Nachricht | Parteien / Wahlanalysen - UK / Irland Labours glanzloser Erdrutschsieg

Keir Starmer ist neuer britischer Premierminister, aber sein Sieg war alles andere als überwältigend

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Grace Blakeley,

Der neue Premierminister des Vereinigten Königreichs Keir Starmer spricht mit Angela Rayner in der Downing Street 10 in London, 5. Juli 2024.
Der neue Premierminister des Vereinigten Königreichs Keir Starmer spricht mit Angela Rayner in der Downing Street 10 in London, 5. Juli 2024. Foto: IMAGO / Xinhua

Die Wahl von Keir Starmer, Vorsitzender der britischen Arbeiterpartei, zum Premierminister Großbritanniens könnte ein Hoffnungsschimmer für die progressiven Kräfte in Europa sein. Schließlich scheint das Vereinigte Königreich angesichts des Aufschwungs der extremen Rechten in Deutschland und der möglichen Rückkehr von Donald Trump ins Weiße Haus eines der wenigen Länder zu sein, das sich dem Aufstieg des Faschismus im globalen Norden entgegenstellt.

Doch ein Blick unter die Oberfläche zeigt ein weniger rosiges Bild. Tatsächlich hat das britische Mehrheitswahlsystem das getan, was es am besten kann: Spaltung in Einigkeit zu verwandeln.

Grace Blakeley ist Mitarbeiterin des Tribune Magazine und Autorin von Vulture Capitalism: Corporate Crimes, Backdoor Bailouts and the Death of Freedom (Atria, 2024).

Jede Wahl im Vereinigten Königreich besteht aus 650 Miniatur-Wahlen innerhalb der Wahlkreise im ganzen Land. Jede der großen Parteien kandidiert in jedem Wahlkreis, und der Gewinner jedes Rennens erhält den Sitz im Parlament. Ergebnis ist ein System, das die beiden großen politischen Parteien und diejenigen mit starker regionaler Unterstützung begünstigt.

In den letzten Jahren war die Politik in Großbritannien stark polarisiert zwischen Labour und den konservativen Tories. Nach Verabschiedung des sozialdemokratischen Wahlprogramms im Jahr 2017 konnte Labour Stimmen aus der gesamten Linken hinter sich versammeln und stand kurz vor der Machtübernahme. Währenddessen konnten die Konservativen, die sich bei den erneuten Unterhauswahlen im Jahr 2019 als Verteidiger des Brexit inszenierten, die politische Rechte vereinen.

Fünf Jahre später zeigt sich die britische Politik deutlich gespaltener. Das Ergebnis der Wahl vom 4. Juli 2024 ist damit eines der unverhältnismäßigsten in der britischen Geschichte.

Ein Rezept für die Wiederbelebung der extremen Rechten?

Die Labour-Partei gewann 412 Sitze, während die Konservativen 121 und die Liberaldemokraten 71 Sitze errangen. Insgesamt konnte sich Labour eine Mehrheit von 170 Sitzen sichern, erhielt aber nur 33,8 Prozent der Wählerstimmen. Das entspricht einem Zuwachs von gerade einmal 1,6 Prozentpunkten gegenüber dem Ergebnis von 2019, das viele politische Kommentatoren damals als eines der katastrophalsten Ergebnisse der Geschichte bezeichneten.

Dass Labour sein Ergebnis überhaupt steigern konnte, ist nahezu ausschließlich auf den 17-prozentigen Zuwachs in Schottland zurückzuführen, wo die regierende Scottish National Party (SNP) nach Skandalen und Missmanagement eingebrochen ist. In England erhielt die Partei nahezu gleich viele Stimmen wie 2019.

Mit nur einem Drittel der Stimmen hat Labour also eine Zweidrittelmehrheit im britischen Unterhaus erobert. Gleichzeitig lag die Wahlbeteiligung bei nur 59,9 Prozent – der niedrigste Wert seit dem Zweiten Weltkrieg.

Die Wahlbeteiligung misst den Anteil der registrierten Wähler, die in der Wahlkabine erscheinen – Millionen weitere sind einfach nicht zur Wahl registriert. Mit anderen Worten: Im Vereinigten Königreich leben etwa 50 Millionen Erwachsene; nur 9,6 Millionen von ihnen haben Labour gewählt.

Das Manifest der Labour-Partei war zaghaft und fade. Lange bevor die Labour-Partei an die Regierung kam, beugte sich Starmer dem Druck großer Wirtschaftsgruppen wie der Confederation of Business Industry und verwässerte die Zusagen, die Rechte von Arbeit*innen zu stärken oder in Klimaschutz zu investieren.

Diejenigen, die Labour gewählt haben, taten dies nicht aus besonderer Begeisterung für die Persönlichkeit oder die Politik von Keir Starmer. Fast 50 Prozent der Menschen halten Starmer für unglaubwürdig, und 73 Prozent glauben, dass er nur gewählt wurde, um die Konservativen abzulösen. Starmer tritt sein Amt also ohne ein starkes Mandat des britischen Volkes an. Er führt ein gespaltenes Land an, das von der Politik desillusioniert und auf die Eliten wütend ist.

Nirgendwo zeigt sich diese Wut deutlicher als im Aufstieg der Partei Reform UK des Rechtsaußen Nigel Farage. Reform UK erreichte 14 Prozent der Stimmen und fünf Sitze – darunter einen für Farage selbst. Das Vereinigte Königreich ist eindeutig nicht immun gegen den Aufstieg der extremen Rechten.

Die rechtsextremen Parteien in Deutschland und Frankreich wussten das Versagen von Olaf Scholz und Emmanuel Macron auszunutzen, um sich die Unterstützung großer Teile der Bevölkerung zu sichern (auch wenn die Bedrohung durch die Rechtsextremen in Frankreich letztlich durch eine vereinigte Linke neutralisiert wurde). Die zentristische, technokratische Politik, die diese Männer verkörpern, ist ein Gräuel für die Millionen von Menschen, die wütend und von der Politik enttäuscht und verbittert sind.

Es sollte kein Zweifel daran bestehen, dass Starmer auf genau dieselbe Weise regieren wird. Das Manifest der Labour-Partei war zaghaft und fade. Lange bevor die Labour-Partei an die Regierung kam, beugte sich Starmer dem Druck großer Wirtschaftsgruppen wie der Confederation of Business Industry und verwässerte die Zusagen, die Rechte von Arbeit*innen zu stärken oder in Klimaschutz zu investieren. Jetzt, da seine Partei im Amt ist, wird dieser Druck weiter zunehmen.

Die Labour-Partei hat dem Land einen Wandel («Change») versprochen, doch wahrscheinlich wird sie den Status quo konservieren. Derjenige, der am meisten von der Zaghaftigkeit Labours profitieren wird, ist Nigel Farage. Politiker wie Farage verstehen es hervorragend, den Unmut der Menschen über die neoliberale Politik in eine Politik umzuwandeln, die absolut keine Bedrohung für den Status quo darstellt.

Wenn man Wähler*innen von Reform UK fragt, warum sie Migrant*innen bestrafen oder ausweisen wollen, verweisen sie meist auf Probleme wie teure Wohnungen oder schlecht funktionierende öffentliche Dienste. Doch Farages neoliberales Manifest vermischt den Kulturkampf mit der üblichen neoliberalen Wirtschaftspolitik - genau die gleiche Politik, die zur Wohnungskrise und zur Krise des nationalen Gesundheitssystems NHS geführt hat.

Hoffnung von unten aufbauen

Es ist die Aufgabe der Linken, den Menschen einen anderen Weg zu zeigen. Aber diese Botschaft können nicht Politiker*innen aussenden, die bequem in Westminster sitzen. Sie muss aus der Gesellschaft kommen.

Eine der aufregendsten Geschichten dieser Wahl war die breite Unterstützung für unabhängige pro-palästinensische Kandidat*innen. Landesweit haben fünf dieser Kandidat*innen – darunter der ehemalige Labour-Chef Jeremy Corbyn – ihre Wahlkreise gewonnen. Zum Vergleich: Seit 1950 und bis zu dieser Wahl haben das nur zwei unabhängige Kandidaten erreicht. Diese fünf haben ihre Wahl der Leidenschaft und des Engagements tausender Community Organizer*innen zu verdanken, die bei ihrer Arbeit vor Ort ohne den Zugang zu Daten, Geld oder Medienkontakten auskommen mussten.

Eine der wichtigsten Lehren dieser Wahl für die Linke ist, dass durch effektive Basisorganisierung Erstaunliches erreicht werden kann.

Ein weiterer Hoffnungsschimmer war der Aufstieg der Grünen, die ihren Erfolg ebenfalls äußerst effektiven lokalen Kampagnen verdanken, die tausende engagierte Freiwillige mobilisierten. Im bisherigen Unterhaus waren die Grünen mit nur einer Abgeordneten vertreten, der brillanten Caroline Lucas. Doch Lucas ist bei dieser Wahl nicht mehr angetreten und hat so den Weg für eine unglaubliche Gruppe von vier progressiven grünen Abgeordneten geebnet, die versprochen haben, die Labour-Partei in allen Bereichen – von Gaza über den Klimawandel bis hin zu Steuern und Ausgaben – zur Rechenschaft zu ziehen.

Eine der wichtigsten Lehren dieser Wahl für die Linke ist, dass durch effektive Basisorganisierung Erstaunliches erreicht werden kann. Diese Arbeit an der Basis muss der Schwerpunkt der Linken in den nächsten fünf Jahren sein. Wir müssen nationale Kampagnen, die Politiker*innen unter Druck setzen, mit der Organisierung vor Ort kombinieren, um eine Massenbasis für progressive Politik aufzubauen.

Das ist harte Arbeit und nicht besonders glamourös. Aber die Ergebnisse der Linken bei dieser Unterhauswahl zeigen, dass dies der einzige Weg nach vorne ist.