Nachricht | Parteien / Wahlanalysen - Andenregion Venezuela vor dem Machtwechsel?

Im Präsidentschaftswahlkampf geben sich Regierung und Opposition siegessicher. Wichtiger als der Wahltag selbst könnte der Umgang mit dem Ergebnis werden. Von Tobias Lambert

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Machado und González gemeinsam auf einer Wahlkampftribüne vor einer Menschenmenge.
Oppositionsführerin María Corina Machado wurde bei der anstehenden Präsidentschaftswahl in Venzuela die Kandidatur verweigert. Stattdessen tritt der eher unbekannte Edmundo González Urrutia als Herausforderer des amtierenden Präsideten Maduro an.  Foto: IMAGO / ZUMA Press Wire

Es liegt eine gewisse Anspannung über Venezuela. Bei der Präsidentschaftswahl am 28. Juli rechnet sich die rechte Opposition erstmals seit Jahren eine echte Chance aus. Anders als bei den teils gewaltsamen Umsturzversuchen der vergangenen Jahre strebt sie mittlerweile einen Machtwechsel an den Wahlurnen an. Auch wenn die Bedingungen alles andere als optimal sind, konnte sich das maßgebliche Oppositionsbündnis Plataforma Unitaria Democrática (PUD) auf eine gemeinsame Kandidatur einigen: Am 28. Juli wird der frühere Diplomat Edmundo González Urrutia den Amtsinhaber, Nicolás Maduro, herausfordern.

Tobias Lambert arbeitet als freier Autor, Redakteur und Übersetzer zu Lateinamerika. Seit Jahren beschäftigt er sich intensiv mit Venezuela.

Ursprünglich hatte das PUD-Bündnis González lediglich als Platzhalter eingeschrieben, um Zeit zu gewinnen, nachdem der Oppositionsführerin, María Corina Machado, die Kandidatur verweigert worden war. Auch der Ersatzkandidatin Corina Yoris, einer 80-jährigen Professorin ohne Erfahrung in politischen Ämtern, verwehrte der Nationale Wahlrat die Einschreibung.

Neben González treten acht weitere moderate Regierungsgegner (ausschließlich Männer) an, die das PUD-Bündnis überwiegend als «gekaufte» Opposition kritisieren. Linke Gegenkandidaturen wurden gar nicht erst zugelassen. Im August vergangenen Jahres hatte das Oberste Gericht in die Parteistruktur der Kommunistischen Partei Venezuelas (PCV) eingegriffen, die bereits 2020 mit Maduro gebrochen hatte. Wie zuvor bereits bei anderen Parteien übertrug das Gericht die Kontrolle über die PCV mitsamt Namen und Symbolen einer regierungsnahen Führung, der allerdings keine PCV-Mitglieder angehörten. Die staatlich gekaperte PCV unterstützt nun Maduro, der durch den Rückhalt verschiedener Kleinstparteien insgesamt dreizehnmal auf dem elektronischen Wahlzettel auftaucht. González ist als wichtigster Herausforderer lediglich dreimal abgebildet.

Die Regierung musste dessen bereits frühzeitig eingeschriebene Kandidatur letztlich akzeptieren. Selbst Verbündete wie der brasilianische Präsident Lula und sein kolumbianischer Amtskollege Gustavo Petro hatten sich öffentlich für kompetitive Wahlen in Venezuela ausgesprochen. Im Hintergrund liefen zudem Verhandlungen mit der Opposition und der US-Regierung. Diese ließ kurz vor der Einigung auf González die bestehenden Lockerungen ihrer Sanktionen mit der Begründung auslaufen, die venezolanische Regierung habe sich nicht hinreichend um eine transparente Wahl bemüht.

Das Abkommen von Barbados

Das im Oktober 2023 in Barbados zwischen Regierung und Opposition unterzeichnete Abkommen sah vor, dass die Präsidentschaftswahl in der zweiten Hälfte des Jahres 2024 stattfinden solle und die politischen Parteien ihre Kandidaturen nach eigenen Regeln bestimmen dürfen. Zudem solle es umfassende Wahlgarantien und eine glaubhafte Wahlbeobachtung geben.

Dieses Abkommen war auch deshalb zustande gekommen, weil die USA, die 2017 wirtschaftliche Sanktionen gegen Venezuela verhängten, im Hintergrund mitverhandelten. Seit Beginn des Ukraine-Krieges hat die US-Regierung wieder ein Interesse an venezolanischem Erdöl. Denn in der Folge entfiel Russland, das die zuvor eingestellten Exporte Venezuelas in die USA weitgehend ersetzt hatte, aufgrund der Sanktionen als Erdöllieferant. Unmittelbar nach der Unterzeichnung des Abkommens genehmigte die US-Regierung sowohl den Handel mit als auch Investitionen in Erdöl, Gas und Gold.

Aus Sicht der USA und der beteiligten Oppositionsparteien galt die Umsetzung jedoch als ungenügend. Nicht auflösen ließ sich vor allem das am heftigsten umstrittene Thema: das Antrittsverbot für die derzeit mit Abstand prominenteste Oppositionspolitikerin Machado. Derartige Antrittsverbote kann der Rechnungshof in Fällen von Korruption oder der Veruntreuung öffentlicher Gelder ohne Gerichtsbeschluss verhängen. Da es sich um administrative Entscheidungen handelt, die häufig intransparent erfolgen, sind sie sehr umstritten. In der Praxis setzt die Regierung dieses Instrument willkürlich ein. Der eigentliche Grund dürfte darin liegen, dass Machado für die Regierung als Präsidentschaftskandidatin schlicht inakzeptabel ist. Sie gehört seit über zwei Jahrzehnten zum rechten Rand der Opposition und hat sich in den vergangenen Jahren offen für Sanktionen und sogar für eine US-Militärintervention in Venezuela ausgesprochen. Mittlerweile tritt sie allerdings etwas moderater auf. Im Oktober 2023 gewann Machado eine von der Opposition selbst organisierte Vorwahl und galt seitdem als designierte Präsidentschaftskandidatin. Aber das Oberste Gericht bestätigte nach einer Prüfung die Antrittsverbote gegen sie und andere Oppositionspolitiker*innen.

Anfang März legte der regierungsnah besetzte Nationale Wahlrat nach Treffen mit verschiedenen politischen Parteien und Interessengruppen den 28. Juli – den Geburtstag des 2013 verstorbenen Ex-Präsidenten Hugo Chávez – als Wahltermin fest. Damit stand die Opposition endgültig vor der Frage, entweder aussichtslos an Machado festzuhalten oder sich auf eine weniger prominente Alternative zu einigen – mit dieser Strategie hatte sie bei den letzten Regionalwahlen im für den Chavismus symbolisch wichtigen Bundesstaat Barinas triumphiert.

Offensichtlich verfolgte die Regierung das Kalkül, dass sich die Mehrheitsopposition nicht auf eine gemeinsame Ersatzkandidatur für Machado einigen könne. Gleichzeitig erhöhte sie die Repression. So kommt es im direkten Umfeld von Machado, aber auch bei Menschenrechtsorganisationen, seit Monaten immer wieder zu Festnahmen wegen angeblicher Umsturzpläne. Das PUD-Bündnis ließ sich jedoch auch durch diese Repressalien nicht von seinem neuen Kurs, die Macht über Wahlen zu gewinnen, abbringen.

Maduro oder González?

Sowohl Regierung als auch Opposition geben sich siegessicher. Beide begannen bereits vor Monaten mit dem Wahlkampf, obwohl dieser offiziell erst Anfang Juli anfing.

Die Herausforderung für die rechte Opposition besteht darin, die hohen Umfragewerte für Machado auf den weitgehend unbekannten und wenig charismatischen González zu übertragen. Den Wahlkampf auf der Straße bestritt zunächst fast ausschließlich Machado. Schon vor Beginn der offiziellen Kampagne absolvierte sie dutzende Auftritte in verschiedenen Bundesstaaten. Die Regierung konterte in jedem einzelnen Fall mit einer eigenen Kundgebung in derselben Region. In mehreren Fällen verhängten verschiedene Behörden anschließend überdies Sanktionen gegen Hotels oder Restaurants, die Machado im Rahmen ihrer Wahlkampfauftritte genutzt hatte.

Inhaltlich ist der Wahlkampf dürftig. Die Regierung versucht diskursiv an Chávez anzuknüpfen, obwohl die konkrete Politik unter dem Eindruck der Sanktionen seit Jahren durch intransparente Wirtschaftsliberalisierung, Einschränkung liberal- wie basisdemokratischer Rechte und staatliche Ineffizienz geprägt ist. Machado und González streben hingegen an, die Wirtschaft nicht nur unter der Hand, sondern ganz offiziell zu liberalisieren, stehen also für einen neoliberalen Kurs. Zudem wollen sie die Institutionen neu besetzen und die von ihnen als politische Gefangene angesehenen Personen freilassen.

Die Unzufriedenheit mit der Regierung reicht längst bis in ursprünglich chavistische Kreise hinein. Und der – teilweise durch die Sanktionen aufgezwungene – wirtschaftspolitische Kurs der letzten Jahre hat die Angst vor einer rechten Machtübernahme in vielen Bereichen der Gesellschaft verblassen lassen. Zwar gibt es seit der Aufhebung der Preiskontrollen und der Tolerierung des US-Dollars als Zahlungsmittel fast alles zu kaufen; auch die Inflation ist wieder weitgehend unter Kontrolle. Die Löhne sind jedoch extrem niedrig. Über Kaufkraft verfügen nur wenige, der Konsum beschränkt sich auf kleine Nischen der Gesellschaft. Vor allem jüngere Menschen, die nicht unter Chávez politisiert wurden, verbinden mit den Begriffen Chavismus und Sozialismus vor allem eine ineffiziente Regierung und die Bereicherung ihres Umfelds.

Sollte González die Wahl gewinnen, dürfte Machado zweifellos eine wichtige politische Funktion – etwa als Beraterin oder nachträglich ernannte Vizepräsidentin – übernehmen. Dass ein politischer Wandel derzeit nur mit Machado als Oppositionsführerin machbar erscheint, mit der Venezuela außenpolitisch wohl die Nähe des rechtslibertären argentinischen Präsidenten, Javier Milei, und (bei einem möglichen Wahlsieg in den USA) Donald Trumps suchen würde, erscheint in der Öffentlichkeit derzeit als Nebensache.

Was folgt auf die Wahl?

Anders als von der Opposition dargestellt, ist ihr der Wahlsieg jedoch keineswegs sicher. Opposition wie Regierung verweisen auf Umfragen von ihnen nahe stehenden Instituten, die das eigene Lager meist mit 20 bis 30 Prozentpunkten vorne sehen. Unter Berücksichtigung des Renommees der einzelnen Institute ergibt sich unterm Strich bislang jedoch ein Vorteil für die Opposition.

Für die regierende Vereinte Sozialistische Partei Venezuelas (PSUV) spricht weiterhin, dass sie als einzige politische Kraft über eine eingespielte Wahlkampfmaschinerie verfügt und flächendeckend präsent ist. Hinzu kommt, dass von den über sieben Millionen Venezolaner*innen, die während der Krise emigriert sind und die Maduro-Regierung ganz überwiegend ablehnen, im Ausland nur ein Bruchteil wählen darf.

Mit Blick auf den Tag nach der Wahl grassiert die Ungewissheit. Die Opposition verströmt eine derartige Siegesgewissheit, dass sie eine mögliche Niederlage kaum anerkennen dürfte. Sollte González tatsächlich gewinnen, wären Verhandlungen mit der Regierung unerlässlich. Zum einen hätte die heutige Opposition nach einem möglichen Wahlsieg noch immer alle anderen staatlichen Institutionen gegen sich. Ein neues Parlament, das etwa das Oberste Gericht umbesetzen könnte, wird erst im kommenden Jahr gewählt. Und da die Amtsübergabe laut Verfassung erst am 10. Januar 2025 stattfinden wird, bliebe die jetzige Regierung selbst im Fall ihrer Niederlage noch über fünf Monate im Amt.

Im Gegensatz zu Machado gilt der ehemalige Diplomat González, der noch unter Chávez bis 2002 Botschafter in Argentinien war, vielen Beobachter*innen als eher geeignet, eine mögliche Transition, also die Übergangsphase nach einem möglichen Regierungswechsel, zu moderieren. Maduro und andere chavistische Spitzenfunktionär*innen haben allerdings derart viel zu verlieren, dass eine geordnete Machtübergabe kaum vorstellbar erscheint. Dabei geht es nicht nur um Privilegien, sondern auch um juristische Verfolgung.

Innerhalb der Opposition gibt es revanchistische Strömungen, die eher auf Rache als auf Versöhnung setzen. Die US-Behörden haben ihrerseits immer noch ein Kopfgeld von 15 Millionen US-Dollar für die Ergreifung Maduros ausgesetzt.

Sollte González tatsächlich gewinnen, käme es innerhalb des Chavismus unweigerlich zu Spannungen über den Umgang mit dem Ergebnis. Eine Missachtung des Wählerwillens wäre für die Regierung mit hohen politischen Kosten verbunden. Denn eigentlich will sie ihre politische Legitimität erhöhen und ein Ende der Sanktionen erreichen. Weitere Szenarien – wie ein möglicher Staatsstreich, eine Verschiebung der Wahl oder ein kurzfristiges Antrittsverbot für González – zeichnen sich derzeit nicht ab. Dass die US-Regierung und das Maduro-Lager Anfang Juli wieder direkte Gespräche aufnahmen, könnte darauf hindeuten, dass die Wahl regulär stattfinden wird. Über allem steht aber die Frage, ob es im Anschluss friedlich bleibt.

Eine wichtige Rolle für die Legitimierung des Wahlergebnisses wird vor allem die flächendeckende Präsenz oppositioneller Zeug*innen in den Wahllokalen spielen, um die elektronisch übermittelten Ergebnisse mit den Papierausdrucken der Wahlmaschinen abzugleichen. (Alle politischen Parteien dürfen mit Zeug*innen in den Wahllokalen präsent sein, wenn die Kontrollausdrucke der Wählerstimmen ausgezählt werden.) Die im Oktober vereinbarte internationale Wahlbeobachtung ist derweil nur ansatzweise zustande gekommen. Die Regierung verschickte zunächst Einladungen auch an die EU, die UNO und das US-amerikanische Carter Center. Die EU lud der Nationale Wahlrat anschließend jedoch wieder aus, offiziell aufgrund der nach wie vor gültigen EU-Sanktionen gegen venezolanische Regierungspolitiker*innen. Die UNO ist mit vier Personen vor Ort, die lediglich einen internen Bericht verfassen werden. Das Carter-Center ist zwar stärker vertreten, kann aber den Wahlprozess ebenfalls nur punktuell abdecken.

Die regierungskritische Linke spielt bei der diesjährigen Wahl unterdessen kaum eine Rolle. Mangels zugelassener linker Gegenkandidaturen gibt es keine einheitliche Position. Einige wenige frühere Chavisten wie Ex-Minister Héctor Navarro rufen zur Wahl von González auf. Die «echte» Kommunistische Partei, die aufgrund der juristischen Intervention das Recht auf ihre Parteisymbole verloren hat, unterstützt nun den moderaten Oppositionskandidaten Enrique Márquez. Eine weitere Gruppe dissidenter Chavist*innen, darunter die linke Menschenrechtsorganisation Surgentes, rufen nicht zur Wahl eines bestimmten Kandidaten auf, sondern haben eine «Andere Kampagne» («otra campaña») gestartet. Ziel ist es, durch offene Debatten mittelfristig eine neue Linke von unten zu stärken. Ob das unter den gegebenen Bedingungen gelingen kann, ist allerdings fraglich.

Unabhängig vom Wahlausgang steht bereits jetzt fest, das Venezuela unruhigen Zeiten entgegengeht.