, oder müssen wir hinter die Interessen gucken, die da drinstecken? Anders formuliert: Gibt es eine Möglichkeit, sich auf einen gemeinsamen Rahmen zu verständigen?

Auch hier muss man wieder unterschiedliche Ebenen auseinanderhalten. Da, wo solche Diskussionen vorwiegend interessengeleitet sind, wird man mit einer rationalen Diskussion nicht weiterkommen, weil die Argumente in diesen Fällen rein instrumenteller Natur sind. Für die öffentliche Debatte, für journalistische Berichterstattung, für wissenschaftliche Diskussionen kann und muss man schon etwas mehr fordern. Im Grunde müsste man einen Katalog von Forderungen zusammenstellen.

Das eine wäre natürlich mehr Transparenz und Offenlegung auch der politischen Intentionen, die hier eine große Rolle spielen. Das trifft gerade auf die Wissenschaft zu, weil dieses Feld besonders stark von Politik und Aktivismus beeinflusst ist. Dann gilt es, die faktische Vielstimmigkeit anzuerkennen. Das ist meines Erachtens auch die wichtigste Leistung unseres Buches: die Vielfalt und die Komplexität dieser Frage darzustellen, in der Forschungslandschaft wahrzunehmen und wegzukommen von der Hermetik des Verdachts, bei der man dem Gegenüber unterstellt, irgendwelche bösen Motive zu haben. Stattdessen sollte man anerkennen, dass unterschiedliche Auffassungen jeweils durchaus nachvollziehbare Gründe haben, aber in der Regel zugleich bestimmte Leerstellen aufweisen. Es geht darum, in die Debatte einzusteigen, und das würde auch besser gelingen, wenn das Feld sich nicht so isolieren würde, das heißt, wenn es einen stärkeren Austausch gäbe – mit der Rassismusforschung beispielsweise, weil derzeit teils übertriebene Antagonismen zwischen Antisemitismus und Rassismus aufgebaut werden. Kurz: Es ist eine Aufforderung zu intellektueller Redlichkeit.