Nachricht | Migration / Flucht - Südosteuropa Der Schiffbruch von Pylos ist kein Einzelfall

Die griechische Küstenwache und Frontex sind für den Tod von 600 Menschen verantwortlich

Information

Vor einem Jahr, am 14. Juni 2023, sank das Fischerboot «Adriana» auf dem Weg von Libyen in Richtung Italien vor der griechischen Küstenstadt Pylos im Mittelmeer. Schätzungen zufolge ertranken über 600 Geflüchtete, die meisten von ihnen aus Pakistan. Überlebende und Menschenrechtsaktivist*innen machen die Griechische Küstenwache (Hellenic Cost Guard – HCG) und die Migrationspolitik der Europäischen Union für den Tod der Geflüchtete verantwortlich.

Dimitra Andritsou wird bei der Veranstaltung zum Jahrestag der Katastrophe von Pylos am Freitag 14. Juni in der Rosa-Luxemburg-Stiftung sprechen. Es werden zahlreiche Überlebende anwesend sein. Die Recherche der Forensis Research Group befindet sich hier.

Anlässlich des Jahrestages sprach Boris Kanzleiter, Leiter des Büros der Rosa-Luxemburg-Stiftung in Athen, mit Dimitra Andritsou von der Forensis Research Group, die gemeinsam mit dem unabhängigen griechischen Rechercheportal Solomon, der ARD und dem britischen Guardian eine umfangreiche Untersuchung des Falles durchgeführt hat, die mit dem Daphne Caruana Galizia Preis des Europäischen Parlaments ausgezeichnet wurde.

Die Griechische Küstenwache behauptet, das Schiff Adriana sei aufgrund von «Unruhen» auf dem Schiff gekentert. Ihre Recherchen zeigen dagegen die Verantwortung der Griechischen Küstenwache. Was sind Ihre Erkenntnisse über den Untergang der Adriana? Was geschah wirklich am 13. und 14. Juni 2023 im Ionischen Meer vor der griechischen Küste bei Pylos?

Am 14. Juni 2023 sank das Fischerboot Adriana innerhalb der griechischen Such- und Rettungszone (SAR) im Mittelmeer. Die Adriana war mit Hunderten von Migrant*innen an Bord von Libyen nach Italien unterwegs. Es handelt sich um das tödlichste Schiffsunglück im Mittelmeer in der jüngeren Geschichte. Im Gegensatz zu den offiziellen Darstellungen der Küstenwache zeigt unsere digitale Rekonstruktion des Vorfalls, dass über 600 Menschen infolge der Maßnahmen der Griechischen Küstenwache ertrunken sind.

Insbesondere am 13. Juni, als das Boot bereits den fünften Tag unterwegs war, sendete es mehrere Notsignale an Aktivisten- und Überwachungsgruppen wie Alarm Phone, die darauf hinwiesen, dass sie dringend Hilfe benötigten. Alle zuständigen Behörden, darunter das Hellenic Joint Rescue Coordination Centre (JRCC), die Griechische Küstenwache (HGC) und die European Border and Coast Guard Agency (Frontex), waren sich des Zustands des seeuntüchtigen und überladenen Bootes schon früh an diesem Tag bewusst. Sie hatten es durch verschiedene Luftüberwachungssysteme erfasst.

Unsere Analyse deutet darauf hin, dass die Küstenwache nach der Tragödie versuchte, die Geschichte rund um das Ereignis zu verzerren, indem sie ungenaue und widersprüchliche Informationen lieferte.

Das Patrouillenschiff der Küstenwache «ΠΠΛΣ 920» erreichte in der Nacht den Standort der Adriana. Alle zuvor in der Nähe der Adriana eingesetzten Handelsschiffe wurden aus ihrer Verpflichtung zur Hilfeleistung entlassen, was die Besatzung des Patrouillenschiffs der Küstenwache und die Menschen an Bord der Adriana zu den einzigen Zeugen des bevorstehenden Ereignisses machte. Nach Angaben der Überlebenden –  und in Übereinstimmung mit unserer Kartierungsanalyse –  wies die Küstenwache das Boot bei seiner Ankunft an, ihnen nach Westen in Richtung italienische SAR-Gewässer zu folgen, wo sie an die italienische Küstenwache übergeben werden sollten. Dann fiel aber der Motor der Adriana aus. Die Überlebenden berichten, dass sich nach dem Motorausfall das Schiff der Küstenwache der Adriana näherte und ein maskierter Mann ein Seil an der Reling befestigte. Die Küstenwache versuchte nun zweimal die Adriana abzuschleppen. Beim ersten Mal riss das Seil. Beim zweiten Mal zog die Küstenwache so schnell, dass die Adriana kenterte. Die Situation wurde weiter verschlechtert, weil das Patrouillenschiff der Küstenwache durch seine Manöver Wellen erzeugte, die es den Schiffsbrüchigen auf offener See erschwerte zu überleben. Die Überlebenden waren 20 bis 30 Minuten lang auf sich allein gestellt bis eine Rettungsaktion begann. Von den etwa 750 Menschen an Bord der Adriana überlebten nur 104. Insgesamt 82 Leichen konnten geborgen, die übrigen fast 600 Toten werden bis heute vermisst.

Unsere Analyse deutet auch darauf hin, dass die Küstenwache nach der Tragödie versuchte, die Geschichte rund um das Ereignis zu verzerren, indem sie ungenaue und widersprüchliche Informationen über den Standort und die Geschwindigkeit des Schiffs lieferte, den Einsatz nicht per Video aufzeichnete, obwohl sie zwei Jahre zuvor von Frontex ausdrücklich angewiesen worden war, dies bei allen Einsätzen zu tun, und die Mobiltelefone der Überlebenden konfiszierte,  die in wasserdichten Gehäusen geschützt waren und die eine visuelle Dokumentation des Vorfalls enthielten. All dies verdeutlicht die große Verantwortung, die die Küstenwache für das Schiffsunglück trägt, sowie die koordinierten Versuche, den Vorfall zu vertuschen.

Seit 2020 wird auch auf dem Meer eine neue Methode der gewaltsamen und illegalen Abschreckung praktiziert: Die Menschen werden auf Rettungsinseln ohne Motor verladen und zurück zur türkischen Küste getrieben.

Welche Rolle und Verantwortung für den Tod der über 600 Geflüchtete sehen Sie bei der EU Grenzschutzagentur Frontex?

In den letzten zwei Jahrzehnten haben zahlreiche Berichte von internationalen Menschenrechtsorganisationen und investigativen Journalisten die Mitschuld von Frontex an systematischen Menschenrechtsverletzungen, Verstößen und Vertuschungen an den Außen- und Binnengrenzen der EU dokumentiert. Auch im Fall des Schiffsunglücks vor Pylos werden die Unzulänglichkeiten von Frontex deutlich.

Anfang 2024 veröffentlichte die Europäische Ombudsperson Emily O'Reilly, die vom Europäischen Parlament gewählt wurde, einen Bericht, in dem sie die Rolle und die Verantwortung von Frontex bei dem tödlichen Schiffsunglück untersuchte und "offensichtliche Spannungen" zwischen den Grundrechtsverpflichtungen von Frontex und der Unterstützung der Mitgliedstaaten bei der Grenzkontrolle –  in diesem Fall Griechenland –  aufzeigte. So war Frontex die Seeuntüchtigkeit der Adriana und die offensichtliche Notlage der Passagiere von dem Zeitpunkt an bekannt, als ihr eigenes Flugzeug das Boot in den griechischen SAR-Gewässern entdeckte. Und sie wussten, dass Griechenland seit Jahren seine Pflichten bei der Seenotrettung nicht einhält. Dennoch versäumte es Frontex rechtzeitig einzugreifen, um den in Seenot geratenen Menschen zu helfen – wozu sie aber verpflichtet sind. Die Tatsache, dass Frontex den griechischen Behörden dreimal anbot, sie bei ihrer Operation zu unterstützen, indem sie Luftfahrzeuge an den Ort des Geschehens schickte, und keine Antwort erhielt, hätte eigentlich ein entscheidender Faktor sein müssen, um mit sofortiger Dringlichkeit weitere Maßnahmen zu ergreifen, um zu verhindern, was zu einem der verheerendsten Schiffsunglücke in der jüngeren Geschichte der Region werden würde.

Bereits 2021 stellte Amnesty International in einem Bericht fest, dass «Pushbacks» Teil der griechischen de-facto-Grenzpolitik sind. Können Sie erklären, was Pushbacks sind und wie sie heute von den griechischen Behörden eingesetzt werden?

Forensic Architecture und Forensis untersuchen seit mehr als fünf Jahren die systematischen und weit verbreiteten Push-Backs an der griechisch-türkischen Grenze, genauer gesagt über den Fluss Evros/Meriç und in der Ägäis. Migrant*innen und Geflüchtete, die die Grenze entweder auf dem Seeweg oder über den Fluss überqueren, werden in griechischen Hoheitsgewässern abgefangen oder nach ihrer Ankunft auf griechischem Hoheitsgebiet festgenommen. Sie werden geschlagen, ihres Besitzes beraubt und dann gewaltsam auf Schlauchboote verladen und in die Türkei zurückgeschickt – ohne dass ihnen jemals die Möglichkeit gegeben wird, internationalen Schutz zu beantragen, was gegen die Genfer Konvention von 1951 und andere völkerrechtliche Bestimmungen verstößt.

Insbesondere seit März 2020 wird auch auf dem Meer eine neue Methode der gewaltsamen und illegalen Abschreckung praktiziert: Die Menschen werden auf Rettungsinseln ohne Motor verladen und zurück zur türkischen Küste getrieben. Die «Drift-backs», wie die Praxis des Aussetzens von Asylsuchenden auf See von einigen genannt wird, sind in der gesamten Ägäis zur Routine geworden und führen häufig zu Verletzungen und Ertrinken – und werden durch eine systematische Kultur der Straflosigkeit und fehlenden Rechenschaftspflicht begünstigt. Heute nehmen Ausmaß und Schwere dieser Praktiken weiter zu, wobei von der Küste des griechischen Festlands bis hin nach Kreta von «Drift-Backs» berichtet wird. In unserer Untersuchung haben wir über 2.000 einzelne Fälle solcher «Drift-Backs» dokumentiert, die sich über einen Zeitraum von drei Jahren (2020-2023) erstreckten.

Der verheerende Schiffbruch von Pylos ist kein Einzelfall. Er ist das Ergebnis eines jahrelangen tödlichen und unmenschlichen ‚Grenzmanagements‘ und der Konstituierung einer Grenze, die von griechischen und EU-Behörden durchgesetzt wird.

Wie wird die mutmaßliche Straftat durch die griechische Küstenwache juristisch aufgearbeitet? Welche Ermittlungen hat die Staatsanwaltschaft eingeleitet? Welche Anklagen sind erhoben worden?

Eine der ersten juristischen Maßnahmen, die die griechischen Behörden nach der Tragödie ergriffen, bestand darin, die Überlebenden zu Sündenböcken zu machen und zu kriminalisieren: Nur wenige Tage nach dem Schiffbruch wurden neun ägyptische Überlebende – die «Pylos 9», wie sie genannt wurden – verhaftet, in Untersuchungshaft genommen und wegen Mitgliedschaft in einer kriminellen Vereinigung, Schmuggel mit Todesfolge, vorsätzlicher Herbeiführung eines Schiffbruchs mit tödlichem Ausgang und unerlaubter Einreise in griechisches Hoheitsgebiet angezeigt. Diese Art der Kriminalisierung von Migrant*innen ist eine gängige Taktik, die von den griechischen Behörden seit Jahren angewandt wird - und zwar in einem solchen Ausmaß, dass sie inzwischen eine «Kriminalisierungsindustrie» darstellt, wie das Legal Centre Lesvos es nennt -, um sich selbst von der Verantwortung freizusprechen und ihre eigenen systematischen Menschenrechtsverletzungen zu verdecken.

Erst vor wenigen Wochen, am 21. Mai 2024, sprach das Gericht in Kalamata die neun Angeklagten vom Vorwurf des Schmuggels und der illegalen Einreise frei und akzeptierte den Einwand der Verteidiger, dass es nicht zuständig sei, über die Vorwürfe der Verursachung eines Schiffbruchs und der Mitgliedschaft in einer kriminellen Vereinigung zu urteilen, da der Vorfall in internationalen Gewässern stattgefunden habe. In einem rachsüchtigen Versuch, ihr Leiden zu verlängern, wurden die Pylos 9 jedoch in Verwaltungshaft genommen; erst nach wiederholten Einsprüchen ihrer Rechtsvertreter wurden vier von ihnen freigelassen, während die übrigen fünf bis heute in Haft bleiben.

Seitens der Zivilgesellschaft haben eine Reihe unabhängiger Organisationen sowie politische und administrative Institutionen wie der Menschenrechtskommissar des Europarats, das Committee on Civil Liberties, Justice and Home Affairs (LIBE) des Europäischen Parlaments sowie die griechische und der europäische Ombudsperson eine transparente und gründliche Untersuchung des Schiffsunglücks gefordert. Im September 2023 reichten 53 Überlebende eine Strafanzeige gegen die verantwortlichen Beamten der griechischen Behörden vor dem Marinegericht von Piräus ein und forderten eine wirksame Untersuchung der Umstände des Schiffbruchs. Das Marinegericht, das für die HCG zuständig ist, hatte fast unmittelbar nach dem Schiffbruch, im Juni 2023, eine Voruntersuchung eingeleitet. Nach einem Jahr ist aber noch fast nichts geschehen, nicht einmal die Telefone der Verantwortlichen wurden bisher ausgewertet.

Bis heute liegen vor Pylos etwa 600 Leichen in der gesunkenen Adriana auf dem Grund des Mittelmeers. Welche Forderungen haben die Angehörigen der Opfer und Menschenrechtsorganisationen?

Die Freunde und Angehörigen der Opfer, die Überlebenden und ihre Unterstützer*innen kämpfen bis heute für eine vollständige Aufklärung der Umstände des Schiffsunglücks, für Gerechtigkeit sowie für politische Konsequenzen und juristische Verantwortungsübernahme. Wie einer der von uns befragten Überlebenden sagte: «Ich habe meine Freunde verloren. Meine Cousins und Cousinen. Meinen Schwager. Ich muss ihnen Gerechtigkeit widerfahren lassen».

Dieses Streben nach Gerechtigkeit beschränkt sich nicht auf einen engen, juristischen Begriff – die Suche nach einer singulären strafrechtlichen Verantwortung für einen singulären Vorfall –, sondern erwächst aus dem Verständnis, dass systemische Ungerechtigkeiten eine systemische Wiedergutmachung und Veränderung erfordern. Der verheerende Schiffbruch von Pylos ist kein Einzelfall. Er ist das Ergebnis eines jahrelangen tödlichen und unmenschlichen «Grenzmanagements» und der Konstituierung einer Grenze, die von griechischen und EU-Behörden durchgesetzt wird und durch verschiedene Manifestationen von Gewaltausübung und einer systematischen Kultur der Straflosigkeit aufrechterhalten wird. Ein erweiterter Begriff von Gerechtigkeit bedeutet, alles in unserer Macht Stehende zu tun, um zu verhindern, dass sich eine solche Tragödie wiederholt – in Griechenland oder anderswo. Dieses bösartige Grenzregime, das bei den Geflüchteten dauernden Schmerz und Leiden erzeugt, muss sofort enden.