Nachricht | Amerikas Wer gab den Befehl zur Ermordung von Marielle Franco?

Die engen Verstrickungen zwischen organisierter Kriminalität und Politik in Brasilien

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Autorin

Barbara Santos,

Trauernde tragen den Sarg von Marielle Franco in die Câmara Municipal von Rio de Janeiro
Familienangehörige, Freunde und Kolleg*innen tragen Marielle Francos Sarg in die Câmara Municipal von Rio de Janeiro.
Die Politikerin und Aktivistin wurde 2018 auf offener Straße in ihrem Auto erschossen. CC BY-NC 4.0, Foto: Mídia Ninja

Seit März 2018 fordern Brasilianer*innen und Aktivist*innen auf der ganze Welt Aufklärung und Gerechtigkeit für den Mord an Marielle Franco, Stadträtin von Rio de Janeiro und ihrem Fahrer Anderson Gomes. Im März 2024, sechs Jahre nach der Ermordung der beiden, kam jetzt endlich Bewegung in die Ermittlungen und ein Teil der Auflösung ans Licht. Mit dem erschütternden Ergebnis, dass es der Staat selbst war, der Marielle Franco töten ließ.

Marielle Franco: für Frauen, Queers und soziale Gerechtigkeit

Marielle Franco wurde 1979 in Rio geboren und wuchs in der Favela Maré auf, wo sie auch ihre politische Arbeit begann. Zwischen 2006 und 2016 koordinierte sie als Beraterin des Abgeordneten Marcelo Freixo (damals in der PSOL - Partei für Sozialismus und Freiheit) die Menschenrechtskommission des Landtags des Bundesstaats Rio de Janeiro (ALERJ).[1] Im Jahr 2008 leitete Freixo eine parlamentarische Untersuchungskommission (CPI), die die sogenannten milícias untersuchte. Diese bewaffneten Banden wurden ursprünglich von Angehörigen der Sicherheitskräfte gebildet. Sie fungieren als selbst ernannte Ordnungshüter ihrer Wohnviertel und genießen oft sogar eine gewisse Sympathie bei denjenigen, die unter der Herrschaft der Drogenbanden in den Favelas leben und leiden. Mit der Zeit kontrollierten diese Milizen ganze Gebiete, erzielten große finanzielle Gewinne mit dem exklusiven Verkauf von Versorgungsleistungen (Wasser, Strom, Gas, etc.) und erlangten politische Macht, die sie systematisch missbrauchten, um Wahlen, polizeiliche Ermittlungen und Gerichtsverfahren zu beeinflussen. Die Untersuchungskommission führte zur Verhaftung von mehreren Beamten, die die Milizen anführten oder unterstützten. Trotzdem haben sich die Milizen immer wieder und noch weiter ausgebreitet. Das zeigt, wie eng die Verbindung zwischen Polizei, Politik und Kriminalität in Rio de Janeiro ist.

«Quem mandou matar Marielle?» - «Wer hat den Mord an Marielle angeordnet?» Diese Frage wurde zum Schlachtruf der brasilianischen Linken bei Protesten und in den sozialen Medien. Der Hartnäckigkeit vieler Aktivist*innen auf der ganzen Welt ist es zu verdanken, dass der Mord an Marielle Franco nicht in Vergessenheit geriet.

Bei den Kommunalwahlen 2016 wurde Marielle Franco im Alter von 37 Jahren für die PSOL als erste schwarze queere Frau in den Stadtrat gewählt. Sie setzte sich in herausragender Weise für die Verteidigung von Gewaltopfern, die LGBTQIA+- Community und die Rechte von Frauen ein. Außerdem kümmerte sie sich um die Belange von Familien der im «Krieg gegen die Drogen» getöteten Polizeibeamt*innen. Als Stadträtin setzte sie zudem durch, dass einige Gebiete im Westen der Stadt für den Bau von erschwinglichen Wohnungen vorgesehen wurden und nicht unter die Kontrolle von Milizen gerieten.

Kampf gegen Gewalt und organisierte Kriminalität

Im Februar 2018 ordnete der damalige brasilianische Präsident Michel Temer (der Nachfolger von Dilma Rousseff nach dem mehr als zweifelhaftem Amtsenthebungsverfahren gegen Roussef) eine föderale Intervention zur Überwindung der Gewaltkriminalität in Rio de Janeiro an. Der Grund für die Aktion war das erklärte Versagen der Landesregierung bei der Bewältigung des willkürlichen Anstiegs der Kriminalität und eine noch nie dagewesenen Krise der öffentlichen Sicherheit. Der Kommandeur der Intervention, General Braga Netto, beförderte Polizeikommissar Rivaldo Barbosa zum Leiter der Kriminalpolizei. Barbosa war ein langjähriger Bekannter von Marielle Franco, die ihn wegen seiner damaligen Amtsführung als Leiter der Mordkommission respektierte.

Marielle Franco selbst übernahm die Rolle der Berichterstatterin des parlamentarischen Ausschusses des Stadtrats, der die Ergebnisse dieser föderalen Intervention überwachen und bewerten sollte. Genau wie viele Wissenschaftler*innen und Expert*innen lehnte Marielle Franco den föderalen Interventionsplan als politische Strategie zur Bewältigung der Krise der öffentlichen Sicherheit im Bundesstaat ab. Die Stadträtin verwies auf die zahlreichen Misserfolge der Streitkräfte bei der Lösung der Sicherheits- und Kriminalitätsprobleme in Rio de Janeiro und plädierte für eine Politik, die auf der Aus- und Fortbildung von Polizeibeamt*innen, der Anschaffung von Ausrüstung und der Planung strategischer, alltäglicher Polizeieinsätze beruht, die mit nachrichtendienstlichen Maßnahmen verknüpft werden könnten. Die Sicherheitspolitik des Bundesstaates Rio de Janeiro tendierte jedoch seit jeher zu spektakulären öffentlichkeitswirksamen Einsätzen mit vielen Schießereien und gewaltsamen Todesfällen - eine Art Marketing für «Law and Order».

Kurz nach der Übernahme der Rolle als Berichterstatterin, am 14. März 2018, wurde Marielle Franco nach ihrer Arbeit im Stadtrat und der Teilnahme an einem abendlichen politischen Treffen mit schwarzen Frauen auf dem Heimweg in ihrem Auto auf offener Straße erschossen. Sie und ihr Fahrer waren sofort tot. Eine ihrer Beraterinnen, die auf dem Rücksitz mitfuhr, überlebte als Einzige den Überfall.

Nach dem Mord: Fake News und fehlerhafte Ermittlungen

Die Nachricht von Marielle Francos Tod schockierte Brasilien und Menschen überall auf der Welt. Während danach demokratische Kreise Gerechtigkeit und bedingungslose Aufklärung des Mordes forderten, starteten rechtsextreme Politiker eine Kampagne, um den Ruf der Stadträtin zu zerstören. Bereits Stunden nach dem Mord kursierten Falschnachrichten, in denen behauptet wurde, Marielle Franco sei in das organisierte Verbrechen verwickelt. Nachdem eine Gruppe zu Ehren der Stadträtin am Kommunalparlament ein Straßenschild mit ihrem Namen angebracht hatte, zertrümmerten rechtsextreme Politiker bei einer öffentlichen Kundgebung eine Kopie dieses Straßenschilds.

Nach Angaben des Marielle-Franco-Instituts wurden nach Marielle Francos Ermordung mehr als 30.000 Straßenschilder mit Francos Namen als Symbol für den Kampf um Gerechtigkeit hergestellt. An verschiedenen Orten in Brasilien und in Städten wie Paris und Buenos Aires wurden in den letzten Jahren öffentliche Plätze nach der Stadträtin benannt.

In Deutschland führt das seit 2019 bestehende Marielle-Franco-Komitee Berlin eine Kampagne durch, um einen öffentlichen Platz in der Stadt nach ihr benennen zu lassen. 

Die Indizien des Verbrechens deuteten auf einen gut vorbereiteten Mord und einen professionellen Schützen hin: Kopfschüsse aus einem fahrenden Auto an einem schlecht beleuchteten Ort mit wenig Verkehr und beschädigten Überwachungskameras, die Art der gewählten Waffe (eine Heckler&Koch-Maschinenpistole aus deutscher Produktion) und die Herkunft der verwendeten Munition. Expert*innen sind der Meinung, dass nur wenige Menschen in Rio de Janeiro über Zugang zu diesen Waffen verfügen, um ein solches Verbrechen zu begehen. So professionell die Verbrecher zu sein schienen, so auffällig unprofessionell waren die Ermittlungen der Polizei. Sie sicherte weder den Tatort, noch prüfte sie weitere Straßenkameras in der Umgebung oder suchte nach zusätzlichen Zeug*innen. Stattdessen waren es investigative Journalist*innen, die zum Tatort zurückkehrten, um Zeug*innen zu befragen und Bilder von anderen Kameras zu identifizieren und sicherzustellen.

Rivaldo Barbosa, der frisch ernannte Leiter der Kriminalpolizei, versprach den Familien der Opfer zwar, dass er die gesamte Polizeistruktur in den Dienst der Ermittlungen stellen würde. Doch fast ein Jahr lang führten die Ermittlungen systematisch von den wahren Verbrechern weg. Während falsche Zeug*innen auf unschuldige Personen hinwiesen, wurden im Laufe der Ermittlungen mehrere Verdächtige ermordet, ohne dass die Täter oder die Drahtzieher ermittelt wurden.

Neue Verhaftungen und die Verbindungen zu Staat, Politik und organisiertem Verbrechen

Im März 2019 wurden unter starkem Druck der Gesellschaft, der Medien und internationaler Organisationen schließlich zwei ehemalige Polizeibeamte als Verdächtige in dem Mordfall festgenommen: Élcio Queiroz als mutmaßlicher Fahrer des Wagens des Schützen und Ronnie Lessa als mutmaßlicher Schütze. Lessa wurde in seinem Zuhause verhaftet – bemerkenswerterweise  eine Wohnanlage der oberen Mittelschicht in der auch Brasiliens rechtsextremer Ex-Präsident Jair Bolsonaro wohnt.

Obwohl Lessa bereits Verdächtiger bei zahlreichen anderen kriminellen Aktivitäten war, wurde er nie angeklagt oder inhaftiert. Der Fall Marielle Franco brachte dann Lessas Verbindung zu bekannten bicheiros zutage. Diese bicheiros sind die Anführer*innen krimineller Organisationen, die älter sind als die heutigen Drogenbanden und Milizen. Bei ihrem Hauptgeschäft, dem sogenannten «jogo do bicho», handelt es sich um eine illegale Lotterie, bei der auf Zahlen gewettet wird, die Tiere darstellen. Ein lukratives Geschäft, das unschuldig und folkloristisch anmutet, aber dem knallharten Modell der Familienstruktur der italienischen Mafia folgt, in der die Bosse ihre Clans und Territorien schützen, indem sie ihre Feinde kurzerhand eliminieren. Als Förderer von Sambaschulen, ein sehr wichtiges kulturelles Element des Karnevals in Rio de Janeiro, genießen die bicheiros gleichzeitig Prestige und große Popularität. Die Beziehungen der bicheiros zur Polizei und in die Politik und Justiz garantieren ihnen zum Teil bis heute Straffreiheit.

Lessas Verhaftung warf auch ein Schlaglicht auf das so genannte «Büro des Verbrechens», eine hochprofessionelle kriminelle Organisation, die von Milizionären angeführt wurde, Sicherheitsdienste leistete und Mordaufträge ausführte, die von hochqualifizierten Polizeibeamten umgesetzt wurden. Es kam ans Licht, dass einige dieser Anführer enge Verbindungen zu wichtigen Politiker*innen hatten, darunter auch zur Familie des rechtsextremen Ex-Präsidenten Bolsonaro[2]. Während dessen Amtszeit (2019-2022) sind die Ermittlungen im Fall Marielle Franco praktisch nicht vorangekommen.

Neue Ermittlungen unter der Regierung Lula

Im Jahr 2023, mit dem Amtsantritt der Regierung von Präsident Lula, nahm die Bundespolizei in Zusammenarbeit mit der Polizei von Rio de Janeiro die Ermittlungen in dem Fall wieder auf. Am 24. März 2024 wurden schließlich drei Männer verhaftet, die beschuldigt werden, den Mord an Marielle Franco maßgeblich geplant zu haben: Domingos Brazão[3], Mitglied des Rechnungshofs des Bundesstaates Rio de Janeiro, sein Bruder Chiquinho Brazão, damals Landtagsabgeordneter und heute Abgeordneter des Bundesparlaments, und eben jener Kommissar Rivaldo Barbosa, damals Leiter der Kriminalpolizei, der Jahre lang vorgab, die Familie des Opfers zu unterstützen. Alle werden sich jetzt in Gerichtsverfahren verantworten müssen. Besorgniserregend ist die Tatsache, dass nach sechs Jahren viele Beweise verloren gegangen oder beschädigt worden sind und dass die mutmaßlichen Täter immer noch einflussreiche Persönlichkeiten in der Gesellschaft sind.

Offensichtliche Verstrickungen mit dem organisierten Verbrechen

Es ist alarmierend, dass alle Personen, die beschuldigt werden, an diesem Mord beteiligt gewesen zu sein, sowohl diejenigen, die ihn befohlen haben, als auch diejenigen, die ihn ausgeführt haben, Beamte der Polizei oder Akteure der Politik sind oder waren. Der Mord an Marielle Franco hat ein wirtschaftliches, politisches und wahltaktisches Projekt der territorialen Kontrolle und der systematischen Verbreitung von Angst entlarvt, das im engen Schulterschluss von Kriminellen, Polizisten und Politikern umgesetzt wird. Da Rio de Janeiro eine Art nationales Schaufenster ist, könnte die konsequente Auseinandersetzung mit diesem Problem ein praktisches Beispiel für seine Überwindung in ganz Brasilien sein. Unter einer Bedingung: Wenn die Behörden den Willen und den Mut haben, diese innerhalb des Staatsapparats installierte Macht-Strategie zu zerschlagen.

Gefahr für die patriarchalen Machteliten

Marielle Franco, schwarz, lesbisch, Soziologin und Menschenrechtsaktivistin, wurde durch ihr Engagement zu einer politischen Figur mit nationaler Reichweite und zu einer prominenten Person des öffentlichen Lebens. Für viele diskriminierte Brasilianer*innen symbolisierte sie die Hoffnung auf mehr Gerechtigkeit im Land. Für einen Teil der klassischen Machtelite Brasiliens - frauenfeindliche und heuchlerische Männer, die die traditionelle Familie verteidigen, die im Untergrund mit dem organisierten Verbrechen verbunden sind und die es gewohnt sind, öffentliche Güter zu privatisieren, um ihre Privilegien zu erhalten und auszubauen, wurde sie deshalb zu einer Gefahr. Als politisch aktive Frau in einem zutiefst patriarchal geprägten Land wurde sie zudem Opfer politischer Gewalt gegen Frauen.

Gleichzeitig wurde Marielle Franco zu einer Saat, die sich in viele neue kämpferische Parlamentarierinnen verwandelte. Als sie einmal sagte, sie sei nicht aufzuhalten, war uns nicht klar, dass sie von einer kollektiven Entwicklung sprach. Doch heute hallt ihre Stimme in den Reden all derer Frauen nach, die nun an ihrer Stelle weiterkämpfen.


[1] Marcelo Freixo wurde später zum Bundesabgeordneten der PSOL gewählt. Derzeit gehört er der Sozialistischen Partei Brasiliens (PSB) an und ist Vorsitzender von Embratur (Brasilianische Agentur für die internationale Förderung des Tourismus).

[2]   Die Söhne des ehemaligen Präsidenten Jair Bolsonaro sind selbst Politiker: Senator Flávio Bolsonaro, Bundesabgeordneter Eduardo Bolsonaro und Stadtrat Carlos Bolsonaro.

[3] Die Familie Brazão wird der Korruption, der Morde und der Beteiligung an der Ausbreitung der Milizen beschuldigt.