Nachricht | Geschichte Stratege, Netzwerker und Brückenbauer

Zum 100. Geburtstag des sozialistischen Intellektuellen Peter von Oertzen (1924–2008)

Peter von Oertzen beim außerordentlichen Parteitag der SPD in Bonn-Bad-Godesberg im Dezember 1971, Quelle: Archiv der FES

Repräsentative Funktionen in einer Volkspartei erfordern andere Qualitäten als die Aufgaben eines Universitätsprofessors. Das Amt eines Kultusministers und die Verpflichtungen eines Regierungsvertreters sind in aller Regel nicht zu vereinbaren mit einem Vertrauensverhältnis zu radikalen Linken. Und konservativ-adelige und bildungsbürgerlich-künstlerische familiäre Wurzeln prädestinieren nicht für eine Selbstverortung in der Tradition der sozialistischen Arbeiterbewegung. Peter von Oertzen hat jedoch versucht, diese Rollen und Denkwelten zumindest zeitweilig in sich zu vereinen. Anlässlich seines 100. Geburtstags am 2. September 2024 sollen hier einige übergreifende Entwicklungen und wiederkehrende Muster seines turbulenten politischen Lebens skizziert werden.

Bei von Oertzen kristallisierte sich früh ein identitäres Selbstverständnis heraus. Konstitutiv waren für ihn Aushandlungsprozesse zwischen verschiedenen Rollen. Das bildungsbürgerliche Umfeld seiner Mutter hatte den Glanz des 19. Jahrhunderts weitgehend verloren. Der Vater Friedrich-Wilhelm von Oertzen engagierte sich im nationalrevolutionären Tat-Kreis. Aufgrund der Trennung der Eltern war es für von Oertzen selbstverständlich, sich zwischen unterschiedlichen Lebenswelten zu bewegen. Nach einer reformpädagogischen Grundschule erfuhr er am Gymnasium eine leistungsorientiert-militaristische Erziehung. Die familiäre Distanz zum Nationalsozialismus begründete sich vor allem aus einem ausgeprägten Standesbewusstsein, von Oertzen hatte früh die Erwartung, einmal zur Elite zu gehören. Die Orientierung auf eine Offizierslaufbahn wurde jedoch durch die Kriegserfahrungen und Verwundungen an der Ostfront durchkreuzt. Der Verlust von Freunden und Verwandten und schließlich die militärische Niederlage brachten von Oertzens Weltsicht 1945 ins Wanken.

In dieser Situation orientierte er sich zunächst an der Ideologie des im Krieg verschollenen Vaters. Sie gab ihm die Möglichkeit, sich vom diskreditierten NS-System abzugrenzen und sich als idealistischer nationaler Sozialist zu definieren. Durch Lektüreerfahrungen, Zugeständnisse an den neuen demokratischen Zeitgeist und die Orientierung auf eine wissenschaftliche Karriere revidierte er seine Position in den folgenden Umbruchsjahren mehrfach.

Philipp Kufferath ist Historiker, Referent für Public Historyder Friedrich-Ebert-Stiftung und geschäftsführender Herausgeber der Zeitschrift «Archiv für Sozialgeschichte». 2017 erschien seine Studie Peter von Oertzen (1924-2008). Eine politische und intellektuelle Biografieim Wallstein Verlag. Eine englische Übersetzung erscheint 2025 bei Brill.

Zur Sozialdemokratie oder zur Arbeiterbewegung hatte von Oertzen bis dahin keinerlei Bezug. Das Auftreten Kurt Schumachersals führungsstarker Sozialist mit nationalen Werten, der die junge Generation von Schuldgefühlen entlasten wollte, eröffneten ihm eine neue Sicht: Er trat der SPD und dem SDS im November 1946 bei. Sein geistes- und sozialwissenschaftliches Studium an der Universität Göttingen wurde überwölbt von seiner Suche nach einer gesellschaftlichen Aufgabe. Dank seiner wissenschaftlichen Neugier machte er sich schnell mit den verschiedenen in der SPD kursierenden Traditionslinien des Sozialismus vertraut. Bald entdeckte er die Erklärungskraft des «authentischen» Marxismus für sich.

Von Oertzen innerhalb der SPD-Linken vor Godesberg

Seine politische Praxis im sozialdemokratischen Milieu war von Fremdheitserfahrungen und Konflikten begleitet. Erste Aktivitäten zeigten seine Befähigung zur argumentativen Überzeugung. Von Oertzen stieß jedoch an Grenzen, als er Anfang der 1950er-Jahre gesamtdeutsche Initiativen bewirbt, für eine Mobilisierung gegen die Wiederbewaffnung eintrat und eine lebendige innerparteiliche Streitkultur einforderte. Gleichzeitig strahlte er glaubhaft Lernbereitschaft aus.

Drei Entwicklungen bewirkten, dass von Oertzen zu einem zentralen Protagonisten innerhalb der SPD-Linken vor Godesberg avancierte. Durch seine Mitarbeit an der ZeitschriftSozialistische Politik kam er mit Gleichgesinnten und Mentoren in Verbindung. Der Austausch mit Siggi Neumannund Edu Wald, exponierte Vertreter des gewerkschaftlichen Zehnerkreises, eröffnete ihm eine reformistisch-pragmatische Perspektive auf Betriebsarbeit und Gewerkschaftspolitik. Als zweiter Faktor kam hinzu, dass von Oertzen 1955 überraschend in den Niedersächsischen Landtag gewählt worden war. Zusammen mit einigen Industriesoziologen und SDS-Mitgliedern erkannte er zudem den Bedarf nach einem Kreis an Vertrauten, um gemeinsame Vorstöße zu koordinieren. Mit diesen Erfahrungen konnte sich von Oertzen als Netzwerker und Brückenbauer anbieten, um die zerfaserten linken Strömungen zu einer konstruktiven Kritik am Godesberger Programm zu bewegen. Sein Scheitern auf dem Parteitag im November 1959 signalisierte ihm jedoch, dass eine Konfrontation mit dem SPD-Parteivorstand auf absehbare Zeit aussichtslos war.

Seine ständigen Rotationen zwischen Wissenschaft, Landtag, Netzwerkarbeit, SPD-Ortsverein und Familie brachten zahlreiche Rollenkonflikte mit sich. Von Oertzen begriff sich zunehmend als Stratege und Initiator, der die Fäden zwischen auseinanderdriftenden Akteuren und gesellschaftlichen Handlungsfeldern zusammenhalten wollte. Durch Rekurse auf libertär-rätedemokratische Traditionen der sozialistischen Arbeiterbewegung, die Rezeption der aufstrebenden Betriebs- und Industriesoziologie sowie eine Fokussierung auf Arbeitnehmermilieus und Gewerkschaften als politische Kraft gewann sein intellektuelles Profil an Tiefe. Die nach langen Mühen erfolgreiche Habilitation und die Berufung als Professor für Politikwissenschaften nach Hannover 1963 sowie seine intensive Beratungstätigkeit von IG Metall und IG Chemie-Papier-Keramik vermehrten vor allem in Niedersachsen sein soziales Kapital und erschlossen ihm neue Unterstützerkreise.


Zweiter Anlauf als Parteipolitiker

Seine Hoffnungen auf eine klassenkämpferische, betriebsnahe und partizipative Erneuerung der Gewerkschaftsbewegung wurden durch die korporatistische Realität der Wirtschaftswundergesellschaft ernüchtert. Als sich Mitte der 1960er-Jahre eine Belebung des linken SPD-Flügels ankündigte, wagte von Oertzen einen zweiten Anlauf als Parteipolitiker. Er definierte sich nun als linker Reformer, der das sozialistische Endziel zwar als perspektivischen Fluchtpunkt behielt, seine praktischen Schritte und programmatischen Vorschläge aber danach wählte, was sich innerhalb von zwei Jahrzehnten tatsächlich verwirklichen lassen könnte. Seine pragmatische Wende war jedoch nur deshalb erfolgreich, weil sich um 1968 eine politische Aufbruchsstimmung und Radikalisierung einstellten, die seinen Vorstellungen von Demokratisierung und Sozialreform Sagbarkeitsräume öffneten.

Von Oertzen stieg nun tief in die niedersächsischen Parteistrukturen ein. Seine erneute Wahl in den Landtag 1967 und der Einzug in den Fraktionsvorstand ebneten ihm den Weg, um den Machtkampf um den strategisch wichtigen Bezirksvorsitz Hannover gegen Egon Franke im April 1970 für sich zu entscheiden. Mit der Übernahme des niedersächsischen Kultusministeriums folgte im Juni 1970 eine bedeutsame Karrierestufe. Vor Oertzen war nun in institutionelle Logiken und einen rechtlichen Rahmen eingebettet und musste sich den Mehrheitsentscheidungen seiner Partei und der Kabinettsdisziplin unterwerfen. Seine bildungspolitische Agenda, die auf eine Modernisierung aller Bildungsinstitutionen, die Verbesserung von sozialer Chancengleichheit und demokratischer Teilhabe sowie eine pluralistisch-emanzipatorische Ergänzung von Forschungsfragen, Lehrinhalten und Didaktik zielte, war von einer optimistischen Planbarkeitshoffnung getragen. Die knappe sozialdemokratische Mehrheit in Niedersachsen bot von Oertzen bis 1974 die Möglichkeit, eine Reihe seiner Vorhaben in Gesetzesform zu gießen. Dabei musste er allerdings große Spannungen zwischen eigenen Überzeugungen, den offiziellen SPD-Positionen und der polarisierten öffentlichen Wahrnehmung aushalten und vermitteln, etwa bei der Umsetzung der Berufsverbote. Dies ging nicht ohne Widersprüche vonstatten. Die polemische Kritik der CDU-Opposition und von standesbewussten Ordinarien traf auf die radikale Unbedingtheit der studentischen Protestbewegung, sodass die SPD von zwei Seiten permanent unter Druck geriet.

Von Oertzens Vorstellungen von einer pluralistischen und toleranten Streitkultur trugen zu einem besseren Diskussionsklima innerhalb der zerstrittenen Partei bei. Der Frankfurter Kreis bot ihm die Möglichkeit, sich identitär innerhalb der Partei zu verorten und Initiativen der Parteilinken zu entwickeln. Die Jungsozialisten stellten ein zusätzliches Auffangbecken für radikale Ansätze dar, die mit der Doppelstrategie die Abgrenzung nach außen verschwimmen ließen. Dieser heterogenen SPD-Linken gelang es, ab 1973 eine angemessene Repräsentanz im Parteivorstand zu erreichen. Auch von Oertzen wurde nun für insgesamt 20 Jahre Mitglied im SPD-Parteivorstand. Während andere Sozialdemokraten seiner Generation in Bonn Regierungsämter übernehmen, entzog er sich jedoch bewusst weiteren Karrierestufen.

Linksreformismus als vermittelnde Integrationsformel

Durch die Abgrenzung von antiautoritär-linksalternativen, orthodox-kommunistischen und dogmatisch-maoistischen Strategien erschienen seine linksreformistischen Vorstellungen, die er häufig in marxistischem Vokabular präsentierte, in der SPD als eine vermittelnde Integrationsformel. So wuchs von Oertzen um 1974 in die Rolle eines ideellen Gesamtsozialdemokraten, der sich in die Bedürfnislagen und Denkhorizonte von Jungsozialisten bis Seeheimer Kreishineinzuversetzen versuchte und hierin seine Chance auf politischen Einfluss in der SPD begriff.

Die Programmkommission für den Orientierungsrahmen ’85, die von Oertzen als Vorsitzender zwischen 1973 und 1975 koordinierte, bündelte die auseinandergehenden Deutungen und gewährleistete auf diese Weise die Integrationsfähigkeit der SPD. Es gelang mit dem komplexen, mit überwältigender Mehrheit verabschiedeten Langzeitprogramm aber weder, Strahlkraft nach außen zu entwickeln, noch ein politikfähiges Verfahren zur Umsetzung zu etablieren.

Einen Tiefpunkt erlebte von Oertzen im Januar 1976, als die Neuwahl des Ministerpräsidenten überraschend misslang und Ernst Albrecht (CDU) für insgesamt 14 Jahre in die Niedersächsische Staatskanzlei einrückte. Bei seinem intellektuellen Spagat, einerseits der konservativen Offensive im Landtag sachlich entgegenzutreten und andererseits die Dialogfähigkeit mit der außerparlamentarischen Linken und den grün-alternativen Milieus zu erneuern, stieß er an Grenzen. Im Parteivorstand suchte von Oertzen in diesen Jahren selten die Konfrontation, sondern vermittelte zwischen den Fronten und warb für einen toleranten Umgang mit abweichenden Positionen, etwa gegenüber den Stamokap-Jusos. Beim NATO-Doppelbeschluss gehörte er mit dieser Haltung nicht zu den Meinungsführern, sondern steht zwischen Gegnern und Befürwortern.

Bis zum Verlust der Regierungsmehrheit auf Bundesebene im September 1982 hielt er an seiner Perspektive fest, registrierte aber zugleich extreme Spannungen und Konflikte innerhalb seiner Bezugswelten. Mit einem pragmatischen Ansatz, der auf eine Konsolidierung der Staatsfinanzen und der Sozialsysteme und eine sozial-ökologische Modernisierung der Gesellschaft setzte, versuchte er einen Fahrplan der SPD für die 1980er-Jahre zu formulieren. Noch kann sich von Oertzen auf eine Mehrheit innerhalb des Frankfurter Kreises stützen, die an einer nachfrageorientieren Steuerungspolitik festhalten will. Mit der Etablierung der Grünen kündigte sich zudem eine Verschiebung im parlamentarischen Kräfteverhältnis an. Der Koalitionswechsel der FDP machte jedoch eine derartige Perspektive vorerst zunichte.

Sein gleichzeitiges Ausscheiden aus dem Hochschuldienst, parlamentarischen Funktionen und einigen Parteiämtern eröffneten ihm im Alter von 60 Jahren die Gelegenheit, sein Selbstverständnis in einer Phase neu zu justieren, in der sich innerhalb der SPD wieder Räume für Grundsatzfragen ergaben. Gestützt auf die Debatten der sozialistischen Linken am Rand und außerhalb der Partei, die eine Rückkehr kapitalistischer Krisenhaftigkeit konstatierten und systemische Grenzen für staatliche Reformpolitik thematisierten, rückte von Oertzen nun wirtschaftspolitische Grundsatzfragen ins Zentrum seiner Aufmerksamkeit. Seine Autorität als Programmatiker gab ihm die Möglichkeit, bei offiziellen Anlässen und Erklärungen die Linie der SPD zu formulieren.

Er musste allerdings feststellen, wie sehr sich die programmatischen Angebote der Linken seit Anfang der 1970er-Jahre diversifiziert hatten. Marxistische Deutungsmuster und auf Umverteilung und Partizipation zielende wirtschaftspolitische Alternativen zum Kapitalismus waren in den 1980er-Jahren weder innerhalb der SPD noch in die mehrheitlich konservativ wählende Gesellschaft hinein durchsetzbar. Er traf nun auch innerhalb der Parteilinken auf gewichtige Gegenspieler. Erhard Epplerund Johano Strasserreflektierten Wachstumsskepsis und das gestiegene Bewusstsein für ökologische Fragen, Peter Glotzthematisierte die Tendenz zur Zwei-Drittel-Gesellschaft und die Notwendigkeit einer Europäisierung der Politik, Fritz Scharpfund Wolfgang Roth verwiesen auf die strukturellen Abhängigkeiten der deutschen Exportwirtschaft und Oskar Lafontaine polarisierte mit seinen Vorschlägen zur Arbeitszeitverkürzung und zur Flexibilisierung der Arbeit.

Sein intellektueller Bezugsrahmen wurde durch den Zusammenbruch der DDR vor eine weitere Belastungsprobe gestellt. Von Oertzen drängte auf eine oppositionelle Haltung gegenüber der Kohl-Regierung und thematisierte die mit einem Anschluss an die Bundesrepublik drohenden sozialen Verwerfungen in Ostdeutschland. Während er seine Vorstellungen eines libertär-rechtsstaatlichen Sozialismus und seine dezidierte Kritik am autoritären ostdeutschen Sozialismusmodell von der Geschichte bestätigt sah, erodierten um ihn herum linke Ideenwelten und Organisationen.

Von Oertzen drang kaum mehr als Vordenker der SPD durch. Seine Integrität half ihm aber, noch zur organisationspolitischen Erneuerung und Modernisierung der Partei beizutragen. Mit knapp 70 Jahren sah er jedoch 1993 die Zeit gekommen, sich aus dem Parteivorstand zu verabschieden. Er entwickelte nun neue Energien, um seine Positionen und Strategien einer jüngeren Generation zu vermitteln. Er entfaltete eine breit gestreute wissenschaftliche, publizistische und koordinierende Aktivität, die ihm noch einmal eine gewisse Anerkennung verschaffte.

Die marktliberale Wende der rot-grünen Bundesregierung ab 1999 stellte ihn vor die Grundsatzfrage. Er ging auf Distanz zur Neuausrichtung auf eine vage Neue Mitte, die sich für ihn in der Person Gerhard Schröders manifestierte. Immer offener thematisierte er die Notwendigkeit einer parteipolitischen Alternative. Seiner eigenen Partei billigte er keine Reformfähigkeit mehr zu. Vor dem Hintergrund seiner nachlassenden Gesundheit reagierte er emotional-impulsiv auf die Abkehr von Grundwerten und erklärte im März 2005 seinen Austritt aus der SPD. Seine Entscheidung war ein symbolischer Protest, da ihm andere Mittel der Politik nicht mehr zur Verfügung standen.

Zum Weiterlesen

  • Peter von Oertzen: Für einen neuen Reformismus. VSA-Verlag, Hamburg 1984.
  • Jürgen Seifert u.a. (Hrsg.): Soziale oder sozialistische Demokratie? Beiträge zur Geschichte der Linken in der Bundesrepublik ; Freundesgabe für Peter von Oertzen zum 65. Geburtstag. SP-Verlag, Marburg 1989.
  • Peter von Oertzen: Demokratie und Sozialismus zwischen Politik und Wissenschaft. Offizin-Verlag, Hannover 2004.