Nachricht | Schlechte Aussichten für den Frieden in Kolumbien

Information

Autor

Raul Zelik,

Pressefoto einer Versammlung der Teilnehmer*innen an den Friedensverhandlungen in Kolumbien
Schwierige Verhandlungen auf dem Weg zum Frieden: Vertreter*innen der kolumbianischen Regierung und der linken Guerilla ELN im Februar 2023.
  Foto: Andrea Puentes / Presidencia de Colombia

Bei seiner Wahl im Jahr 2022 versprach Kolumbiens linker Präsident Gustavo Petro eine Wiederaufnahme des Friedensprozesses. Widerstand kommt von den traditionellen Machteliten, die alle sozialen Reformen blockieren, aus dem Staat selbst und von der Organisierten Kriminalität, die ihre illegalen Geschäftsmodelle verteidigen. Die linke ELN hingegen, Kolumbiens älteste Guerilla, verlangt soziale Veränderungen.

Zwei Jahre nach dem Wahlsieg von Gustavo Petro hat die erste Linksregierung Kolumbiens nur wenig konkrete Erfolge vorzuweisen. Zwar bewegt sich der Präsident mit beträchtlichem Geschick in den Institutionen, die einem linken Projekt strukturell feindlich gesonnen sind. Doch um die versprochenen Sozialreformen auch umzusetzen, fehlt es Gewerkschaften, Bauern-, Schwarzen-, Frauen- und Indigenenorganisationen an Geschlossenheit und Organisierung. Das wirkt sich auch auf den Friedensprozess aus. Denn obgleich der bewaffnete Konflikt in Kolumbien vom Drogengeschäft überformt wird, speist er sich in erster Linie aus sozialen Konflikten. Großgrundbesitz und transnationales Kapital, die ein Großteil des kolumbianischen Territoriums kontrollieren, konkurrieren mit indigenen, schwarzen und kleinbäuerlichen Communitys um Land und setzen ihre Interessen notfalls auch mithilfe bewaffneter Banden durch. Solange sich an diesen sozialen Ursachen nichts ändert, wird deshalb wohl auch der bewaffnete Konflikt weiterschwelen.

Vom Volksaufstand zur (prekären) Parlamentsmehrheit

Dass es Gustavo Petro als erster Linker überhaupt ins kolumbianische Präsidentenamt schaffte, hängt eng mit dem Volksaufstand zusammen, der das Land im April 2021 während der Corona-Krise erschütterte und sich gegen das Sparpaket der damaligen Regierung von Präsident Iván Duque richtete. Die damals ausgelöst Eskalation – staatliche Sicherheitskräfte und rechte Gruppen töteten etwa 80 Personen, weitere 130 ließ man verschwinden – führte einer breiteren Öffentlichkeit die politische Zerrissenheit des Landes vor Augen. Auch ein Teil der beiden traditionellen Parteien – Liberale und Konservative – erkannte die Notwendigkeit von Reformen, um die Regierbarkeit des Landes wiederherzustellen. Vor diesem Hintergrund konnte Petro mit seiner Parole eines «Historischen Pakts» die Wahlen im Juni 2022 knapp für sich entscheiden und danach sogar eine erstaunlich breite Regierungskoalition formen. Petro band Liberale und Konservative «klientelistisch» ein, sprich: er vergab Minister- und Verwaltungsposten, was ihm eine Kongressmehrheit sicherte. Sein Wahlbündnis «Pacto Histórico“ hingegen, das aus zwei Dutzend Kleinparteien besteht, hält nur etwa 20 Prozent der Sitze in beiden Parlamentskammern.

Alle Bemühungen, ein eigenes politisches Lager unter dem Namen Frente Amplio (Breite Front) zu gründen, blieben erfolglos. Es gibt also keinen organisierten Kern, um den herum sich ein popularer[1] Block als Gegenpol zur oligarchischen Macht formieren könnte.

Frieden und soziale Reformen

Trotzdem bemühte sich Petro mit großem Geschick für zwei Kernanliegen politische Mehrheiten zu organisieren: Zum einen postulierte er das Ziel, das sozialliberale Mandat der Verfassung von 1991 umzusetzen, die Kolumbien als «sozialen Rechtsstaat» definiert, und schlug in diesem Sinne vor, das öffentliche Gesundheits-, Renten- und Bildungssystem zu stärken. Auf der anderen Seite versprach Petro, den von Ex-Präsident Iván Duque 2018 abgebrochenen Friedensprozess mit den FARC wieder aufzugreifen und auch mit allen anderen bewaffneten Gruppen Gespräche aufzunehmen. Dieses Vorhaben bezeichnete Petro als Paz Total («Umfassender Frieden»). In diesem Zusammenhang propagierte der Präsident auch die Förderung der landwirtschaftlichen Lebensmittelproduktion, was als Angebot an den produktiven Teil der konservativen Landeliten gedacht war.

Unmittelbar nach seinem Amtsantritt 2022 konnte Petro vor allem bei seiner Friedenspolitik auf erstaunlich breite Unterstützung zählen. Nur die politische Rechte leistete gegen die Aufnahme von Friedensverhandlungen mit der ELN-Guerilla, den FARC-Dissidenzen und Teilen der Organisierten Kriminalität sichtbaren Widerstand. Sogar die Suspendierung von 60 Generälen in Armee und Polizei, denen Menschenrechtsverletzungen vorgeworfen wurden, und die Ernennung des Verteidigungsministers Iván Velásquez, der als Kritiker der Armeeführung gilt, gingen relativ glatt vonstatten. 

Der gescheiterte Friedensprozess von 2016

Einer der Ausgangspunkte des neuen Friedensprozesses war die Umsetzung der Vereinbarungen zwischen der Santos-Regierung (2010-18) und den FARC (Revolutionäre Streitkräfte Kolumbiens). Dieses Abkommen, das 2016 zur Demobilisierung der ältesten lateinamerikanischen Guerilla geführt hatte, war von Santos‘ Nachfolger Duque systematisch torpediert worden. Insgesamt litt der Friedensprozess mit den FARC unter drei grundlegenden Problemen: Erstens beschränkte sich das Abkommen auf eine politische Wiedereingliederung der Führungskader der Guerilla, ließ die ökonomischen Macht- und Ungleichheitsverhältnisse, die als materielle Ursachen des bewaffneten Konflikts gelten müssen, jedoch unangetastet. Zweitens wurde schon bald deutlich, dass es innerhalb der FARC zwei unterschiedliche Positionen gab, die weniger mit politischen Differenzen als mit unterschiedlichen materiellen Perspektiven zu tun hatten. Während die Comandantes Abgeordnetensitze erhielten und in die politische Klasse Kolumbiens eingegliedert wurden, gab es für die mittleren Kader der Organisation wenig Perspektiven. Erschwert wurde dies dadurch, dass die Guerilla im Rahmen der Eskalation seit den frühen 1990er Jahren ihren militärischen Apparat zulasten des politischen ausgebaut hatte und die Militärkader jenseits des Kriegs kaum soziale Aufstiegsperspektiven besaßen. Drittens wurde das Friedensabkommen, das Maßnahmen zur ökonomischen Eingliederung der ehemaligen FARC-Kombattant*innen vorsah, nicht umgesetzt. Ein Großteil der Kämpfer*innen rutschte aus dem Krieg in die Armut oder wurde zum Angriffsziel rechter Todesschwadronen.

Diese drei Faktoren sorgten dafür, dass sich gerade jene FARC-Fronten, die in der Drogenökonomie eine besonders aktive Rolle gespielt hatten, von ihrer Führung abwandten und den bewaffneten Kampf wiederaufnahmen. Einige der dissidenten Strukturen schufen sich unter dem Namen Estado Mayor Central auch einen gemeinsamen Dachverband, der die politische Rhetorik der alten FARC weiter bedient, aber letztlich nur noch als eine Variante der Organisierten Kriminalität zu betrachten ist. Der erste Friedensbeauftragte der Regierung Danilo Rueda, der über alte Dialogkanäle zu verschiedenen FARC-Kommandanten verfügte, setzte dennoch auf einen Verhandlungsprozess mit den Dissidenzen. Doch gerade die Verbindung aus politischer Rhetorik und materiellen Handlungslogiken verurteilte jeden Dialog zum Scheitern. Die Dissidenzen müssen heute als Strukturen des Gewaltunternehmertums betrachtet werden. In einigen Regionen operieren sie sogar wie paramilitärische Gruppen und greifen Kleinbauernorganisationen und Kooperativen an. So ermordete eine FARC-Dissidenz Mitte März die Indigenen-Führerin Carmelina Yule Paví und bedrohte die indigene Gemeinde. Aus dem Departement Arauca, das an Venezuela grenzt, berichtete die Menschenrechtsorganisation Joel Sierra Anfang Mai, der Stadtteilaktivist Josué Castellanos sei von einer FARC-Dissidenz bei einem Anschlag getötet worden. 

Für diese Angriffe gibt es ökonomische, aber auch militärisch-operative Gründe: Kleinbauernorganisationen widersetzen sich dem Koka-Anbau in ihren Regionen, was der FARC-Dissidenz finanziell schadet. Es kann aber auch zu einer verdeckten Komplizenschaft zwischen Armee und FARC-Dissidenz kommen, wenn sich die Gewalt gezielt gegen die Selbstorganisation der Bevölkerung richtet. Die Handlungslogiken der Militärs sind keineswegs deckungsgleich mit den Interessen der Regierung.

Organisierte Kriminalität und Block an der Macht[2]

Ebenfalls problematisch sind die Gespräche der Regierung Petro mit den rein-mafiösen Strukturen, darunter vor allem dem Clan del Golfo, der sich selbst bisweilen auch als Autodefensas Gaitanistas bezeichnet. Die Organisierte Kriminalität hat sich in Kolumbien in den letzten Jahrzehnten immer in einer gewissen Unschärfe bewegt: Einerseits handelt es sich um Drogenhandelskartelle, andererseits sind es Gewaltunternehmer, die Kontrolle über Territorien erlangen, um damit Einnahmen zu generieren. Anders als oft vermutet ist das Verhältnis zwischen diesem Gewaltunternehmertum und dem Staat beziehungsweise den politisch-ökonomischen Machtgruppen (dem «Block an der Macht») keineswegs immer feindselig. Zum einen ist der Drogenhandel nämlich auch für Teile der traditionellen Elite eine lukrative Einnahmequelle, zum anderen instrumentalisiert der Staat die Organisierte Kriminalität seit Jahrzehnten systematisch zur Aufstandsbekämpfung. Die ersten rechten Todesschwadronen der 1980er-Jahre beruhten auf einer Kooperation zwischen Militärgeheimdienst und Medellín-Kartell. Die paramilitärischen Autodefensas der 1990er und 2000er Jahre entstanden aus einer Dissidenz eben dieses Kartells und verwandelten sich unter der Führung der Castaño-Brüder und des Mafioso Don Berna in ein Hybrid: Die Paramilitärs waren gleichzeitig rechte Miliz, Todesschwadron der Geheimdienste und wichtigster Drogenhandelsring Kolumbiens.

Der Clan del Golfo und andere vergleichbare Gruppen heute sind Zerfallsprodukte dieser Autodefensas, die in den Regionen unterschiedlichen Logiken folgen können. Teilweise sind sie Gewaltunternehmen mit eigenem ökonomischen Kalkül; teilweise operieren sie auch unter der Regierung Petro als verlängerter Arm von Armee und Unternehmen zur Eroberung oder Kontrolle von Territorien. In den letzten Wochen beispielsweise rückt der Clan del Golfo im Süden des Departements Bolívar vor, wo es große Goldvorkommen, aber auch eine Selbstorganisierung der Bevölkerung und einen gewissen Einfluss der ELN-Guerilla gibt. Die Armee lässt den Clan del Golfo ähnlich wie die Paramilitärs der 2000er Jahre gewähren, weil sich die ökonomischen Interessen der Autodefensas mit dem Aufstandsbekämpfungsanliegen der Militärs decken.

Dass die Regierung Petro sich in dieser Frage nicht deutlicher positioniert, hat möglicherweise auch mit einer unklaren Bewertung der Situation zu tun. Die meisten Friedensberater der Regierung sind der Ansicht, dass die Aufstandsbekämpfung für die Organisierte Kriminalität keine Rolle mehr spielt, sondern nur noch ökonomisches Kalkül von Bedeutung  ist. Wenn dies der Fall wäre, ließe sich allerdings kaum erklären, warum der Clan del Golfo weiterhin gezielt Aktivist*innen aus sozialen Bewegungen ermordet, wie dies etwa Mitte April in Micoahumado / Sur de Bolívar der Fall war. Diversen Menschenrechtsorganisationen zufolge wurden gezielt Personen bedroht, die Verbindungen zur ELN-Guerilla besitzen sollen. Bemerkenswert war in diesem Fall auch, dass starke Eliteeinheiten der Armee in der Nähe waren, ohne bei den Ereignissen einzugreifen.

Der Friedensprozess mit der ELN

Anders gelagert scheint das Problem bei den Friedensverhandlungen mit der ältesten verbliebenen Guerillaorganisation, dem Ejército de Liberación Nacional (ELN, Armee der nationalen Befreiung). Die 1964 gegründete Guerilla ist vor allem vom Guevarismus (politische Theorie im Kontext des marxistisch-leninistischen Anti-Imperialismus, benannt nach Che Guevara) und der Befreiungstheologie geprägt worden. Mit etwa 6000 Kämpfer*innen ist die ELN in den letzten Jahren wieder leicht gewachsen und vor allem in den Grenzregionen zu Venezuela und Ecuador sowie in der Pazifikregion präsent. Politisch strebt sie den Aufbau von poder popular (Volksmacht), also Formen der lokalen Selbstregierung, an. Wichtig ist weiterhin, dass die ELN sehr viel weniger Verbindungen zur Drogenökonomie besitzt als alle anderen illegalen Akteure im Land. Im Departement Arauca hat die ELN den Koka-Anbau untersagt, in anderen Regionen besteuert sie Händler, ist aber nicht am Anbau oder der Verarbeitung beteiligt.

Im Friedensprozess setzt die ELN nicht auf bilaterale Verhandlungen mit dem Staat. Sie strebt kein Demobilisierungsabkommen an, in dessen Rahmen sie sich in eine Partei verwandeln könnte, sondern will mithilfe eines nationalen Dialogs zivilgesellschaftlicher Akteure einen Konsens über notwendige soziale und politische Reformen erzielen. Durch diese Reformen soll der Guerilla gewissermaßen die Grundlage entzogen werden. Nach dem Motto: Je geringer die Ungleichheit ist, desto illegitimer der Guerillakampf.

Die Verhandlungen mit der ELN stecken allerdings ebenfalls in einer Krise, weil die Regierung Petro Gespräche mit einem ELN-Kommandanten (HH vom sogenannten Frente Comuneros del Sur) aufgenommen hat, dem die Guerilla vorwirft, zum Militärgeheimdienst übergelaufen zu sein. Aus der Sicht der ELN verhandelt die Regierung Petro im Departement Nariño (an der Grenze zu Ecuador) mit ihrer eigenen Armee.

Erschwert werden die Verhandlungen auch dadurch, dass Petro einen nachweisbaren Erfolg im Friedensprozess benötigt und daher ein Demobilisierungsabkommen anstrebt. Für die ELN-Guerilla hingegen geht es nach den Erfahrungen der FARC ab 2016 vor allem darum, grundlegende Sozialreformen durchzusetzen. Beide Anliegen scheinen kaum miteinander vereinbar.

Es spricht also wenig dafür, dass Präsident Petro mit seinen Friedensabsichten in den nächsten beiden Jahren Erfolg haben wird. Trotzdem sind die Verhandlungen als unbedingt positiv zu bewerten, weil sie für eine Repolitisierung und Deeskalation des bewaffneten Konflikts sorgen. Mit der ELN herrscht bereits seit fast einem Jahr ein Waffenstillstand, der die Lage in den Kriegsregionen zwar nicht grundlegend verbessert hat (die Paramilitärs bleiben aktiv), aber zumindest einen politischen Dialog ermöglicht.


[1] Anders als der Begriff der «Arbeiterklasse» verweist «populare Klassen» auf eine Vielschichtigkeit von Unterdrückungsverhältnissen. Damit gemeint sind Klein-Bäuer*innen, rassifizierte Gruppen und ökonomisch Marginalisierte im Allgemeinen (Anm. d.V.).

[2] Der Begriff «Block an der Macht» stammt vom italienischen Theoretiker Antonio Gramsci und beschreibt das politisch-ökonomische Machtbündnis, das in einer bürgerlichen Gesellschaft Herrschaft ausübt (Anm.d.V.).