Nachricht | Krieg / Frieden - Die Waffen nieder «Dieses sinnlose Töten muss ein Ende finden»

Offener Brief für eine atomwaffenfreie Welt

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Horst Hamm, Franza Drechsel,

Portrait von Horst Hamm, 2022
Horst Hamm, 2022 Foto: privat

Das Frauennetzwerk für Frieden, ICAN Deutschland, die Ärzte-Organisationen IPPNW, die Nuclear Free Future Foundation (NFFF) sowie die Friedensorganisation Ohne Rüstung Leben fordern Bundeskanzler Olaf Scholz in einem Offenen Brief dazu auf, sich entschieden für eine atomwaffenfreie Welt einzusetzen. Horst Hamm von der Nuclear Free Future Foundation, die den Brief initiiert hat, erklärt in einem Gespräch mit Franza Drechsel von der Rosa-Luxemburg-Stiftung, warum der Appell gerade jetzt wichtig ist.
 

Franza Drechsel: Sie haben einen offenen Brief an Bundeskanzler Olaf Scholz geschickt, in dem Sie von ihm fordern, sich für eine atomwaffenfreie Welt einzusetzen. Dazu zählen für Sie die Unterzeichnung des Atomwaffenverbotsvertrags, ein entschiedenes «Nein» gegen eine europäische Atombewaffnung und der Abzug der in Deutschland stationierten Atomwaffen. Warum haben Sie diesen Brief gerade jetzt veröffentlicht?

Horst Hamm: Es gibt keinen konkreten Anlass. Wir sehen aber, dass Russland seit über zwei Jahren einen Angriffskrieg gegen die Ukraine führt und Präsident Putin seither immer wieder mit dem Einsatz von Atomwaffen droht. Schon vor einem Jahr hat er ein Abkommen mit dem weißrussischen Präsidenten, Alexander Lukaschenko, geschlossen, demzufolge russische Nuklearwaffen in Weißrussland stationiert worden sind. Quasi als Pendant zu den US-amerikanischen Atomwaffen in Deutschland und Italien. Und erst vor wenigen Tagen hat Präsident Putin seine Nuklearstreitkräfte angewiesen, den Einsatz nicht-strategischer Atomwaffen nahe der Grenze zur Ukraine zu üben.

Was genau sind «nicht-strategische» Atomwaffen?

Strategische Atomwaffen dienen der Abschreckung. Sie haben ein sehr großes Vernichtungspotenzial. Im Gegensatz dazu werden die nicht-strategischen als «kleine taktische» Atomwaffen bezeichnet. Sie sollen wie konventionelle Bomben eingesetzt werden. Man darf sie aber nicht verharmlosen, denn sie können immer noch das Vernichtungspotenzial der Hiroshima-Bombe haben!

Dr. Horst Hamm ist geschäftsführender Vorstand der Nuclear Free Future Foundation und in der Stiftung verantwortlich für den Uranatlas, den es inzwischen in deutscher, englischer, französischer, tschechischer, italienischer und türkischer Fassung gibt und der gemeinsam mit der Rosa Luxemburg Stiftung, dem BUND, der Greenpeace Umweltstiftung, .ausgestrahlt und weiteren Organisationen herausgegeben wird.

Deshalb sollte Scholz jetzt also aktiv werden?

Nicht nur. Die Gefahr, dass erstmals seit Hiroshima und Nagasaki wieder Atomwaffen eingesetzt werden, ist so groß wie seit der Kubakrise nicht mehr: die Doomsday Clock, die sogenannte Weltuntergangsuhr steht auf 90 Sekunden vor Mitternacht. Und die Wissenschaftler, die dafür das nukleare Risiko beziffern, verweisen auf die verschiedenen kritischen Entwicklungen: der neue New-Start-Vertrag über die Reduzierung strategischer Atomwaffen wurde von Präsident Putin ausgesetzt. Die drei größten Atommächte – China, Russland und die USA – rüsten nuklear auf genauso wie Indien und Pakistan. Der Iran reichert weiter Uran auf Waffenqualität an und der Gaza-Krieg droht sich zu einem größeren Konflikt im Nahen Osten auszuweiten – unter Beteiligung der inoffiziellen Atommacht Israel und des vielleicht bald ebenfalls im Besitz von Atomwaffen befindlichen Irans. In einer solch kritischen Situation sollten Deutschland und Europa alles tun, um zur De-Eskalation beizutragen.

Was müsste passieren, um das aktuelle nukleare Risiko zu minimieren?

Wir haben auch keine Patentlösung. Aber wir müssen als erstes rhetorisch abrüsten. Die Forderung nach einer europäischen Atombewaffnung ist das Gegenteil. Deshalb wäre es sehr gut, wenn Bundeskanzler Scholz und damit Deutschland sich eindeutig dagegen positionieren. Ganz abgesehen davon, würde eine europäische Atombewaffnung den Atomwaffensperrvertrag verletzen, den Vertrag über die Nichtverbreitung von Atomwaffen aus dem Jahr 1968. Außer Indien, Pakistan und Israel haben ihn alle Staaten unterzeichnet, Nordkorea ist 2003 wieder ausgetreten. Eine Erklärung der westlichen Atommächte, keinesfalls zuerst Atomwaffen einzusetzen, könnte die nukleare Bedrohung ebenfalls verringern. Präsident Putin legitimiert seinen Überfall auf die Ukraine ja unter anderem mit der Bedrohung durch die NATO und den Westen. Mit dem Verzicht auf einen Ersteinsatz entziehen wir ihm die argumentative Basis. Bisher haben lediglich China und Indien verkündet, in jedem Fall auf einen nuklearen Erstschlag zu verzichten.

Warum hat Deutschland bisher nicht darauf gedrängt? Mit den in Büchel stationierten Atomwaffen wären wir doch sofort ein Angriffsziel...

Das ist in der Tat nicht nachzuvollziehen. Aber wir haben ja sogar das Gegenteil gemacht: Der frühere US-Präsident Barack Obama formulierte bereits 2009 die Vision einer atomwaffenfreien Welt. Als die USA Jahre später in einem ersten Schritt verkünden wollten, ebenfalls auf einen nuklearen Erstschlag zu verzichten, intervenierte Deutschland dagegen, weil der sogenannte nukleare Schutzschild der US-Amerikaner damit geschwächt würde. Wenn alle Atommächte auf einen Erstschlag verzichten würden, wäre dies ein wichtiger Meilenstein auf dem Weg zu einer atomwaffenfreien Welt. Denn dann könnten alle Atommächte ihre Nuklearwaffen vollständig abrüsten, wie dies im Atomwaffenverbotsvertrag der Vereinten Nationen auch gefordert wird.

Inwiefern würde das zu einer Befriedung des Krieges in der Ukraine beitragen?

Der Verzicht auf den Einsatz von Atomwaffen und der Atomwaffenverbotsvertrag bedeuten noch keinen Schritt in Richtung Frieden. Der Ukraine-Krieg wird bisher ja konventionell geführt und auch bei uns wird weiter konventionell aufgerüstet. Um aber überhaupt Wege zu Friedensverhandlungen zu finden, müssen sich alle in irgendeiner Form Beteiligten von ihrer Gewalt-, Kriegs- und Nuklear-Rhetorik verabschieden. Es ist wahrscheinlich furchtbar schwer, aber der Weg zu Frieden führt über vertrauensbildende Maßnahmen. Wie notwendig das ist, zeigen die vielen Toten: Jeden Tag sterben Hunderte auf beiden Seiten. Dieses sinnlose Töten muss ein Ende finden!

Der Offene Brief wurde am 28. Mai 2024 an Bundeskanzler Olaf Scholz versendet.