Die «unreife» Masse

Rosa Luxemburg am 3. Dezember 1918

Am vergangenen Donnerstag [28. November 1918] fand in Berlin im Reichstagsgebäude eine Sitzung der Soldatenräte statt. Es ist in ihr stürmisch zugegangen. Eine am Tage zuvor konstituierte konterrevolutionäre Clique, die sich um den Oberleutnant Waltz scharte - Herr Oberleutnant Waltz hat selbst bekannt, daß er sich an den Vorbereitungen der Revolution beteiligt habe, um dem Generalkommando Mitteilung zugehen lassen zu können – , trat geschlossen mit guter Regie auf und suchte die Revolution durch Aufwand starker Stimmittel totzumachen. Das ist ihr nicht gelungen. Nach langen Lärmszenen löste sich die Versammlung auf mit einem nahezu einstimmigen Kompromißantrag — vielleicht das einzige Kompromittierende in dieser ganzen Sitzung.

     Denn es ist nichts natürlicher, als daß in Zeiten der Revolution die politische Erregung und Ergriffenheit sich in lauten Formen äußert. Mögen rote Köpfe nicht das höchste Produkt der politischen Erziehung eines Volkes sein, so sind sie doch ein höheres als die halbgeschlossenen Lider des «alten und verdienten Parteigenossen», der am Zahlabend in den Geschäftsbericht des vorgesetzten Parteisekretärs selig hineinschlummert.

     Wir haben daher gegen die Erregung und das wilde Pathos der Massen nichts gesagt, auch dann nicht, als in jener ersten Vollsitzung der Arbeiter-und Soldatenräte im Zirkus Busch sich all die Erregung gegen uns wandte, als die Soldaten das Gewehr auf den Genossen Liebknecht anlegten. Wir bekämpften die, deren schäbige Demagogie den himmelstürmenden Willen der Massen in falsche Bahnen lenkten; wir versuchten und versuchen, den Massen die klare Erkenntnis ihrer Lage und ihrer Ziele zu geben, ihnen aber all ihre Begeisterung und ihren Sturm und Drang zu lassen für die gewaltigen Aufgaben, die sie lösen sollen. Wir halten es mit dem Worte, daß man die großen Dinge nur mit Begeisterung vollbringen könne.

     Dem «Vorwärts» gefiel es anders. Da sitzt ein Redakteurchen irgendwo in einem Schreibsessel der «Vorwärts»-Redaktion und fragt im Tone des Biedermannes, der allen Roßtäuschern eigentümlich ist: «Hand aufs Herz! Glaubt Ihr, daß eine Versammlung wie die gestrige berufen und imstande ist, über die Geschicke unseres Volkes ein entscheidendes Wort zu sprechen?»

     Nachdem mit dieser rhetorischen Frage der Versammlung das Urteil gesprochen worden ist, versäumt der «Vorwärts» nicht, seine alten Hebammenmittelchen in empfehlende Erinnerung zu bringen. Da ist erstens: Regel und Ordnung. Nachdem alle Spenden dieser segensreichen Himmelstochter gebührend gepriesen sind, wird das zweite Rezept verabreicht: politische und parlamentarische Schulung.

     Wir haben die erfreulichen Früchte der politischen und parlamentarischen Schulung für die Arbeiterklasse schon zu oft geschildert, als daß wir sie heute wieder abmalen wollten — man schaue auf die «revolutionären» Errungenschaften dieser sozialistischen Regierung in drei Wochen Revolution, und man sehe auf die von Herrn Ebert, dem «politisch und parlamentarisch Geschulten», vollbrachten Taten in seinem Handel mit Wilson.1 Da hat man der «politischen und parlamentarischen Schulung» genug.

     Aber der «Vorwärts» hat nicht genug. Die eine Versammlung der Soldatenräte in Berlin, die seinem «politisch und parlamentarisch geschulten» Geschmack nicht zusagt, gibt ihm die Veranlassung, den Fall ins allgemeine zu ziehen und weiter zu folgern: «Hat man Vorgänge wie die gestrigen erlebt, so begreift man aufrichtig, was für ein niederträchtiger Volksbetrug die von Narren gerühmte russische Sowjetregierung ist. Unsere Arbeiter und Soldaten sind — das darf wohl ohne nationalistische Überhebung ausgesprochen werden — den russischen an allgemeiner Bildung und politischer Schulung turmhoch überlegen. Wenn das System der Räteverfassung bei uns scheitert, so ist das der beste Beweis dafür, daß auch in dem gebildetsten und intelligentesten Volk dieses System undurchführbar ist, weil es eben eineinnere Unmöglichkeit› ist.» Womit also, «ohne nationalistische Überhebung», zwei Feststellungen getroffen sind: 

     einmal, daß die deutschen Arbeiter und Soldaten den russischen an allgemeiner Bildung und politischer Schulung turmhoch überlegen sind;

     dann, daß das ganze System nicht durchführbar ist, an einer inneren Unmöglichkeit leidet, weil auch des gebildetsten und intelligentesten Volkes Bildung und Intelligenz nicht hinreicht, und all dies führt ihn dann zu einer dritten Feststellung: «Rettung aus diesem Tohuwabohu bringt nur die Konstituierende Nationalversammlung.»

     Das eine ist an alledem richtig. Das deutsche Volk hat im Durchschnitt länger die Schule besucht, besser schreiben und besser Kopfrechnen gelernt als das russische. Es hat daneben — eine der Grundlagen für die «politische und parlamentarische Schulung» — ebenfalls länger als das russische Religionsunterricht und patriotischen Geschichtsunterricht genossen und ist dann in der Hochschule «politisch-parlamentarischer Schulung», bei der deutschen Sozialdemokratie, in die Lehre gegangen. Diese Lehrmeisterin hat es geheißen, den schamlosesten Raubkrieg der Welt für eine Verteidigung gegen einen «schmählichen Überfall» zu halten, die bedrohten Kassenschränke der Kapitalisten für «Haus und Hof», den Raub von Belgien und Nordfrankreich für «unsere gerechte Sache» und die Ermordung seiner proletarischen Brüder in Finnland, in der Ukraine, in Livland, Estland, in der Krim für einen Kampf um «Ordnung und Regel».

     Der ganze Sinn dieser Revolution ist das wilde Aufbäumen der Massen gegen diese Ergebnisse der «parlamentarischen und politischen Schulung», der Schule wie der Schulmeister, und schon ist der «Vorwärts» bei der Hand, sie von neuem in die Schule zu nehmen mit der «Konstituierenden Nationalversammlung».

     Gewiß, da kamen sie alle wieder, die «politisch und parlamentarisch geschulten» Herren, die Westarp und die Erzberger, die Stresemann und die Gröber, die Payer und Haußmann, alle die Erben einer durch Jahrhunderte in der Bourgeoisie erworbenen Kunst, das Volk zu betrügen. Und mit ihnen kamen die Scheidemann und die Ebert, David und Lensch, die es jenen abgeguckt haben, wie sie sich räuspern und wie sie spucken. Sie kamen alle miteinander wieder und würden ihr Gewerbe des Volksbetruges fortsetzen, das sie zuletzt in vier Kriegsjahren mit grauenhafter Virtuosität ausübten und das ein Ende fand auf den blutigen Schlachtfeldern in Frankreich und in der ersten Massentat der deutschen Arbeiter und Soldaten.

     Mit dem Streich, den der «Vorwärts» hier geliefert hat, stellt er sich würdig an die Seite seines Herrn Friedrich Ebert: Hat jener versucht, die Revolution mit Herrn Wilson Hand in Hand durch Hunger körperlich zu töten, so sucht der «Vorwärts» sie geistig zu meucheln, indem er vor den Massen jene eherne Tafel wieder aufrichtet, die die Bourgeoisie und jede herrschende Klasse seit Jahrtausenden den Unterdrückten entgegenhielt und auf der geschrieben stand: «Ihr seid nicht reif; ihr könnt es nie werden, eine ‹innere Unmöglichkeit›; ihr brauchet Führer; die Führer sind wir.»

     Sie haben sich jetzt glücklich zur Staatsphilosophie der Reaktionäre aller Zeiten und Länder hinüberentwickelt, und dieses Schauspiel wird nicht gefälliger dadurch, daß derselbe «Vorwärts», just zwölf Stunden, nachdem er in einem Leitartikel das geistige Hintersassentum der Massen «philosophisch» für eine Ewigkeitserscheinung erklärt hat, in einem demagogischen Gezänk gegen ein Vollzugsratmitglied an Scham, Ehre und Gewissen appelliert, weil dies davon gesprochen habe, «die Massen seien noch nicht reif», und daß der «Vorwärts» demselben Soldatenrat, wiederum einen Tag später, das Zeugnis der Reife ausstellt, weil er einen Beschluß gefaßt hat, der dem «Vorwärts» in den Kram paßt. Seine, des «Vorwärts» Schamlosigkeit wird durch die Heuchelei nicht besser.

     Kein Proletariat der Welt, auch nicht das deutsche, kann die Spuren einer jahrtausendelangen Knechtung von heute auf morgen, die Spuren der Fesseln, die die Herren Scheidemann und Konsorten an sie gelegt, im Umdrehen beseitigen. Sowenig wie die politische hat die geistige Verfassung des Proletariats am ersten Tage der Revolution ihren höchsten Stand. Erst die Kämpfe der Revolution werden in jedem Sinne das Proletariat zur vollen Reife erheben.

     Der Beginn der Revolution war das Zeichen, daß jener Reifeprozeß beginnt. Er wird rasch fortschreiten, und der «Vorwärts» hat einen guten Maßstab, an dem er den Eintritt der Vollreife feststellen kann. An dem Tage, an dem seine Redakteure von ihren Sitzen und nebst Herrn Scheidemann, Ebert, David und Konsorten dahin fliegen, wo der Hohenzoller oder wo Ludendorff sitzt — an dem Tage ist die Vollreife eingetreten.


1 Friedrich Ebert hatte durch eine Depesche die Regierung der USA veranlaßt, amerikanische Lebensmittellieferungen nur unter der Bedingung anzusagen, daß in Deutschland die Macht der Arbeiter-und Soldatenräte beseitigt wird und die kapitalistische Gesellschaftsordnung gesichert bleibt.


Zuerst veröffentlicht in: Die Rote Fahne (Berlin), Nr. 18 vom 3. Dezember 1918.

Hier zitiert nach Rosa Luxemburg: Gesammelte Werke, Bd. 4., August 1914 bis Januar 1919, Berlin, S. 427-430.