Nachricht | Parteien / Wahlanalysen - Andenregion Politische Krise in Venezuela

Nach der umstrittenen Präsidentschaftswahl geht der Machtkampf in eine neue Runde

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Geköpfte Büste des früheren venezolanischen Präsidenten Hugo Chávez in der Stadt Guacara. Die Statue ist während nächtlicher Ausschreitungen nach den umstrittenen Wahlen zerstört worden (31.7.2024). Foto: IMAGO / ZUMA Press Wire

Zwei Wochen nach der Präsidentschaftswahl in Venezuela lässt sich zumindest eines mit Gewissheit sagen: Sie hat keinen Beitrag dazu geleistet, den destruktiven Machtkampf der vergangenen Jahre zu überwinden. Vielmehr verschärft sich die politische Krise, bei der sich interne Probleme mit geopolitischen Interessen vermischen.

Tobias Lambert arbeitet als freier Autor, Redakteur und Übersetzer zu Lateinamerika. Seit Jahren beschäftigt er sich intensiv mit Venezuela.

In der Wahlnacht des 28. Juli hatte der Nationale Wahlrat (CNE) Amtsinhaber Nicolás Maduro bereits nach Auszählung von 80 Prozent der Stimmen zum Sieger erklärt. Fünf Tage später bestätigte der CNE dieses Ergebnis mit nur leichten Verschiebungen. Demnach habe Maduro bei etwa 60 Prozent Wahlbeteiligung 51,95 Prozent (6,4 Millionen Stimmen) erhalten. Auf den Herausforderer Edmundo González seien 43,18 Prozent (5,3 Millionen Stimmen) entfallen. Die genauen Ergebnisse aus den einzelnen Wahllokalen veröffentlichte der CNE bis dato nicht.[1] Verantwortlich dafür sei ein Cyberangriff, so die offizielle Erklärung. Da die elektronischen Wahlmaschinen die Ergebnisse über Telefonleitungen und Satelliten übertragen, bleibt unklar, was genau das Ziel des Angriffs war. Die Webseite des CNE ist seit der Wahl nicht erreichbar.

González und Oppositionsführerin María Corina Machado, die nicht antreten durfte, erkennen die Ergebnisse nicht an. Laut eigenen Berechnungen habe González etwa 67 Prozent der Stimmen geholt. Die Zahl ergibt sich laut der Opposition aus etwa 83 Prozent der ihr zugänglichen Wahlakten. Jede der insgesamt gut 30.000 Wahlmaschinen druckt vor der Übertragung der Daten ein Endergebnis aus, das die anwesenden Wahlhelfer*innen und -zeug*innen unterschreiben. Die Opposition, die in nahezu jedem Wahllokal mit Zeug*innen anwesend war, veröffentlichte im Internet bereits in den Tagen nach der Wahl einen Großteil der ihr laut eigenen Angaben vorliegenden Wahlakten. Die Regierung spricht davon, dass diese gefälscht seien.

Der Kampf um die Deutungshoheit

Die US-Regierung erkannte González auf dieser Grundlage als Wahlsieger, jedoch noch nicht als Präsident an. Das Carter Center, das eine kleine Wahlbeobachtermission im Land hatte, geht ebenfalls von einem Wahlsieg González' aus, die EU und sämtliche rechtsgerichteten Regierungen Lateinamerikas zweifeln das offizielle Wahlergebnis an. Länder mit Mitte-Links-Regierungen wie Brasilien, Kolumbien, Mexiko und Chile fordern transparente Zahlen. Dem schlossen sich auch regierungskritische chavistische Sektoren wie die linke Menschenrechtsorganisation Surgentes, eine Reihe ehemaliger Minister*innen und Intellektueller sowie soziale und politische Basisorganisationen an. Rückhalt bekommt Maduro hingegen von den Regierungen aus Nicaragua, Kuba, Bolivien und Honduras. Außerhalb Lateinamerikas erkannten Russland, China sowie fast 40 vorwiegend afrikanische und asiatische Länder das offizielle Wahlergebnis an.

Unmittelbar nach der Wahl kündigte Maduro an, ein Dekret für einen neuen «großen Dialog» mit allen Sektoren des Landes zu unterzeichnen. Seit es am Tag nach der Wahl teils gewalttätige Proteste gab, spricht die Regierung jedoch von einem Putschversuch und diffamiert jegliche kritischen Stimmen. Der Präsident erklärte, 2.000 Protestierende in Hochsicherheitsgefängnissen wegsperren zu wollen. Mehr als tausend Personen wurden verhaftet, mindestens 24 kamen laut Medienberichten ums Leben. Menschenrechtsorganisationen sprechen von willkürlichen Festnahmen Oppositioneller sowie Einschüchterungsversuchen. Chavistische Basisaktivist*innen hingegen werfen Oppositionellen vor, Regierungsanhänger*innen und chavistische Einrichtungen angegriffen zu haben. Auch kursierten Bilder vom Sturz mehrerer Chávez-Statuen. Anhänger*innen der Regierung gingen in den Tagen darauf in zahlreichen Städten auf die Straße, um das verkündete Wahlergebnis zu verteidigen. Die kurz aufgeflammten Proteste ließen hingegen schnell nach.

Mit der Begründung, sie würden zur Verbreitung von Umsturzplänen benutzt, polemisierte Maduro gegen soziale Medien wie WhatsApp und X (vormals Twitter). Nach verbalen Auseinandersetzungen mit X-Besitzer Elon Musk ließ Maduro die Plattform, die auch die Regierung und ihre Anhängerschaft intensiv nutzen, ab dem 8. August für zunächst zehn Tage blockieren. Genauso wie zahlreiche oppositionelle Medien ist X in Venezuela somit nur noch über ein VPN (Virtual Private Network) erreichbar. Für die Unruhen nach der Wahl macht die Regierung direkt González und Machado verantwortlich. Die beiden Oppositionellen riefen in einem Kommuniqué Anfang August zudem das Militär dazu auf, «den Willen der Bevölkerung durchzusetzen», woraufhin die Generalstaatsanwaltschaft eine Untersuchung gegen sie einleitete. Sowohl Machado als auch González sind seitdem aus der Öffentlichkeit verschwunden und befürchten, festgenommen zu werden.

Das Recht auf ein transparentes Wahlergebnis

Die altbekannte Frontenbildung wiederholt sich somit auch dieses Mal. Auf der einen Seite die US-gestützte rechte Opposition, auf der anderen eine nicht mehr ganz so linke Regierung, die alle Institutionen sowie den Sicherheitsapparat kontrolliert und auf immensen Ölreserven sitzt. Die Argumentation der Regierung, vieler Chavist*innen und internationaler Unterstützer*innen lautet, dass die rechte Opposition in den vergangenen 25 Jahren häufig ohne jegliches Fundament Betrug angeprangert und auf Gewalt gesetzt habe. Daher könne man ihr auch dieses Mal nicht glauben, sondern die Betrugsversuche und Rufe nach Transparenz seien Teil eines gewalttätigen Plans zum Sturz der Regierung.

Anders als bei vergangenen Umsturzversuchen hat die Argumentation allerdings einen Haken: Da die Regierung und die Institutionen es bisher nicht vermocht haben, die Plausibilität des Ergebnisses darzulegen, ist die Regierung in eine erneute Legitimationskrise geschlittert. Zwar ist offensichtlich, dass an Venezuela aus geopolitischen Interessen heraus (vor allem aufgrund des Erdöls) andere Maßstäbe angelegt werden als an andere Länder. Als Beispiele gelten etwa die intransparenten Wahlen in den USA im Jahr 2000 oder in Mexiko 2006. Daraus lässt sich aber nicht schlussfolgern, die Bevölkerung und die Opposition, deren Kandidat letztlich zur Wahl zugelassen wurde, hätten nun kein Recht auf ein transparentes Wahlergebnis.

Das verkündete Ergebnis sorgt aus mehreren Gründen für heftige Kontroversen. Zunächst ist es unüblich, auf einer derart dünnen Datengrundlage inmitten eines vermeintlichen Cyberangriffes einen der Kandidaten zum Wahlsieger zu erklären.[2] Da der CNE anschließend mehrere der vorgesehenen Schritte zur Überprüfung unterließ und keine nach Wahllokalen und Wahltischen aufgeschlüsselten Ergebnisse veröffentlichte, ist das Ergebnis nicht unabhängig nachprüfbar.

An sich wäre es kein Problem, es zu verifizieren. Das venezolanische Wahlsystem sieht dafür mehrere Kontrollinstrumente vor. Nicht nur druckt jede Wahlmaschine vor der Übertragung der Daten ein Endergebnis aus. Zudem gibt es die einzelnen Stimmen auch als Kontrollausdruck auf Papier. Der erste und übliche Schritt wäre, dass der CNE die genauen Ergebnisse veröffentlicht. Wahlzeug*innen der Regierungspartei PSUV verfügen darüber hinaus über die Kopien sämtlicher Wahlakten. Sie hätten diese längst komplett oder in Teilen veröffentlichen können, um sie mit den Akten zu vergleichen, die die Opposition veröffentlicht hat. Jede Wahlakte enthält verschiedene Sicherheitsmerkmale wie einen individuellen Code (Hash) sowie einen QR-Code, die eine Fälschung anspruchsvoll machen. Sollte das vom Wahlrat veröffentlichte Ergebnis stimmen, ließe sich die Opposition dadurch rasch als Lügnerin entlarven.

Im April 2013 etwa stellte die PSUV eine Woche nach dem knappen Wahlsieg Maduros die digitalisierten Wahlakten online, um das Ergebnis transparent zu belegen. Auf Antrag des unterlegenen Oppositionskandidaten Henrique Capriles wurden später zudem die Stimmen auf Papier nachgezählt.

Kein Ausweg aus der Krise

Die Regierung versucht, den Konflikt über die politischen Institutionen zu befrieden. Maduro selbst wandte sich bereits am 30. Juli an das Oberste Gericht (TSJ), das nun den Wahlprozess überprüfen soll. Allerdings gilt dieses als regierungstreu und hat in den vergangenen Jahren keine bekannte Entscheidung gegen die Interessen der Regierung gefällt. Das Gericht zitierte alle zehn Präsidentschaftskandidaten sowie die Vertreter*innen der Parteien herbei. Edmundo González erschien allerdings nicht, was Unterstützer*innen der Regierung als weiteren Beleg dafür werten, dass die Opposition die von ihr veröffentlichen Wahlakten gefälscht haben müsse. Auch ordnete das Gericht an, dass der Wahlrat ihm sämtliche Informationen und Dokumente über die Wahl und den behaupteten Cyberangriff übergibt. Der CNE kam dem nach.

Damit gibt der Wahlrat, der laut Verfassung eine eigenständige politische Gewalt darstellt, seine Befugnisse bezüglich der Präsidentschaftswahl komplett an das Gericht ab. Dieses soll nun auf Grundlage der Aussagen und Dokumente entscheiden, ob das Wahlergebnis Bestand hat. Dass das Gericht einen Wahlsieg der Opposition feststellt, gilt als nahezu ausgeschlossen. Wahrscheinlicher ist, dass es Maduros Wiederwahl bestätigt. Ungeklärt bliebe dann allerdings noch die Frage, ob die genauen Zahlen und Wahlakten veröffentlicht werden, um sie mit jenen der Opposition abzugleichen. Ohne dies wird außerhalb von Maduros Kernanhängerschaft kaum jemand das Ergebnis glauben. Eine andere Option wäre eine Wahlwiederholung mit der Begründung, die elektronischen Daten seien durch den vermeintlichen Cyberangriff nicht mehr komplett herstellbar.

Bei der Regionalwahl im Bundesstaat Barinas 2021 etwa ordnete das TSJ nach einem knappen Ergebnis eine Neuwahl an. Diese allerdings gewann der Oppositionskandidat dann deutlich. Ein solcher Schritt würde der Regierung allenfalls zusätzlich Zeit verschaffen und die Möglichkeit eröffnen, die Opposition erneut zu spalten. Machado erteilte möglichen Neuwahlen bereits eine Absage. Es ist absehbar, dass aus dem diesem Wahlprozess kein breit anerkanntes Ergebnis mehr hervorgehen wird. Dafür sind die Fronten zu verhärtet und wird das Oberste Gericht nicht als unparteiische Institution anerkannt. Ein gangbarer Ausweg aus der Situation ist also kurzfristig kaum erkennbar.

Da Maduro und andere chavistische Spitzenfunktionär*innen zu viel zu verlieren haben, werden sie im Falle einer Wahlniederlage kaum freiwillig das Feld räumen. Innerhalb der Opposition gibt es revanchistische Strömungen, die eher auf Rache als auf Versöhnung setzen. Die US-Behörden haben ihrerseits immer noch ein Kopfgeld von 15 Millionen US-Dollar für die Ergreifung Maduros ausgesetzt. Kolumbiens Präsident Gustavo Petro hatte deshalb bereits vor Monaten vorgeschlagen, die juristische Verfolgung der Wahlverlierer gegenseitig auszuschließen. Gemeinsam mit dem brasilianischen Staatschef Luiz Inácio «Lula» da Silva sowie dem mexikanischen Präsidenten Andrés Manuel López Obrador zählt die kolumbianische Regierung zu den wenigen internationalen Akteuren, die in der momentanen Lage möglicherweise auf die Lage einzuwirken könnten. Die drei Länder fordern nicht nur ein transparentes Wahlergebnis, sondern machen sich für einen Verhandlungsprozess stark und wollen sich dafür zeitnah mit Maduro treffen. Dass sich die US-Regierung anmaßt, einseitig über das Wahlergebnis zu entscheiden, konterkariert allerdings diplomatische Bemühungen, die Krise ohne weitere Eskalation zu lösen. Gleichzeitig laufen weiterhin geheime Gespräche zwischen den USA und Venezuela.

Da die venezolanische Opposition allenfalls über den Ablauf einer Machtübergabe sprechen will, die Regierung dies aber kategorisch ausschließt, bleibt unklar, worüber beide Seiten konkret verhandeln sollen. Sollte die Dialoginitiative der Mitte-links-Regierungen ohne Erfolg bleiben, werden ein Großteil der Opposition und verbündete Staaten ab Beginn der neuen Amtszeit im Januar wohl González als legitimen Präsidenten betrachten. Dies würde an die Selbsternennung von Juan Guaidó im Januar 2019 erinnern. Diese erfolgte zwar unter anderen Bedingungen, da sich Guaidó nicht auf direkte Wählerstimmen berufen konnte. Die Dynamik von internationalem Druck, Verschärfung von Sanktionen und negativen Folgen für die venezolanische Bevölkerung bis hin zu einer wahrscheinlich erneuten Zunahme der Migration wäre aber voraussichtlich vergleichbar. Die Regierung versucht offenbar, die Situation auszusitzen, ohne einen realistischen Ausweg aufzuzeigen. Ihr Ziel, durch weitgehend anerkannte Wahlen zur politischen und wirtschaftlichen Normalität zurückzukehren, kann sie kaum mehr erreichen.


[1]    Laut Wahlgesetz hat der CNE dafür formell 30 Tage Zeit, tat dies aber meist wesentlich schneller. Lediglich zweimal blieb der Wahlrat in den vergangenen 25 Jahren die Veröffentlichung genauer Zahlen schuldig: Bei der Wahl einer Verfassunggebenden Versammlung 2017 und beim Referendum über den Umgang mit dem völkerrechtlich umstrittenen Esequibo-Gebiet im vergangenen Dezember.

[2]    Das vom CNE nach 80 Prozent der Auszählung präsentierte erste Ergebnis in der Wahlnacht gab 51,2000 Prozent für Maduro und 44,2000 Prozent für González aus. Bei über zehn Millionen abgegebener Stimmen ist es mathematisch äußerst unwahrscheinlich, dass ein Ergebnis mit exakt einer Nachkommastelle herauskommt. Auch war das Ergebnis zu dem Zeitpunkt auch nicht «unumkehrbar». Die verbleibenden 20 Prozent der Stimmen hätten rechnerisch noch substantielle Änderungen bewirken können.