Nachricht | Geschichte Zum 80. Jahrestag des Warschauer Aufstands

Wie Vorkriegspolen untergeht und Nachkriegspolen Gestalt annimmt

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Holger Politt,

Vor 80 Jahren bricht am 1. August 1944 in der späten Nachmittagsstunde der Warschauer Aufstand aus. Polens Hauptstadt wird zur Barrikade gegen die deutschen Besatzer, die Stadtteile am linken Ufer der Weichsel stehen wochenlang in Flammen. Erst Anfang Oktober kapitulieren die Reste der aufgeriebenen polnischen Einheiten, die von der Wehrmacht in der Stunde der Niederlage wie eine reguläre, besiegte Armee behandelt werden. Statt Standgericht also Kriegsgefangenschaft. Doch der Preis, den Warschau zahlt, ist erschreckend. Auf polnischer Seite sterben in diesen Wochen über 200.000 Menschen, gefallen, getötet oder ermordet – auf einen gefallenen Soldaten kommen neun Zivilisten! Die gesamte Bevölkerung auf der linken Weichselseite muss die Stadt verlassen. Und die siegreichen Besatzer, die selbst über 20.000 Soldaten verlieren, nehmen Rache in der menschenleer gewordenen Feindesstadt – das alte Warschau bleibt als riesiges Trümmerfeld zurück.

Dr. Holger Politt war von Mai 2002 bis Juni 2024 Mitarbeiter der Rosa-Luxemburg-Stiftung. Mehrere Jahre leitete er deren Büro in Warschau. Er publiziert regelmäßig zu Themen der Zeitgeschichte Polens und zu Leben und Werk Rosa Luxemburgs.

Die Entscheidung, am 1. August 1944 die Hauptstadt mit militärischen Mitteln zu befreien, wurde in Warschau vom Hauptkommando der in Polen kämpfenden Armia Krajowa (AK, Landesarmee) gefällt. Am 28. Juli 1944 war von der polnischen Exilregierung aus London die Depesche eingetroffen, mit der Warschau ermächtigte wurde, angesichts sich zuspitzender Situation selbst über den Aufstandsbeginn zu entscheiden. Für den Beschluss, am 1. August loszuschlagen, spielten zwei militärtaktische Gründe eine Rolle: Erstens, dass die Rote Armee kurz davorstehe, in Warschau einzumarschieren, zweitens, dass die Deutschen vor der Offensive der Roten Armee im mittleren Weichsel-Abschnitt zurückweichen würden. Beide Einschätzungen erwiesen sich als falsch. Den AK-Spitzen in Warschau war völlig bewusst, wie sehr sie mit der Entscheidung, gegen die Deutschen loszuschlagen, vom militärischen Erfolg der Roten Armee abhängig waren: «Kommen die Russen nicht in wenigen Tagen, werden uns die Deutschen kaltmachen.»

Allerdings spielten Umstände in die Entscheidung hinein, die verständlich machen, warum zur Eile getrieben wurde. Das Attentat auf Hitler in der Wolfschanze vom 20. Juli 1944 wurde als ein untrügliches Zeichen für Verwerfungen in den deutschen Führungsschichten gewertet. Und in Warschau wurden am 26. und 27. Juli Verwaltungskräfte in Größenordnungen abgezogen, die jedoch am 28. Juli genauso plötzlich zurückkehrten. Wenigstens zeitweise, so legen es Berichte nach London nahe, machten die Deutschen einen weniger geordneten Eindruck als sonst. Und von der sowjetischen Seite wurde die Warschauer Bevölkerung am 29. Juli und 30. Juli direkt aufgefordert, mit der Waffe in der Hand den bevorstehenden Einmarsch der Roten Armee in Warschau zu unterstützen.

Politisches Pokerspiel in Moskau

Am 30. Juli 1944 traf mit Stanisław Mikołajczyk der Ministerpräsident der polnischen Exilregierung aus London in Moskau ein. Vorhergehende polnisch-sowjetische Gespräche im Juni 1944 über die Wiederaufnahme diplomatischer Beziehungen waren gescheitert, jetzt hatte sich insbesondere Churchill dafür eingesetzt, in Moskau direkte Gespräche zu führen, um viele der polnisch-sowjetischen Streitpunkte auszuräumen. Hauptsächlich ging es um den Verlauf der künftigen sowjetisch-polnischen Grenze und um Katyn, jenes sowjetische Kriegsverbrechen an polnischen Offizieren, welches die Deutschen im Frühjahr 1943 mit entsprechender propagandistischer Begleitung aufgedeckt hatten. Englands Botschafter in Moskau empfahl Mikołajczyk nach Ankunft, möglichst offen auf die Moskauer Bedingungen einzugehen. Ein zusätzlicher Trumpf für den Kreml war die am 22. Juli 1944 auf befreitem polnischen Gebiet eingesetzte Provisorische Regierung (PKWN). Für Mikołajczyk wäre die Annahme der Moskauer Positionen einer Kapitulation gleichgekommen, er lehnte ab, dem politischen Gegner in einem solchen Ausmaß entgegenzukommen. Außerdem war er sicher, mit dem bevorstehenden Aufstand in Warschau einen zusätzlichen Trumpf in die Hand zu bekommen.

Ein Zusammentreffen mit Stalin kam erst am Abend des 3. Augusts 1944 zustande, inzwischen war der Aufstand ausgebrochen. Stalin machte dem Gast aus London klar, dass die sowjetische Offensive auf Warschau durch unerwartet heftige deutsche Gegenwehr gestoppt sei und frühestens Ende August mit einer Wiederaufnahme der Angriffsbemühungen zu rechnen sei. Und Stalin wünschte viel Erfolg bei den «innerpolnischen» Verhandlungen mit den PKWN-Vertretern. Vorgeschlagen wurde Mikołajczyk ein Übertritt zum PKWN – als Ministerpräsident, was dieser ablehnte, um seinerseits eine künftige Regierung in Warschau nach der Befreiung ins Spiel zu bringen, die unter seiner Führung stehen und die PKWN entsprechend beteiligt werde. Am 9. August, dem Tag der Abreise, kam es zu einem weiteren Treffen mit Stalin, der im Grunde nur noch das Scheitern des Verständigungsversuches konstatierte. Mikołajczyk kehrte als politisch geschlagener Mann nach London zurück, aus Sicht der Moskauer Gespräche war der Aufstand verfrüht losgebrochen – jetzt sah sich Mikołajczyk von der anderen Seite in die Ecke getrieben. Mit zwei Telegrammen an Stalin versuchte er Mitte August noch ein letztes Mal, den umzustimmen.

In der Zeit zwischen dem 3. und 9. August ist in Moskau die Entscheidung zu Warschau gefallen. Laut Augenzeugen habe Stalin am Schluss im Gespräch mit Mikołajczyk die militärische wie politische Kraft der Aufständischen als unbedeutend heruntergespielt, doch wusste er sehr wohl um die ganze Bedeutung: Ein militärisches Eingreifen der Roten Armee zugunsten des in eine bedrohliche Situation geratenen aufständischen Warschaus hätte vor allem dem Londoner Lager in die Hände gespielt.

Die Rote Armee hatte Ende Juli 1944 auf der rechten Weichselseite Stellungen erreicht, die nur noch 30 Kilometer vom Stadtzentrum Warschaus entfernt waren. Der rechtsufrige Stadtteil Praga wurde aber erst zwischen dem 10. und 15. September 1944 von Truppen der Roten Armee und ihrer polnischen Verbündeten befreit, als auf dem anderen Flussufer die mörderische Schlacht in den Straßenzügen bereits so gut wie entschieden war. Der polnische Rundfunk (Polskie Radio) meldete am 8. September aus Warschau: «Die Zahl der Getöteten in den Hausruinen wächst, Die Zahl der Verletzten, von den Barrikaden und aus den brennenden Häusern getragen, wächst. Es fehlt Wasser, es fehlt Essen. Der Feind ruft uns zur Kapitulation auf. Aber Warschau kämpft, so wie versprochen. […] Warschau erfüllt seine Pflicht gegenüber den Alliierten.»

Die politische Situation war nun einfach: Für das polnische Lager in London und Warschau zeichnete sich die vollständige militärische Niederlage gegenüber den deutschen Besatzern sowie die vollständige politisch-diplomatische Niederlage gegenüber Moskau ab. Am Ende stand das Londoner Exillager vor dem Nichts: Mit der Kapitulation der Armia Krajowa gegenüber den Deutschen war der militärische Arm der Exilregierung faktisch am Ende, größere Verhandlungsspielräume gegenüber den sowjetischen Bedingungen für eine Nachkriegsordnung hatten sich in Luft aufgelöst.

Warschaus Untergang, danach der Weg zur Volksrepublik

Nach Stalingrad und der Kriegswende im Sommer 1943 drückte Stalin im Tempo der vorrückenden Roten Armee auf die Lösung der polnischen Frage – angefangen von der künftigen territorialen Gestalt bis hin zu Fragen der Umgestaltung gesellschaftlicher Verhältnisse. In beiden Fällen beharrte Moskau auf den entschiedenen Bruch mit Vorkriegspolen, wobei die Grenzfrage oberste Priorität behält. Im Herbst 1943 hatte man sich mit den westlichen Alliierten weitgehend einigen können, das Gipfeltreffen in Teheran Ende November/Anfang Dezember 1943 bestätigte die Moskauer Vorstellungen vom künftigen Grenzverlauf zum neuen Polen.

Der Untergang Warschaus war gleichbedeutend mit dem Ende aller Hoffnungen, aus dem Krieg auf der Siegerseite «ungeschoren» – die territoriale Gestalt und die Regierungsgewalt betreffend – herauszukommen. Die PKWN wurde zu einer festen Größe im Machtspiel, die Einflüsse der Londoner Exilregierung im befreiten Polen waren gebrochen. Bereits zum Jahreswechsel 1943/1944 hatte die moskauhörige Seite unter den Polen es so formuliert: «Wir befinden uns an einem historischen Tag für Polen. Um das Leben unseres Volkes zu verteidigen, wenden wir uns um Hilfe an die natürlichen Verbündeten. Wir brechen mit der tausendjährigen Tradition der Expansion gegen die Slawenländer. Zwischen uns und ihnen gibt es keine strittigen Fragen, die nicht gelöst werden könnten. Wir wenden die Ausrichtung des polnischen politischen Denkens ab von der Attacke auf den Osten. Wir wollen Polen ausrichten auf die Verteidigung der preisgegebenen Position im Westen – wir haben das Testament der ersten Piasten zu erfüllen.» Mit den «ersten Piasten» (um das Jahr 1000 herum) war die Rückkehr an die Oder gemeint, der Traum einer geographisch kürzesten Grenzlinie zu Deutschland sollte nun in Erfüllung gehen.

Polens Westverschiebung am Ausgang des Zweiten Weltkriegs führte im Westen wie Osten zu einer völlig neuen Grenzlage, zig Millionen Menschen mussten sich plötzlich eine neue Heimat suchen in ihnen völlig fremder Gegend. Allein das illustriert bereits den kompletten Umbruch des Landes.

Mit Warschaus Untergang setzt die Geschichte der Volksrepublik Polen ein, jetzt geraten jene gesellschaftlichen Kräfte plötzlich in die Vorhand der innerpolnischen Entwicklung, die bis dahin in einer vereinfachten Sicht immer nur als verlängerter Arm Moskaus gesehen wurden. Dass Polens sich neugründende Kommunisten im Rücken der vorwärtsdrängenden Roten Armee agieren, war ein ursprüngliches Konzept Moskaus: gesetzt wurde auf ein sich im inneren Kräftekampf neutralisierendes Polen. Doch plötzlich war der innerpolnische Gegner geschlagen, nahezu vernichtet – so als wäre man in einem aufreibenden und opferreichen Bürgerkrieg der Sieger. Jetzt rächte sich zwar, dass ausgerechnet Stalin 1938 die Kommunistische Partei in Polen im Zuge der «Säuberungen» zerschlagen ließ und dass Moskau erst 1942 im Zusammenhang mit einer völlig anderen Kriegsperspektive in einer konstruktiveren Weise an die Nachkriegsentwicklung eines selbständigen Polens dachte, doch im Herbst 1944 brauchte das entstandene Vakuum «nur» noch ausgefüllt werden. Dies geschafft zu haben, dafür gesorgt zu haben, dass das neue Polen seinen Platz in der Weltgeschichte findet, dass es nicht nur schlechthin als Spielgröße im Konflikt der Großmächte überlebt, sondern zu einem wichtigen Faktor der europäischen Nachkriegsgeschichte überhaupt wird, gehört zur Glanzseite in der Geschichte der VR Polen. Der Name von Władysław Gomułka steht wie kaum ein anderer für diese dramatische Periode polnischer Geschichte.

 Gomułka gehörte zu jenen Kommunisten Polens, die Stalins Vernichtungsschlag überlebt hatten. Sein Aufenthaltsort in den Schreckensjahren 1937 und 1938: das polnische Gefängnis, in dem er bis Kriegsausbruch einsaß. Er ging im Herbst 1939 zunächst in den sowjetisch besetzten Teil, kehrte nach dem deutschen Überfall auf die Sowjetunion nach Warschau zurück, wurde ab 1942 zur wichtigen Anlaufstelle für die wiederaufzubauenden kommunistischen Strukturen. Ab 1943 suchte er intensivere Kontakte zu den Strukturen des Londoner Lagers, was aber nach dem Abbruch der diplomatischen Beziehungen zwischen Moskau und der polnischen Exilregierung – wegen Katyn – im Sande verlief. Nach der Warschauer Katastrophe stieg er Schritt für Schritt zum wohl wichtigsten Mann im Moskauer Polen-Spiel auf, ein Kompromiss, denn ihm fehlte im Unterschied zu anderen genügend Moskauer Stallgeruch. Seine Aufgabe sah Gomułka nun darin, unter den obwaltenden Bedingungen möglichst viel eigenen Spielraum gegenüber Moskau herauszuholen.

Doch zurück zur Situation Ausgangs des Krieges. Dem Kräfteverhältnis entsprechend trat Mikołajczyk der in Warschau installierten Regierung der nationalen Einheit als stellvertretender Ministerpräsident bei. Die von ihm geführte Bauernpartei (PSL) war faktisch identisch mit der Opposition und noch immer ein gewichtiger Faktor im politischen Spiel. Sein großer Gegenspieler war Gomułka, der in der Regierung für die «wiedergewonnenen Westgebiete» zuständig war und zugleich als Parteichef der Polnische Arbeiterpartei (PPR) die Fäden im politischen Geschäft zusammenhielt. 1947 sollten laut den Beschlüssen der vier Siegermächte freie Parlamentswahlen stattfinden, die indes nach Moskauer Vorgabe gefälscht wurden. Mikołajczyk emigrierte in die USA, Gomułka setzte nun alles auf einen eigenen, nationalen Weg Polens in den Sozialismus. 1948 ließ Moskau ihn fallen, er kam in Haft, erlebte im polnischen Oktober 1956 die politische Auferstehung – wenn man so will die zweite Geburt der VR Polen.

Die Auseinandersetzung um den Warschauer Aufstand werden bleiben. Auch wenn dem Aufstand wenig militärische Bedeutung zukam, steht er in der jüngeren Zeitgeschichte Polens als einzigartige Zäsur. Es gibt ein Polen vor dem Aufstand, ein anderes danach – der August 1944 wirkt wie die Wasserscheide des Gebirges. Wie die getrennten Wassermassen später wieder zusammenfinden, gehört bereits einer anderen Erzählung zu.

Kurze Bemerkung zur deutschen Schuld

Die deutschen Besatzer schlugen im August und September 1944 mit dem Warschauer Aufstand zum zweiten Mal massiven bewaffneten Widerstand in der polnischen Hauptstadt mit äußersten Mitteln nieder. Ein erstes Mal traf es im April und Mai 1943 den jüdischen Kampf im Warschauer Ghetto. Von der deutschen Brutalität zeugen die Zahlenverhältnisse – auf einen gefallenen Kämpfer neun ermordete oder getötete Zivilpersonen im Jahr 1944; ein Jahr zuvor war das Zahlenverhältnis noch viel deutlicher. Um den Widerstand beim Warschauer Aufstand zu brechen, wurde von höchster Stelle der Befehl erlassen, keine Gefangenen zu machen und gegenüber der Zivilbevölkerung keine Gnade walten zu lassen. Im Warschauer Stadtteil Wola wurden vom 5. bis 7. August 1944 schätzungsweise 30.000 Menschen – die meisten davon Frauen und Kinder – aus den Häusern getrieben und auf offener Straße erschossen, ermordet.

Heinz Reinefarth, Generalleutnant der Waffen-SS und Verantwortlicher für dieses Kriegsverbrechen, machte nach dem Krieg in Schleswig-Holstein politische Karriere. Amerikaner wie Briten lehnten trotz klarer Beweislage die Auslieferung nach Polen ab – ein bis heute unfassbarer Vorgang. Nach drei Jahren amerikanischer Kriegsgefangenschaft kam er 1948 auf freien Fuß, wurde 1949 in Hamburg sogar für «entnazifiziert» erklärt. Von 1951 bis 1964 war er Bürgermeister von Westerland auf Sylt, von 1958 bis 1962 Abgeordneter im Landtag Schleswig-Holstein. 1957 erlebte der DDR-Dokumentarfilm «Urlaub auf Sylt» von Annelie und Andrew Thorndike seine Premiere, der im Westen wie im Osten hohe Wellen schlug. Reinefarth verwies zu seiner Verteidigung auf die amtliche «Entnazifizierung» von 1949, bezeichnete es als kommunistische Willkür, ihn als «Henker tausender Polen» an den Pranger zu stellen, wies die Anschuldigung entschieden zurück.

Zum 70. Jahrestag des Warschauer Aufstands wurde 2014 am Rathaus in Westerland eine Erinnerungstafel an den Warschauer Aufstand eingeweiht, auf der Ex-Bürgermeister Reinefahrt als Mitverantwortlicher am Verbrechen gegen die Bevölkerung Warschaus bezeichnet wird – gehofft wird auf Versöhnung. Am 1. August 2004 sagte der damalige Bundeskanzler Gerhard Schröder in Warschau bei der feierlichen Einweihung des Museums des Warschauer Aufstands, dass dies ein Tag der deutschen Schande sei. Dem bleibt nichts hinzuzufügen.

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