Nachricht | Geschichte Vor 100 Jahren wurde das Institut für Sozialforschung eröffnet

Ein kurzer Streifzug durch seine Geschichte

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Das heutige Gebäude des Institut für Sozialforschung in Frankfurt am Main, Senckenberganlage 26; erbaut 1951 durch die Architekten Hermann Mäckler und Alois Giefer. Foto: Frank C. Müller, Creative Commons Attribution-Share Alike 4.0 International

Die Geschichte der Kritischen Theorie und der Frankfurter Schule[1] ist eng mit dem Institut für Sozialforschung(IfS) in Frankfurter/Main als dem Ort kritischen Denkens verbunden. 1922 wurde der Förderverein gegründet, im Jahr darauf erfolgte die formale Gründung als unabhängige Einrichtung, kurz zuvor wurde die Erste Marxistische Arbeitswoche[2] (EMA) abgehalten, die mitunter als das erste Theorieseminar der Kritischen Theorie angesehen wird. Am 22. Juni 1924 fand die feierliche Eröffnung des eigens entworfenen Neubaus statt. Das IfS erweist sich historisch und gegenwärtig als viererlei: es war und ist ein «konkretes Gebäude», es war und ist «Treffpunkt für Wissenschaftler» (und viele andere), es war und ist «eine Forschungsreinrichtung» sowie «eine sich […] permanent verändernde Idee»[3].

Die Entstehung des IfS ist nur vor dem Hintergrund des Ersten Weltkriegs und dem Untergang der Zweiten Internationalenzu verstehen. Die Frage stand im Raum, wie es mit der Arbeiterbewegung, den Arbeiterparteien und dem marxistischen Denken weitergehen sollte, wie die revolutionären Niederlagen im Nachgang des Untergangs der Weltkriegsordnung zu verarbeiten waren, wie die kapitalistische Ordnung zu überwinden sei. Hierfür sollte systematisch marxistische Forschung betrieben werden. Als Ort ist das IfS Teil dessen, was später Westlicher Marxismus genannt werden wird, Gründung und Eröffnung fallen in die Zeit der Erneuerung des Marxistischen Denkens, insbesondere durch Karl Korsch und Georg Lukács, die beide auch an der EMA teilnahmen.

Sebastian Klauke ist Politikwissenschaftler und Soziologe. Er lebt in Kiel.

Federführend und maßgeblich für die Entstehung des IfS war das Wirken von Felix Weil (1898-1975)[4]. Als Sohn und Erbe des Getreideunternehmers Hermann Weil, besorgte er geschickt das nötige Kapital, um die Einrichtung des marxistischen Forschungsinstituts voranzubringen, er führte auch die nötigen Verhandlungen mit der Stadt und der Universität Frankfurt. Gemeinsam mit dem Ferdinand Tönnies-Schüler Kurt Albert Gerlachlegte er die Denkschrift als Gründungsdokument vor. Gerlach war er auch der vorgesehene Gründungsdirektor, verstarb aber infolge seiner Diabeteserkrankung 1922. Als Nachfolger war u.a. auch der parteiunabhängige Historiker Gustav Mayer (1871-1948) im Gespräch, der aber im Briefwechsel mit Weil zu forsch und unabhängig auftrat. Schließlich erhielt der Austromarxist Carl Grünberg(1861-1940) den Zuschlag. Unter seiner Ägide wurden vor allem umfangreiche Materialiensammlungen zur Arbeiterbewegung und dem Marxismus angelegt, die entstehende umfangreiche Bibliothek wurde zum Kern des IfS. Das auch als Café Marx bekannte Institut entwickelte sich zu einem Ort der Forschung und des Austauschs. Mit dem Moskauer Marx-Engels-Institut wurden Grundlagen für die erste Marx Engels Gesamtausgabe geschaffen. Ein Schlaganfall setzte dem Wirken von Grünberg 1929 ein Ende.

Ein Bruch oder zumindest eine große Umorientierung war die nachfolgende Übernahme (nach einer kurzen Übergangszeit mit Friedrich Pollockan der Spitze, der seit der Gründungszeit am IfS entscheidend beteiligt war) der Institutsleitung durch Max Horkheimer. Die interdisziplinäre Forschung mit der Philosophie im Zentrum stand jetzt im Fokus, zentraler Anknüpfungspunkt war Karl Marx‘ Kritik der politischen Ökonomie. Von Beginn an bestanden enge Verknüpfungen zur Psychoanalyse, die die ökonomiekritische Perspektive um kulturkritische Aspekte fruchtbar ergänzte.[5]

Zum intellektuellen Zentrum wurde die 1932 gegründete Zeitschrift für Sozialforschung (Digitalisat). Einen tiefen Einschnitt bedeutete die frühzeitige Erkenntnis, dass der Nationalsozialismus sich zu einer existenziellen Bedrohung entwickeln würde und die Arbeiterbewegung dem nichts entgegensetzen würde. Diese Einschätzung hatte man durch umfangreiche Studien (vor allem Arbeiter und Angestellte am Vorabend des Dritten Reiches) gewonnen, die es der Institutsleitung erlaubten, vor dem Januar 1933 alle notwendigen Schritte einzuleiten, um das Institutsvermögen vor dem Zugriff der Nationalsozialisten zu schützen, außerdem wurde verschiedene Zweigstellen eingerichtet, so auch in Genf. Im Juli 1933 wurde das Gebäude in Frankfurt/Main beschlagnahmt, im darauffolgenden Jahr erfolgte die Übersiedlung des IfS nach New York City; eine gänzlich neue Phase begann. Adorno, den man heute dominierend mit dem IfS identifiziert, stieß erst 1938 aus dem englischen Exil kommend dazu. Das Vermögen floss vor allem in die finanzielle Unterstützung zahlloser Wissenschaftler:Innen, die Stipendien oder Schreibhonorare erhielten. Dies und Verluste durch Spekulationen ließen die Gelder immer weiter abschmelzen, der Kreis der Mitarbeiter:innen wurde stetig verkleinert, am Ende stand nur das Trio Horkheimer, Adorno, Pollock, das mittlerweile nach Kalifornien umgezogen war.

1949 erfolgte, nach einigem Zögern, die Rückkehr nach Deutschland, ein Jahr später wurde das neue Gebäude, das alte war durch einen Bombentreffer zur Ruine geworden, des IfS eröffnet. Pollock, Horkheimer und Adorno setzten ihre akademische Karriere fort. Letzterer stieg zu einem Medienintellektuellen auf und entfaltete ein breites Schaffen als Autor. Das IfS beteiligte sich explizit an der von reformorientiertem Teil der amerikanischen Regierungsinstitutionen angestoßenen Reeducation. Die Wissenschaftskritik war ebenfalls ein Betätigungsfeld, insbesondere der Positivismusstreit der 1960er Jahre war hier von bleibender Relevanz und prägte nachfolgende Generationen. In finanzieller Hinsicht blieben die Mittel des IfS immer knapp. In Sachen Marxismus hielt man sich bedeckt, die Veröffentlichung einschlägiger früherer Schriften wurde lange sabotiert, Raubdrucke kursierten. Das Verhältnis zur aufkommenden Studentenbewegung war äußerst spannungsreich und vielschichtig, die unbedingte Radikalität der Jüngeren wurde abgelehnt, die Ausgestaltung politischen Engagements war umstritten. So war zum Beispiel Jürgen Habermas gezwungen, seine Habilitation bei Wolfgang Abendroth in Marburg zu einem Ende zu bringen. Der in den Vereinigten Staaten zur Ikone gewordene Herbert Marcuse kritisierte insbesondere Adorno heftig, eine persönliche Aussprache konnte nicht mehr stattfinden. Das Problem des Zusammenhangs und der Beziehung von Theorie und Praxis und des Nachdenkens hierüber rückte in den Fokus und ist bis heute nicht verschwunden.

Das IfS unter der Leitung von Horkheimer und Adorno ist seit jeher auch von links kritisiert worden, besonders wirkmächtig und gebündelt in der von Georg Lukács geprägten Formel des Grand Hotel Abgrunds. Von Teilen der Linken wird es der Zerfallsgeschichte des linken Denkens im 20. Jahrhundert zugeordnet, verbunden mit dem Vorwurf der Abwendung von der Arbeiterbewegung.

Nach dem unerwarteten Tod Adornos 1969 war das IfS nicht mehr länger das Zentrum der Kritischen Theorie, die zweite Generation schickte sich an, auch in der «Provinz» Standorte kritischen Denkens zu eröffnen, etwa in Hannover und Lüneburg. Die Umrisse dessen, was man Frankfurter Schule nennt, gewannen an Kontur. Am IfS wurde in der Folge insbesondere die empirische Sozialforschung weiterbetrieben. Prägende Direktoren waren Ludwig von Friedeburg, dessen schlussendliche Nachfolge 1989 Helmut Dubiel übernahm und Gerhard Brandt. Die Industrie-, Arbeits- und Bildungssoziologie standen im Zentrum der täglichen Wissensproduktion. Ab 2001 stand Axel Honnethan der Spitze, unter dessen Ägide die Sozialphilosophie in den Fokus rückte und dessen Label der Anerkennung als prägender Ansatz prominent wurde. Seit 2002 finden regelmäßig die Adorno-Vorlesungen statt, die Grundlage für regelmäßige Buchveröffentlichungen sind. Seit 2004 erscheint halbjährlich die Zeitschrift WestEnd. Neue Zeitschrift für Sozialforschung, mit den Frankfurter Beiträgen zur Soziologie und Sozialphilosophie ist eine eigene Buchreihe etabliert, in der vor allem Qualifikationsarbeiten erscheinen. Das IfS bot und bietet Fellows und Doktorand:Innen einen Ort des kritischen Arbeitens. Die Kritische Theorie wurde internationalisiert, eine dritte und vierte Generation sind auszumachen, die kritische Theorie mit kleinem k ist kaum noch zu überblicken. Nach der kommissarischen Leitung von 2019 bis 2021 durch Ferdinand Sutterlüty übernahm Stephan Lessenich. Er erweiterte das Themenspektrum explizit um queerfeministische und posthumanistische Ansätze sowie antirassistische und dekoloniale Perspektiven. Im Verlag Bertz + Fischererscheint seit 2022 die Buchreihe IfS Aus der Reihe.

Wie verbindlich hierbei der Kern der Kritische Theorie rund um die Kritik der politischen Ökonomie im Anschluss an Karl Marx ist, bleibt im Ungefähren. Wohin sich das Institut entwickelt, welche Bedeutung es konkret in den krisengeschüttelten gegenwärtigen kapitalistischen Verhältnissen und deren Analyse einnimmt, ist noch nicht auszumachen. Nach wie vor ist das IfS auf Drittmittel angewiesen. Nach wie vor ist ein Sehnsuchtsort für gänzlich andere, bessere Verhältnisse.

Das IfS verfügt über ein eigenes Archiv, mit mehr als 100 laufenden Aktenmetern und dokumentiert damit seine Entwicklung seit 1929. Daneben existieren das Archivzentrum an der Universität Frankfurt am Main, hier liegen u.a. die Nachlässe Horkheimers und Marcuses (Linkzu den Beständen), sowie der Vorlass Habermas‘, und das Frankfurter Adorno-Archiv.

Das 1984 durch Jan Philipp Reemtsma gegründete Hamburger Institut für Sozialforschung orientiert sich in seiner Konzeption deutlich am IfS der 1920er Jahre, als einem Ort, an dem man finanziell unabhängig langwieriger Forschungsarbeit nachgehen kann.

Es ist Stephan Lessenichund seinem Team alles Gute für den weiteren Weg zu wünschen.


[1] Die im Übrigen nicht deckungsgleich sind und daher auch nicht synonym zu verwenden sind.

[2] Sebastian Klauke: 100 Jahre Erste Marxistische Arbeitswoche. Eine Erinnerung – und ein Appell für heute? 18. Mai 2023, unter www.rosalux.de/news/id/50392/

[3] Philipp Lenhard: Café Marx. Das Institut für Sozialforschung von den Anfängen bis zur Frankfurter Schule, München 2024, S. 8.

[4] Zur Person Weil liegt folgende Biografie vor: Hans-Peter Gruber: «Aus der Art geschlagen». Eine politische Biografie von Felix Weil (1898-1975), Frankfurt/New York 2022, besprochen am 24.10.2022 unter www.rosalux.de/news/id/47789/

[5] Zu diesen Zusammenhängen zuletzt instruktiv: Peter Schulz: Das widersprüchliche Selbst. Eine kritische Theorie kapitalistischer Subjektivation, Berlin/Wien 2023.

Zum Weiterlesen

  • Alex Demirovic: Der nonkonformistische Intellektuelle. Die Entwicklung der Kritischen Theorie zur Frankfurter Schule. Frankfurt am Main 1999 (Neuauflage Wien, Berlin 2023).
  • Martin Jay: Dialektische Phantasie. Die Geschichte der Frankfurter Schule und des Instituts für Sozialforschung 1923–1950. Fischer, Frankfurt am Main 1976.
  • Philipp Lenhard: Café Marx. Das Institut für Sozialforschung von den Anfängen bis zur Frankfurter Schule, München 2024.
  • Jörg Später: Adornos Erben. Eine Geschichte aus der Bundesrepublik, Berlin 2024.
  • Rolf Wiggershaus: Die Frankfurter Schule. Geschichte, Theoretische Entwicklung, Politische Bedeutung. München u. a. 1986 (zuletzt München 2001).

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