Nachricht | Migration / Flucht - Europa - Libanon / Syrien / Irak EU: Abschottung um jeden Preis

Migrationsabkommen mit EU-Anrainerstaaten im Mittelmeerraum stellen Abschreckung über Menschenrechte

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Autorin

Lama Ghandour,

Flüchtlingslager Yasmine im Bekka-Tal im Libanon, 11. Dezember 2021
Der Libanon darf nicht zu einer alternativen Bleibe für syrische Geflüchtete werden, die eigentlich nach Europa gelangen wollten, fordern verantwortliche libanesische Politker*innen. Flüchtlingslager Yasmine im Bekka-Tal im Libanon, 11. Dezember 2021, Foto: IMAGO / Agencia EFE

Die Europäische Union hat sich lange Zeit als Bastion für Menschenrechte und Demokratie sowie als Verteidigerin von Personen präsentiert, die von autoritären Regimen im globalen Süden unterdrückt werden. Doch mit dem Rechtsruck, der sich derzeit in vielen Mitgliedstaaten vollzieht, tritt auch das europäische Engagement für den Schutz und die Förderung der Menschenrechte immer weiter in den Hintergrund, insbesondere was die Rechte von Migrant*innen und Geflüchteten betrifft.

Angesichts der wachsenden Einwanderung von Geflüchteten, der durch die anhaltenden Konflikte in Syrien und Sudan sowie Spannungen in Subsahara-Afrika ausgelöst wird, stärkt die EU zunehmend ein Grenzregime, das Migrant*innen fernhalten und so auf europäischem Territorium geltende rechtliche Verpflichtungen umgehen soll. So zum Beispiel das Recht auf Asyl und Non-Refoulement, nach dem niemand in ein Land abgeschoben werden darf, in dem Menschen Folter, Misshandlungen oder anderen schweren Menschenrechtsverletzungen ausgesetzt sind.

Lama Ghandour arbeitet als Programmmanagerin für Migration und Feminismus im Regionalbüro Beirut der Rosa-Luxemburg-Stiftung.

Eine zentrale Komponente dieses Grenzregimes besteht darin, die Vollstreckung dieser Politik mittels sogenannter «Migrationsabkommen» in diverse Länder im Mittelmeerraum auszulagern, darunter auch den Libanon. Ungeachtet alarmierender Berichte und gravierender Verstöße gegen die Menschenrechte von Geflüchteten im Libanon hat die EU im Mai 2024 ein neues Hilfspaket in Höhe von einer Milliarde Euro bereitgestellt, mit dem das Migrationsmanagement der libanesischen Regierung unterstützt werden soll. Im Gegenzug hilft der Libanon der EU, sich aus der Verantwortung zu ziehen, der sie gemäß der Genfer Konvention und sogar gemäß ihrer eigenen Richtlinien für den Umgang mit Migrant*innen und Geflüchteten unterliegt.

Hilfeleistungen: ein politisch motivierter Verpackungswechsel

Im Rahmen der achten Brüsseler Konferenz – einer jährlichen Tagung der Europäischen Union mit dem Ziel, «die Zukunft Syriens und der Region» zu fördern – hat die EU ein auf drei Jahre angelegtes Hilfsprogramm für den Libanon angekündigt. Der Deal wurde als neues Migrationsabkommen ausgegeben. Laut Hussam Baravi, dem leitenden Programmmanager im Syrien-Projekt der Friedrich-Ebert-Stiftung, verpackt diese Initiative lediglich Hilfsleistungen neu, die dem Land zur Bewältigung der syrischen Flüchtlingskrise bereits zuvor zur Verfügung gestellt worden waren. Die Präsidentin der EU-Kommission Ursula von der Leyen wählte den Zeitpunkt dafür strategisch so, dass sie vor den Europawahlen als Hardlinerin in der Migrationsfrage auftreten konnte.

Libanesische Politiker*innen machen regelmäßig Stimmung gegen syrische Geflüchtete im Land und ziehen sie als Sündenböcke für die libanesische Wirtschaftskrise heran. Die oft mit diesem Narrativ einhergehenden fremdenfeindlichen Kampagnen und Gewaltausbrüche gegen Geflüchtete, sollen die EU dazu bewegen, die finanziellen Hilfen auszuweiten. Tendenziell flauen die Provokationen und die Gewalt wieder ab, sobald dem Druck nachgegeben wurde. So auch in diesem Jahr. Allerdings gab die zunehmende Feindseligkeit gegenüber syrischen Geflüchteten, die mit Abschiebungen, willkürlichen Festnahmen und gewaltvollen Übergriffen einherging, auch Anlass, das EU-Abkommen erneut auf den Prüfstand zu stellen.

Unter libanesischen Politiker*innen waren die Reaktionen auf das Abkommen gemischt. Premierminister Nadschib Miqati begrüßte es, beharrte allerdings auch darauf, dass der Libanon nicht zu einer alternativen Bleibe für syrische Geflüchtete werden dürfe, die eigentlich nach Europa gelangen wollten. Andere sahen in dem Deal eine Form der politischen Manipulation oder einen Bestechungsversuch. Hisbollah-Anführer Hassan Nasrallah forderte offene Seewege, auf denen Geflüchtete direkt nach Europa gelangen könnten. Eine ähnliche Einstellung vertreten auch die Forces Libanaises, eine rechtsgerichtete christliche Partei, die in den Geflüchteten eine kulturelle und wirtschaftliche Bedrohung sieht und sich für deren Rückführung in sogenannte «Sicherheitszonen» innerhalb Syriens einsetzt. Diese Lösung sei nachhaltiger und solle den Libanon entlasten.

Von der Leyen wiederum würdigte die Herausforderungen, denen sich das Land bei der Bewältigung der großen Flüchtlingszahlen stelle, und betonte die Notwendigkeit, «an einem strukturierteren Ansatz für die freiwillige Rückkehr nach Syrien zu arbeiten». Gleichzeitig engagieren sich sieben europäische Länder für die Begutachtung und Festlegung sicherer Gebiete in Syrien, um die freiwillige Rückkehr zu ermöglichen.

Wie sicher ist Syrien wirklich?

Die Diskussion rund um die «Sicherheitszonen» in Syrien bleibt kontrovers. Auch wenn der Diktator Baschar al-Assad zurückkehrenden Geflüchteten Sicherheit verspricht, lassen die schweren Menschenrechtsverletzungen, die seit der Amtszeit von Assads Vater ungebrochen andauern, ernste Zweifel an seinen Zusagen aufkommen. Über zehn Jahre nach dem Ausbruch des syrischen Bürgerkriegs weisen zahlreiche Berichte darauf hin, dass massenhafte Kriegsverbrechen, Folter mit Todesfolge, Verschleppungen und willkürliche Festnahmen unter Assads Regime bis heute fortwähren.  

Auch die jüngsten Ereignisse belegen, dass die Bedingungen für Geflüchtete, die freiwillig oder gezwungenermaßen nach Syrien zurückkehren, nicht sicher sind. Ein Bericht von Human Rights Watch vom April 2024 führt verschiedene Verstöße gegen die Rechte syrischer Geflüchteter im Libanon an, insbesondere massenhafte, rechtswidrige und unfreiwillige Rückführungen durch das libanesische Militär. So wurde zum Beispiel Rafaat Falih, ein syrischer Deserteur, im Januar 2024 gegen seinen Willen abgeschoben und ist seit seiner Festnahme durch das syrische Militär verschwunden. Bis heute ist seine Familie nicht in der Lage, seinen Aufenthaltsort zu ermitteln. Auch Ahmad Adnan Shamsi al-Haydar wurde gegen seinen Willen abgeschoben und nach seiner Ankunft in Syrien festgenommen und zu Tode gefoltert. Zahlreiche Berichte haben Hunderte solcher unfreiwilligen Rückführungen dokumentiert. Aya Majzoub von Amnesty International hält daher fest, dass sich «Menschenrechtsorganisationen einig sind: In Syrien sind zurückkehrende Geflüchtete nirgendwo sicher».

Die Rede über vermeintliche «Sicherheitszonen» in Syrien wurde mitunter als Ablenkungsmanöver kritisiert, wie eine Quelle aus den Reihen des Access Center for Human Rights (ACHR) bemerkte, die aus Sicherheitsgründen anonym bleiben wollte. Ihrem Bericht zufolge habe man bereits 2017 das erste Mal versucht, solche «Sicherheitszonen» einzurichten. Der Vorschlag sei vorerst gescheitert, da es weder einen strukturierten Plan, noch einen Zeitrahmen oder Rücksprachen mit direkt involvierten Ländern wie der Türkei und dem Libanon gegeben habe. Zudem setze die Einrichtung solcher «Sicherheitszonen» Zusammenarbeit und rechtliche Abkommen zwischen der syrischen Regierung, dem Flüchtlingshilfswerk der Vereinten Nationen (UNHCR) und weiteren Organisationen voraus – ein Szenario, das Baschar al-Assad allein schon deswegen ablehne, weil er nicht gewillt sei, die Kontrolle über bestimmte syrische Gebiete an internationale Organisationen abzugeben.

Assad zeigt kaum Interesse daran, die Rückkehr syrischer Geflüchteter zu ermöglichen. Denn da unter den Geflüchteten auch viele Regimegegner*innen sind, könnte eine solche Maßnahme seine Machtposition untergraben. Assad scheint also strategisch darauf abzuzielen, die Kontrolle über die Situation zu behalten und demografischen Veränderungen vorzubeugen, die seine Herrschaft möglicherweise unterminieren könnten. Berichten zufolge hat sich sein Regime nicht nur geweigert, syrische Geflüchtete aus dem Libanon aufzunehmen, sondern die abgeschobenen Syrer*innen mitunter sogar wieder in den Libanon zurückgeführt.

Dass die Hisbollah die libanesisch-syrische Grenze kontrolliert und legale und illegale Einreisen von Geflüchteten aus Syrien ermöglicht, ist allgemein bekannt. Dass aber die Miliz darüber hinaus auch bei der Rückabschiebung syrischer Geflüchteter aus Syrien wegschaut, verschärft die Notlage dieser Menschen nur weiter. Hinzu kommt, dass Geflüchtete laut Angaben unserer Quelle im ACHR nach ihrer Rückkehr von Schlepper*innen und Menschenhändler*innen ausgebeutet werden.

Wenn syrische Geflüchtete aus dem Libanon abgeschoben und an die syrischen Behörden übergeben werden, haben sie je nach Alter und Geschlecht drei Optionen: Sie werden entweder festgenommen, müssen den obligatorischen Militärdienst leisten oder zwischen 1.500 bis 3.000 US-Dollar an Schlepper*innen zahlen, um wieder in den Libanon zurückkehren zu können. Ihre Rückkehr in den Libanon wird von den Grenzsicherheitskräften, die der Hisbollah unterstehen, nicht verhindert.

Ein doppeltes Spiel

Die Einstellungen libanesischer Politiker*innen zum Migrationsabkommen variieren, allerdings sind sich die Meisten darin einig, dass die Geflüchteten entweder nach Syrien oder in die EU geleitet, aber nicht im Libanon angesiedelt werden sollen.

Angesichts der engen Beziehungen zwischen Hisbollah-Führer Hassan Nasrallah und dem Assad-Regime stellt sich die Frage, warum die Miliz die Rückkehr von Geflüchteten nach Syrien ermöglicht, wenn Assad selbst so wenig Interesse an deren Aufnahme zeigt. Baravi ist der Ansicht, Nasrallah wolle damit das Assad-Regime auf der internationalen Bühne rehabilitieren, was bisher durch diverse Sanktionen und die diplomatische Ächtung Syriens erschwert wurde. Ein weiteres Druckmittel Nasrallahs ist die Drohung, Fluchtwege nach Europa zu erleichtern, was die meisten EU-Staaten vehement ablehnen.

Dabei unterscheiden sich die jeweiligen Beweggründe innerhalb des politischen Führungspersonals des Landes. Nach der verheerenden Wirtschaftskrise 2019, die durch das wirtschaftspolitische Unvermögen der libanesischen Regierung nur noch weiter verschärft wurde, begannen viele Politiker*innen, syrische Geflüchtete als Sündenböcke heranzuziehen, um das Vertrauen der Bevölkerung wiederzugewinnen. Diese Hassrede verbreitete sich nicht zuletzt mittels sozialer Medien und führte zur Verschärfung diskriminierender Praktiken, während die Regierung ihre Abschiebepraxis nach Syrien wiederaufnahm und weitere repressive Maßnahmen ergriff, zum Beispiel willkürliche Festnahmen und Schließungen von Geschäften, die von Geflüchteten betrieben wurden.

Issam Sbat, Anwalt am Centre Libanais des Droits Humains (CLDH), ist davon überzeugt, dass die libanesische Regierung die migrationsfeindliche Stimmung für ihre eigenen Interessen manipuliert. Er weist darauf hin, dass die libanesische Regierung seit 2011 in erheblichem Maße von den EU-Mitteln für Geflüchtete profitiert hat. Die Gelder hätten in zentralen Bereichen wie dem Bildungs- und Gesundheitswesen sowie den Sicherheitsorganen den Betrieb aufrechterhalten und Tausende Arbeitsstellen für arbeitslose libanesische Bürger*innen geschaffen. Paradoxerweise hat die Präsenz syrischer Geflüchteter im Libanon das Land vor einem noch verheerenderen wirtschaftlichen Verfall gerettet und der politischen Klasse des Landes gute Geschäfte beschert.

Europas Mitschuld

Dem jüngsten Abkommen der EU mit dem Libanon mangelt es an Transparenz. Es ist wenig darüber bekannt, wie die Gelder im Einzelnen zugewiesen werden und auch die Erklärung der EU zu diesem Thema bleibt vage. Während die Mittel mutmaßlich eine bessere Grundversorgung und wirtschaftliche Reformen ermöglichen sollen, werden damit auch die Fähigkeiten der libanesischen Streitkräfte und Sicherheitsbehörden ausgebaut, die Grenzen zu sichern und Schlepper*innen zu bekämpfen.

Für Perla Khaled, Fürsprache- und Kommunikationsreferentin im CLDH, geht das Abkommen nicht ausreichend auf die schwierige Menschenrechtssituation syrischer Geflüchteter in Libanon ein. Es beinhaltet keine Schutzklauseln, um gegen anhaltende Menschenrechtsverletzungen wie zum Beispiel Zwangsrückführungen, Gewalt oder Verstöße gegen das Non-Refoulement-Prinzip vorzugehen. Stattdessen weitet der Deal die Unterstützung für Libanons korrupten Militärapparat aus, den die internationale Gemeinschaft in den letzten Jahren nur zögerlich finanzieren wollte, da es an umfassenden Reformen und Antikorruptionsmaßnahmen mangelt.

Der EU zufolge sollen Abkommen mit Staaten wie dem Libanon die Migrationskrise handhabbar machen. Durch die Befürwortung von «Sicherheitszonen» in Syrien, wie sie von der Leyen vorschlägt, macht sich die EU allerdings mitschuldig an Menschenrechtsverstößen gegen Geflüchtete, sowohl in Syrien als auch im Libanon. Migration nach Europa um jeden Preis zu verhindern scheint immer mehr das vorrangige Ziel der EU zu sein. Darauf lassen auch die finanziellen Anreize schließen, die die EU ihren Nachbarländern im Mittelmeerraum setzt, damit sie der Ankunft der Flüchtlingsboote an europäischen Küsten zuvorkommen. Den Preis dafür werden Millionen Syrer*innen zahlen, die für ein demokratisches Syrien gekämpft haben und letzten Endes fliehen mussten.

Versäumt es die EU, die Verantwortung für Menschenrechtsverstöße gegen Migrant*innen in ihren Partnerländern zu übernehmen, werden solche Verstöße in Zukunft noch weiter zunehmen. In Zeiten, in denen Europa stetig nach rechts driftet, bleibt nur die Hoffnung, dass eine starke Zivilgesellschaft und eine Linke entstehen werden, die diese Doppelmoral entlarven und für nachhaltige, humane Lösungen der Migrationskrise kämpfen.

  
Übersetzung von Charlotte Thießen und Maximilian Hauer für Gegensatz Translation Collective.