Nachricht | Cono Sur Die ausgepresste Stadt

Klimawandel und urbaner Extraktivismus

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Blick über Hochhäuser von Buenos Aires bei Sonnenuntergang.
Blick über Hochhäuser von Buenos Aires bei Sonnenuntergang. Foto: IMAGO / imagebroker

In Buenos Aires sind es die ärmsten Viertel, die regelmäßig am schwersten von Extremwetterereignissen getroffen werden. Dies ist Folge einer ungleichen Stadtentwicklung, die als «urbaner Extraktivismus» verstanden werden kann. Welche Alternativen gibt es zu diesem Entwicklungsmodell?  

Obwohl Lateinamerika und die Karibik nicht die Hauptverursacher der Klimakrise sind, gehören sie zu den Weltregionen, die schon jetzt am stärksten vom Klimawandel und extremen Wetterphänomenen betroffen sind. In einer Studie der Vereinten Nationen heißt es dazu:  «Zwischen 1998 und 2020 haben klimabedingte Ereignisse mehr als 312.000 Menschenleben in Lateinamerika und der Karibik gefordert und mehr als 277 Millionen Menschen betroffen». In diesem Zusammenhang wird geschätzt, dass in der Region 80 Prozent der durch Klimaereignisse verursachten Schäden in städtischen Gebieten entstehen. Besonders stark trifft es dabei gesellschaftlich benachteiligte Gemeinden, in denen die Menschen infolge des Klimawandels ihre Wohnungen verloren haben oder ihr Land unbewohnbar zu werden droht.

Wir befinden uns an einem entscheidenden Punkt, an dem sich die Wechselwirkungen zwischen Umweltkrise, sozialer Ungleichheit und räumlicher Ungerechtigkeit verdichten. Diese drei Phänomene können weder getrennt noch zusammen verstanden werden, ohne dass wir das vorherrschende Entwicklungs- und Stadtplanungsmodell in Frage stellen.

Urbaner Extraktivismus

Aus diesem Grund halten wir es für wichtig, das Konzept des «urbanen Extraktivismus» im Zusammenhang mit der Klimakrise in urbanen Gebieten zu diskutieren. Das Konzept erlaubt uns, die Zusammenhänge zwischen dem ökologischen Kollaps und der Vertiefung sozialer und geschlechtsspezifischer Ungleichheiten zu verstehen, die durch das kapitalistische Stadtmodell verursacht werden. Auch in den Städten entstehen «Opferzonen», also Gebiete, die durch die Industrie systematisch zerstört werden. Die Immobilienspekulation dringt in Naturschutzgebiete wie Feuchtgebiete ein und verwüstet ganze Landstriche, wodurch die prekäre Lage der bereits an den Stadtrand verdrängten Menschen weiter verschärft wird.

In der Tat lassen sich Parallelen zwischen den Formen des traditionellen Extraktivismus – etwa Mega-Bergbau, Monokultur und Fracking – und Dynamiken der neoliberalen Stadt, wie etwa der Immobilienspekulation ziehen. Dabei ähnelt sich nicht nur die Logik der verschiedenen Formen der Ausbeutung, sondern auch die Praktiken und die Folgen. Das Konzept des urbanen Extraktivismus kann helfen, die Probleme und Ungleichheiten in den Städten nicht als isolierte Probleme zu betrachten, sondern als Ergebnis eines spezifischen Entwicklungsmodells. 

Ursprünglich wurde der Begriff in Argentinien geschaffen, um ökologische und soziale Probleme sowie die Wohnraumfrage in Buenos Aires besser verstehen zu können. Er bietet sich aber auch darüber hinaus zur Analyse von Phänomenen an, die in allen lateinamerikanischen Großstädten auftreten: Etwa Immobilienspekulation, die unverhältnismäßige Vergabe öffentlicher Flächen an private Unternehmen, die voranschreitende Zementierung städtischer Grünflächen, das Fällen von Bäumen für neue Straßen, Gentrifizierung, die Zunahme gewaltsamer Vertreibung, die Wohnungskrise und auch die Zunahme immer verheerenderer Überschwemmungen. Das Konzept ermöglicht uns, diese Phänomene unter dem Blickwinkel des Wirtschaftsmodells zu betrachten, das sie aufrechterhält und hervorbringt.

In Anlehnung an Alberto Acosta verwenden wir den Begriff Extraktivismus, «wenn wir uns auf Aktivitäten beziehen, bei denen große Mengen natürlicher Ressourcen entnommen werden, die nicht oder nur wenig verarbeitet werden, insbesondere für den Export. Der Extraktivismus ist nicht auf Mineralien oder Erdöl beschränkt. Es gibt auch einen Extraktivismus in der Land- und Forstwirtschaft und sogar in der Fischerei.»

Der Immobilienmarkt hat die von Acosta beschriebene Art von Extraktivismus ermöglicht, bei dem städtische Gebiete zu einem Vermögenswert geworden sind, die sich durch Kapital in großen Mengen angeeignet werden. In diesem Sinne durchläuft die autonome Stadt Buenos Aires einen beschleunigten Prozess des extraktivistischen Modells, in dem große Unternehmen die von der Stadt erwirtschafteten Erträge einstreichen. Wir haben es also mit einer Form der territorialen Besetzung zu tun, die zu Immobilienspekulation, Vertreibung der Bevölkerung, Anhäufung von Reichtum, Aneignung von öffentlichem Eigentum, massiven Umweltschäden und institutionellem und sozialem Verfall führt. Analog zum Raubbau an den natürlichen Ressourcen erfolgt der Raubbau an Wohnraum.

Die aktuelle Situation ist die einer Stadt, die unter dem Vorwand der Entwicklung wirtschaftlich ausgepresst wird, was zu dramatischen territorialen und sozialen Ungleichheiten führt. Die Vertreibung der ärmsten Familien durch die wirtschaftliche Gewalt des Kapitalismus hinterlässt überall in der Stadt ihre Spuren, und die Auswirkungen der Klimakrise treffen die am meisten vernachlässigten Stadtviertel und Gemeinden von Buenos Aires noch härter.

Unerfüllte Grundbedürfnisse

Die Karte der unbefriedigten Grundbedürfnisse in Buenos Aires deckt sich mit der Karte der Stadtteile, die am stärksten von Klimaereignissen betroffen sind. Die einkommensschwachen Stadtteile sind einem höheren Klimarisiko ausgesetzt.  Dies ist auf die hohe Bevölkerungsdichte, die schlechte Belüftung der Häuser, den Mangel an grundlegender Infrastruktur und das Fehlen von Grünflächen zurückzuführen, was zu höheren Temperaturen und einem städtischen Wärmeinseleffekt beiträgt. Die Lage und die Bauweise dieser Stadtteile begünstigen auch Überschwemmungen bei Regenfällen. Die schweren Stürme im März 2024 hatten erhebliche Auswirkungen auf die Stadt Buenos Aires, den Großraum Buenos Aires und Teile der Provinz Buenos Aires. Vor allem die einkommensschwachen Viertel der Stadt waren aufgrund der strukturell mangelhaften Sanitärversorgung stark betroffen.

Doch nicht nur die Ärmsten leiden unter den Folgen des Klimawandels. In einer Stadt, die unter Asphalt erstickt, sinkt die Lebensqualität der gesamten Bevölkerung. In den letzten 15 Jahren sind mehr als 500 Hektar öffentliches Land verloren gegangen, das entspricht 500 Häuserblocks. Die neoliberale Immobilienexpansion zerstört Grünflächen, während die Stadt eine Krise des öffentlichen Raums erlebt, die sich durch eine ausgrenzende und privatisierende Stadtplanung verschärft. Das von der Stadt Buenos Aires vertretene Stadtentwicklungsmodell erlaubt den Bau von Hochhäusern mit einer Höhe von mehr als 100 Metern in Naturschutzgebieten, ohne eine Umwelt-verträglichkeitsprüfung durchzuführen.

Buenos Aires wird von der Regierung selbst als grüne Stadt beworben und ist dennoch eine der Städte Lateinamerikas mit den wenigsten Quadratmetern Grünfläche pro Einwohner. Im zentralen Korridor, der speziell für den Transportverkehr geplant wurde, gibt es die wenigsten verfügbaren Grünflächen. Da der motorisierte Verkehr für 29 Prozent der Treibhausgasemissionen in der Stadt verantwortlich ist, sollten in diesem Korridor die meisten Bäume gepflanzt werden, um die Treibhausgase zu filtern. Der Extraktivismus in Buenos Aires hat zu einem unwiederbringlichen Verlust von Grünflächen und Bäumen geführt.

Busse statt Bäume

Um nur ein Beispiel zu nennen: Im Jahr 2013 wurde der Bau von reinen Busspuren auf der Avenida 9 de Julio durchgeführt. Dafür wurden ohne Umweltverträglichkeitsprüfung mehr als 1.200 Bäume verschiedener Arten gefällt, viele davon über 40 Jahre alt. Neben dem Verlust von Nistplätzen für Vögel wurden auch wichtige Grünflächen für die Temperatur- und Feuchtigkeitsregulierung, die Sauerstoffproduktion und die Schadstofffilterung geopfert. Zudem bedeutet die Abholzung den Verlust von wichtigen Regenwasserfiltern und -rückhalteflächen, die die Auswirkungen und Risiken von Überschwemmungen verringern.

Klimaereignisse in Argentinien und Uruguay

April 2023 Die Stadt Buenos Aires und der Conurbano von Buenos Aires, das Gebiet rund um die Stadt, sind in starkem Rauch und Brandgeruch eingehüllt. Die Gesundheitsbehörden empfehlen das Tragen einer Maske, um Atemwegserkrankungen zu vermeiden.

August 2023 Nach drei Dürrejahren in Folge befindet sich Uruguay auf dem Höhepunkt seiner Wasserkrise. Wochenlang badeten, kochten und tranken die Einwohner von Montevideo, der 200 km von Buenos Aires entfernten Hauptstadt Uruguays, ihren Mate mit Salzwasser, weil es schwerwiegende Probleme mit der Trinkwasserversorgung gab.

Februar 2024 Der tödlichste Waldbrand der Geschichte Argentiniens kostete 123 Menschen das Leben und zerstörte rund 6.000 Häuser. Die Brände ereigneten sich während einer Hitzewelle, einer Dürre und einer Episode starker Winde, die durch eine Kombination aus El Niño und dem Klimawandel ausgelöst wurden.

März 2024 Erneutes Chaos in der Metropolregion Buenos Aires aufgrund extremer Regenfälle. Tausende beschädigte Häuser und Güter, ganze Stadtteile im Ausnahmezustand und 120.000 Menschen ohne Strom.

Mai 2024 Weniger als ein Jahr nach der großen Dürre muss Uruguay aufgrund von Überschwemmungen mehr als 2.500 Menschen evakuieren.

Während Städte in anderen Teilen der Welt rasch Maßnahmen und Strategien zur Anpassung an den Klimawandel einführen, versäumt es die Regierung in Buenos Aires weiterhin, das Problem ernsthaft anzugehen, und scheint die strategische Bedeutung des städtischen Umweltschutzes in Zeiten der Klimakrise zu ignorieren. Für die Investitionen des Finanzkapitals in der Stadt wird alles geopfert. Durch den urbanen Extraktivismus hat Buenos Aires an Absorptionsfähigkeit, Feuchtgebieten, Schmetterlingen, Vögeln, Sauerstoff und Schatten verloren. Vor dem Hintergrund steigender Jahreshöchsttemperaturen sind die Bürger*innen unerträglichen Hitzewellen und neuen Epidemien ausgesetzt.

Im Jahr 2024 kam es zum größten Dengue-Ausbruch in der argentinischen Geschichte, ein Phänomen, das in direktem Zusammenhang mit dem Temperaturanstieg und den extremen Regenfällen steht. In der Stadt Buenos Aires wurden die meisten Fälle registriert. Diese Epidemie und die Zahl der Menschen, die von den exponentiell zunehmenden Regenfällen betroffen sind, scheinen eine Warnung für die Stadtregierung gewesen zu sein, die im April zum ersten Mal ein Klimakabinett eingerichtet hat, um einen Plan zur Abschwächung und Anpassung an die globale Erwärmung auszuarbeiten, die Buenos Aires immer häufiger und heftiger trifft.

Ein Klimaschutzplan für die Stadt

Buenos Aires hat nun einen Klimaschutzplan für 2050, der Vorschläge für große Infrastrukturmaßnahmen bis hin zu Frühwarn- und Schutzmaßnahmen, zum Beispiel für extreme Stürme oder Hitzewellen, enthält. Im Bereich Mobilität sind bis 2030 15 neue Fußgängerzonen und 48 Begegnungsstraßen sowie Maßnahmen zur Förderung des Radverkehrs vorgesehen. Ziel ist es, in den nächsten Jahren eine Million Radfahrten pro Tag zu erreichen. Außerdem sollen bis 2050 100 Prozent der Busse mit emissionsfreier Technologie ausgestattet sein.

Bis 2050 sollen 80 Prozent der Wohngebäude saniert und 30 Prozent der Dächer mit Photovoltaikanlagen ausgestattet werden. Bis 2025 sollen 100 Prozent der öffentlichen Gebäude energetisch saniert sein und 100 Prozent der Stadtviertel über Gärten zur Wassergewinnung und Nahrungsmittelproduktion verfügen.

Derzeit liegen einige Pläne noch in weiter Ferne, während andere mit größerer Wahrscheinlichkeit umgesetzt werden können. Das Ausmaß der Klimakrise erfordert jedoch dringend die Umsetzung eines anderen Entwicklungs- und Stadtplanungsmodells, das die Städte wirksam stärkt und echte Gleichheit schafft, um die schwächsten und am stärksten gefährdeten Bevölkerungsgruppen vor den Auswirkungen dieser Krise zu schützen.

Alternativen zum patriarchalischen Entwicklungsmodell

Städte, die nach dem Modell des urbanen Extraktivismus geplant werden, sind Ausdruck kapitalistischer und vorwiegend patriarchaler Bedürfnisse, Wünsche und Werte. , Ein Zusammenschluss von Architektinnen, Soziologinnen und Stadtplanerinnen der sich mit Stadtplanung aus der Genderperspektive beschäftigt, hat festgestellt, dass  Städte nach Kriterien geplant und gebaut werden, die als abstrakt, neutral und normal gelten, die aber sehr spezifische Erfahrungen berücksichtigen: die einer männlichen Minderheit mittleren Alters, die heterosexuell ist, einen festen Arbeitsplatz hat und deren Reproduktionsaufgaben auf unsichtbare Weise gelöst werden.

Aus diesem Grund wurden Städte bisher nach der Logik der Produktion und der wirtschaftlichen Entwicklung geplant. Eine Stadtplanung aus öko-feministischer Perspektive kann dieses Paradigma durchbrechen, indem sie Städte vorschlägt, die im Hinblick auf den Menschen und somit auf die Reproduktion und Verbesserung der Lebensbedingungen aller entworfen werden. In diesem Rahmen und im Gegensatz zum gegenwärtigen Modell hat der Feminismus konkrete Vorschläge, um zum Aufbau egalitärer Städte beizutragen. Dabei geht es nicht nur um städtische Anpassungen, um Probleme zu lösen, die ausschließlich Frauen, Mädchen oder marginalisierte Gruppen betreffen. Es geht vielmehr darum,  die Logik der Reproduktion und der Fürsorge als Achsen der Stadtplanung integrieren, um die Städte menschlicher und lebenswerter zu machen und zugleich Ungleichheiten und die Reproduktion der gesellschaftlich auferlegten Geschlechterrollen zu überwinden. Hier liegt das Potential und die Notwendigkeit, ökofeministische Stadtplanung als Instrument zur Bewältigung der Klimakrise in die Stadtplanung zu integrieren.