Nachricht | Krieg / Frieden - Libanon / Syrien / Irak - Palästina / Jordanien - Krieg in Israel/Palästina - Westasien im Fokus Die Haifa-Straße in Bagdad

Ein Mikrokosmos irakisch-palästinensischer Geschichte

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US-Soldaten sichern die Haifa-Straße in Bagdad im Februar 2007. Zu dieser Zeit war sie Schauplatz des Widerstands gegen die US-Besatzung und Kämpfen zwischen konkurrierenden Milizen. Foto: IMAGO / piemags

Im Oktober 2023 fand in Bagdad eine Massendemonstration für die Unterstützung Palästinas statt. Dazu aufgerufen hatten Muqatada Al-Sadr, der Sohn des 1999 von Saddam Hussein ermordeten radikalen schiitischen Predigers Mohammad Sadiq Al-Sadrs, und seine Anhänger*innen. Letzterer hatte insbesondere in den 1990er-Jahren gerade in verarmten städtischen Gebieten eine enorme Popularität erlangt, an die sein Sohn nach 2003 versuchte anzuknüpfen. Mittlerweile kommt die Palästina-Solidarität im Irak aus der Mitte der Gesellschaft. Nach Jahren, in denen Palästina und die Palästinenser*innen im Irak mit Terrorismus und Selbstmordattentaten assoziiert wurden, ist dies nicht länger selbstverständlich.

Haifa-Straße und palästinensisches Leben im Irak

Die wechselhafte Beziehung zwischen Palästinenser*innen und den irakischen Regimen sowohl vor als auch nach 2003 lässt sich vielleicht am besten anhand eines Ortes in Bagdad nachzeichnen: der Haifa-Straße. Gebaut wurde die Haifa-Straße anlässlich eines Gipfeltreffens der Blockfreien Bewegung, das 1982 in Bagdad stattfinden sollte. Sie war damals schon ein Prestigeobjekt, sollte den Modernismus des Regimes verkörpern und den Eindruck erwecken, der Krieg könne dem Land nichts anhaben.[1] Die irakische Regierung stellte anschließend viele der modernen Wohnungen in den 5- bis 16-stöckigen Hochhäusern palästinensischen Flüchtlingen kostenlos zur Verfügung. Den irakischen Wohnungsbesitzer*innen zahlte die Regierung monatlich eine stattliche Miete.

Der Golf-Krieg, die PLO und das Embargo

1990 nach dem Ende des Iran-Irak-Kriegs 1988 überfiel die irakische Armee Kuwait. Daraufhin verhängten die Vereinten Nationen (UN) ein Wirtschaftsembargo, um Druck auf Saddam Hussein auszuüben, die Armee zurückzuziehen. Während viele palästinensische Intellektuelle wie Edward Said oder Walid Khalidi die Invasion scharf kritisierten, entschied sich die Palästinensische Befreiungsorganisation (PLO) aus strategischen Gründen dafür, Saddam Hussein – wenn auch nur implizit – zu unterstützen. Nach Tunis war Bagdad zu einer wichtigen Basis für die PLO geworden, die immerhin nur acht Jahre zuvor Beirut hatte verlassen müssen. Vor allem ging es aber um die irakische «Initiative», die den Rückzug aus Kuwait an den Rückzug Israels aus Palästina, dem Süden Libanons und den syrischen Golanhöhen band. Diese umstrittene Allianz ging in das kollektive Gedächtnis der Menschen im Irak und in Kurdistan ein und ist ein Grund dafür, warum die Stimmung im Irak bis vor Kurzem eher gegen die Palästinenser*innen gerichtet war.

Neben der gezielten Zerstörung der Infrastruktur durch die Bombardierungen der USA traf das Embargo die Menschen im Irak hart. Es kam zu einem massiven Währungsverfall. Saddam Hussein passte die Mietzahlungen für die die in der Haifa-Straße lebenden Palästinenser*innen allerdings nicht daran an. Das führte zu Unmut unter den Wohnungsbesitzer*innen, die monatlich nun nur noch circa 10 US-Dollar (20.000 IQD) erhielten. Damals, so hieß es zudem, hätten Palästinenser*innen und Ägypter*innen im Irak sogar subventionierte Nahrungsmittel erhalten, während sich die irakische Bevölkerung kaum mehr ernähren konnte.

Die Instrumentalisierung der Palästinenser*innen durch Saddam Hussein und dessen Unterstützung durch die PLO hatten einen hohen Preis: Nicht nur stoppten die ölexportierenden arabischen Staaten der Region ihre Zahlungen an die PLO, den Palästinenser*innen in Kuwait wurde zudem die Kollaboration mit dem Irak vorgeworfen. Innerhalb weniger Tage mussten 450.000 Palästinenser*innen Kuwait verlassen.

Der Krieg von 2003 und die anhaltende Vertreibung

Vor dem Irak-Krieg 2003 bereitete sich die UNO mit ihrer gesamten Infrastruktur auf eine Massenflucht von Iraker*innen vor, von denen man annahmen, dass sie aufgrund der Bombardierungen und kriegerischen Auseinandersetzungen das Land verlassen würden. Diese blieb jedoch aus. Im Schatten des anhaltenden Krieges begann jedoch die Vertreibung von Palästinenser*innen aus dem Irak. Sie erhielten von ihren irakischen Vermieter*innen Räumungsbescheide. Der irakische Staat hatte die Mietzahlungen eingestellt. Konkurrierende politische Gruppierungen, die sich nach dem Krieg gegründet hatten oder aus dem Exil zurückgekehrt waren, betonten immer wieder die Privilegien, die die Palästinenser*innen unter Saddam Hussein angeblich genossen hätten. Zu diesen Gruppierungen gehörten sowohl die Anhänger*innen von Muqtada Al-Sadr, Sohn des ermordeten Mohammad Sadiq Al-Sadr, die als Teil der schiitischen Opposition gegen die Besatzung kämpften, als auch politische Gruppen, die den Sturz Saddam Husseins und die anschließende Besatzung unterstützten, wie der Oberste Rat für die Islamische Revolution im Irak (SCIRI). Ihr Anführer Abdul-Aziz al-Hakim war zum damaligen Zeitpunkt Vorsitzender des von den USA ernannten Irakischen Regierungsrats. Nun sollten die Palästinenser*innen im Irak für die Politik des alten Regimes büßen.

Allein zwischen April und Mai 2003 wurden über 1.600 Palästinenser*innen gezwungen, ihre Wohnungen und Häuser zu verlassen. An den Vertreibungen beteiligte sich auch die sogenannte Mahdi-Armee, die paramilitärische Streikraft unter der Führung von Al-Sadr. Es kam zu gezielten Attacken gegen Palästinenser*innen, viele wurden ermordet. So wurde eine politisch, aber auch künstlerisch und literarisch sehr lebendige Diasporagemeinde zerstört, von ehemals 34.000 Palästinenser*innen blieben nur noch zwischen 4.000 und 10.000 übrig. Nur 13 Jahre nach der Vertreibung aus Kuwait waren große Teile der palästinensischen Community erneut auf der Flucht und auf dem Weg in ein neues politisches Exil.

Konfessionelle Gewalt und Schuldabwehr

Bis heute ist die Haifa-Straße von riesigen Einschusslöchern übersät. Von 2003 bis 2009 war sie Schauplatz des Widerstands gegen die US-Besatzung und Kämpfen zwischen konkurrierenden Milizen. Den Palästinenser*innen wird vorgeworfen, damals die sunnitischen Aufständischen unterstützt zu haben. Auf Flugblättern aus dem Jahr 2006 werden sie als Kollaborateure des alten Regimes, Verräter*innen und Baathisten bezeichnet und mit dem Tod bedroht, sollten sie nicht sofort das Land verlassen.

Innerhalb der Logik der «konfessionellen Säuberungen» und der damit einhergehenden Gewalt in der Zeit um 2006 herum war die Haifa-Straße ein Sonderfall: Die Bevölkerung war multikonfessionell und wechselnden Machtverhältnissen unterworfen: Mal kontrollierte Al-Qaida die Gegend, mal die von den USA angeführten Koalitionstruppen und die der irakischen Regierung, dann wieder die Mahdi-Armee. Im Zuge der konfessionell oder religiös motivierten Gewalt kam es zu weiteren gezielten Attacken gegen die palästinensische Bevölkerung. Das irakische Innenministerium und seine paramilitärischen Kräfte nutzen oft fabrizierte Vorwürfe des Terrorismus, um willkürlich gegen Palästinenser*innen vorzugehen. Etliche wurden verhaftet, gefoltert und in den Medien als Kollaborateure vorgeführt. Die Hamas unterstützte damals Al-Qaida im Irak. Als Abu Musab al-Zarqawi, Anführer von Al-Qaida im Irak und somit für eine Reihe extrem brutaler konfessionell motivierter Anschläge im Land verantwortlich, 2006 Opfer einer gezielten Tötung durch die USA wurde, würdigte die Hamas ihn in einer Trauerrede – was sie später leugnete. Daraufhin bestellte die irakische Regierung den palästinensischen Botschafter ein. Auch dies ging in das kollektive Gedächtnis der irakischen Bevölkerung ein und prägte ihr Bild von der palästinensischen Politik. Es entstand ein von der herrschenden Elite befeuerter Diskurs, wonach vor allem Palästinenser*innen für die Selbstmordattentate verantwortlich seien. Die Haifa-Straße wurde zu einem Symbol dieser konfessionalistischen Gewalt. Für viele Bewohner*innen Bagdads hinterließen jene Jahre von 2006 bis 2009 ein Trauma. Sie konnten sich die Gewalt zwischen ehemaligen Nachbar*innen und Freund*innen nicht erklären – deswegen lag es nahe, die Verantwortung dafür «Fremden» zuzuschieben, wofür sich die Palästinenser*innen anboten. Dies erfüllte die Funktion einer doppelten Schuldabwehr: Es waren demnach die Palästinenser*innen, die erst das Regime Saddam Husseins unterstützt hatten und nun konfessionalistischen Terror ausübten und die Iraker*innen gegeneinander aufzuhetzen versuchten.

Der Irak zwischen USA und Iran

Nicht erst seit Oktober 2023 ist der Irak ein zentraler Schauplatz für die Auseinandersetzung zwischen den USA und vom Iran unterstützten Gruppen. Seitdem finden jedoch wieder vermehrt Bombardierungen auf irakischem und kurdischem Boden statt. Diese erleben viele Iraker*innen nicht einfach nur als Teil eines Stellvertreterkriegs, sondern als extrem retraumatisierend. Die Trainingscamps und Quartiere der mit dem Iran sympathisierenden Milizen befinden sich zum Teil auf Regierungsgelände und somit in Wohngebieten, wie etwa dem im Januar 2024 bombardierten Quartier der Nujaba-Bewegung (die zu den schiitischen Volksmobilisierungskräften [PMF] gehört) in der Palästina-Straße in der Bagdader Innenstadt. Die PMF werden aus dem Militärhaushalt des irakischen Staats bezahlt. Diese brutalen Angriffe treffen also die Menschen in ihrem Alltag und erinnern viele an die schlimmsten Tage zwischen 2006 und 2009.

Der Versuch des Irans und der irantreuen Milizen im Irak, den antiimperialistischen Diskurs zu vereinnahmen, dient auch dazu, die eigenen subimperialen Bestrebungen zu verbergen. Ihr islamistisch-nationalistische Argumentation und Rhetorik machen es schwierig, sich den Begriff des Widerstands von progressiver Seite anzueignen. Gleichzeitig werden mithilfe dieser Rhetorik progressive lokale Stimmen, linke Gruppierungen und soziale Bewegungen, die aus den Aufständen von 2019 hervorgegangen sind, weiter marginalisiert und gegebenenfalls auch repressiv verfolgt.

Unterdessen haben die Staaten, in denen der Iran eine subimperiale Rolle spielt, nicht nur im Irak, sondern auch in Syrien und im Jemen sich im Krieg eindeutig gegen Israel positioniert. Im Irak zeigt sich das unter anderem an Raketenangriffen auf US-amerikanische Militärstützpunkte und in letzter Zeit auch auf mit den USA assoziierte Restaurantketten. Letzteres hat dazu geführt, dass in Bagdad vor diesen Restaurants und auf den Straßen erhöhte Militärpräsenz herrscht, die diese vor den Angriffen schützen soll. Insbesondere junge Männer werden im Namen der Terrorismusbekämpfung an diesen Checkpoints willkürlich kontrolliert.

Samen der Solidarität

Während des Oktoberaufstands von 2019 spielte die Solidarität mit Palästina keine Rolle. Mit der massiven Mobilisierung in und um das Viertel Sheikh Jarrah in Ostjerusalem wurde der Kampf der Palästinenser*innen 2021 wieder zu einem positiven Bezugspunkt der Bewegungen von unten. Während des Aufstands im Irak hatten sich viele von den traditionellen Parteien entfernt, die keine Lösungen für die sozialen Probleme im Land anbieten können. Zudem führte die enorme Gewalt von Akteuren wie den PMF oder auch der Sadristen dazu, dass gerade junge Menschen sich von ihnen abwandten und ihre Autorität nicht länger akzeptieren. Es war insbesondere das Framing der nachbarschaftlichen Graswurzelorganisierung um Sheikh Jarrah, das diese junge Generation im Irak ansprach.

Linke Graswurzel-Aktivist*innen, die sich im Oktoberaufstand zusammengefunden haben und sich klar gegen die Einmischung des Irans im Irak wenden, organisierten daraufhin im Mai 2021 einen Solidaritätskonvoi nach Palästina. Als im Oktober 2023 der Krieg gegen die Bevölkerung in Gaza begann, riefen die Anhänger*innen von Muqtada Al-Sadr zu einer Demonstration in Bagdad auf, an der über eine halbe Million Demonstrant*innen teilnahmen. Es gibt weitere Proteste, die allerdings außerhalb des Iraks nicht wahrgenommen werden. Dazu gehören etwa wöchentliche Kundgebungen aus dem linksliberalen Spektrum an verschiedenen Orten Bagdads, darunter Proteste der KPI und anderer linker Gruppen, die aus dem Oktoberaufstand hervorgegangen sind. Zivilgesellschaftliche Gruppen, die sich ursprünglich gegründet hatten, um Notfallhilfe für vor dem IS geflohene Familien zu leisten, organisierten Basare und Benefizkonzerte für Gaza. Auch die Bagdader Buchmesse im Februar 2024 stand unter dem Motto Palästina und Unterstützung für Gaza. Es wurde sogar über das irakisch-palästinensische Kulturerbe in der Literatur geredet, aber die Folgen der von staatlicher Seite und Milizen erfolgten Vertreibungen von Palästinenser*innen aus dem Irak wie etwa die massive Schwächung der palästinensischen Zivilgesellschaft im Irak hatten keinen Raum auf der Buchmesse. Die Solidarisierung mit Palästina hat oftmals einen religiösen oder sogar arabisch-nationalistischen Anstrich. Es gibt aber kleine linke Graswurzelgruppen, die sich in monatlichen Diskussionsrunden mit den Geschehnissen in der Region befassen und Interesse an einer progressiven Analyse und Perspektive auf Palästina und die Palästinenser*innen haben, die die lange Geschichte antifaschistischer und antiimperialistischer Kämpfe im Irak einbezieht.


[1] Der Krieg zwischen dem Iran und Irak begann mit einem Angriffskrieg des Irak auf den Iran. Er dauerte von September 1980 bis August 1988.