15. Dezember 2022 Diskussion/Vortrag Gefährliche Grenzen

Seismographen des Wandels VIII: Abschottung, Abschreckung, Auslagerung

Information

Veranstaltungsort

Rosa-Luxemburg-Stiftung
Bibliothek
Straße der Pariser Kommune 8A
10243 Berlin

Zeit

15.12.2022, 19:00 - 20:30 Uhr

Themenbereiche

Deutsche / Europäische Geschichte, Erinnerungspolitik / Antifaschismus, Migration / Flucht

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Gefährliche Grenzen
Eine niederländische Lehrerin führt eine Gruppe von geflüchteten Kindern an, die gerade aus einem Schiff in den Tilbury Docks in Essex ausgestiegen sind (1945).

Mit ausgefeilten technischen Möglichkeiten von Drohnen bis Bewegungssensoren entstehen Systeme zur Abwehr von Ankommenden. Ob an der Grenze zwischen Mexiko und den USA oder an und auf dem Mittelmeer, welches zur gefährlichsten Übergangsregion der Welt mutierte. Viele Staaten erlassen Gesetze, um Geflüchteten den Zugang zu erschweren. Während es seit 2004 die üppig finanzierte EU-Grenzagentur Frontex gibt, ist die Seenotrettung auf private Spenden angewiesen und wird immer wieder kriminalisiert.

Es entstehen spannungsreiche, zuweilen paradoxe Situationen. Bei Abschiebungen werden Menschen vertrieben, aber der Anschein von Menschlichkeit soll gewahrt werden. Das überfordert viele damit betraute Beamte, die wissen, sie handeln zwar nach geltendem Recht, aber nicht gerecht. Deshalb erkranken etliche psychisch. Posttraumatische Belastungsstörungen sind keine Seltenheit. Darunter leiden auch viele Schutzsuchende, allerdings erhalten Beamte bessere Behandlungen.

Eine Achillesferse des Flüchtlingsregimes sind Abschiebungen. In Steffen Menschings neuem Roman «Hausers Ausflug» fand die Titelgestalt eine anscheinend gute Lösung: In einem unbemannten Fluggerät, medikamentös ruhiggestellt, werden die wieder Ausgestoßenen in Krisen- und Kriegsgebieten abgesetzt. Verständlich, dass Hauser bei dieser Dienstleistung wohlhabend geworden ist. Die Handlung setzt ein, als Hauser gegen seinen Willen in eins seiner Fluggeräte geraten ist. Wer aber sind der oder die Täter? Neider, Konkurrenten oder Aktivisten? Ohne Antwort wird er in einer unwirtlichen Gegend abgesetzt, die er nicht kennt.

Es ist eine Region, die oft als Erstaufnahme- und Transitstaat genutzt wird. Hier setzt der Migrationswissenschaftler Marcus Engler an: In einem Team leuchtet er eine Forschungslücke aus, denn noch sind langfristige Folgen der restriktiven europäischen Asylpolitik für die Bereitschaft von Erstaufnahme- und Transitstaaten unzureichend geklärt. Es stellen sich Frage: Wie werden Ankommende politisch instrumentalisiert? Welche Folgen hat es, wenn Autokraten der EU zunehmend – und teils mit guten Gründen – Menschenrechtsverletzungen vorwerfen?

Wir erkunden gefährliche Grenzen an den Rändern Europas, an denen sich die Systemfrage stellt. In «Hausers Ausflug» fragt die Titelfigur: «Wieso will man ein System verändern, das funktioniert?» Und er erhält die knappe Antwort: «Für Dich funktioniert es, für andere nicht.»

  • Steffen Mensching, Schriftsteller und Theaterintendant, Regisseur und Darsteller. Der diesjährige Träger des Berliner Literaturpreises liest aus «Hausers Ausflug» (Wallstein) und diskutiert.
  • Marcus Engler, Sozialwissenschaftler am Deutschen Zentrum für Integrations- und Migrationsforschung (DeZIM), stellt Aushandlungsprozesse im internationalen Flüchtlingsregime vor und diskutiert diese.
  • Martina Troxler, Filmemacherin und Mitglied der NGO Blindspots, zeigt ihren Film über Migranten (People on the Move) auf der alten Balkanroute und diskutiert.
  • Achim Engelberg liest über Abschiebungen aus «An den Rändern Europas» (DVA/ Penguin Random House), diskutiert und moderiert.
     
Seismographen des Wandels

Geschichten von Fliehenden ähneln den Botenberichten des klassischen Dramas: In ihnen verdichten sich planetarische Konflikte, gestern wie heute. Bereits Bertolt Brecht, der vom sowjetischen Wladiwostok im Juni 1941 den Pazifik überquert hatte und im kalifornischen Santa Monica angekommen war, sah «auf dem letzten Boot» eine neue «Landschaft des Exils», so der Titel seines Ankunftsgedichts, in dem er sich und seinesgleichen als «Boten des Unglücks» bezeichnete. Als solche sind Flüchtlinge nicht nur Seismographen einer Epoche, die von jeher durch historische Ereignisse und Unglücke gekennzeichnet ist, sondern sie prägen zunehmend die Erinnerungskulturen in den großen Städten, die dem Turm von Babel ähneln. Oft flieht man dorthin, wohin andere zuvor ausgewandert sind.

Die bisherigen Veranstaltungen der Reihe «Seismographen des Wandels» sind auf unserer Website dokumentiert: Teil 1Teil 2 | Teil 3 | Teil 4 | Teil 5 | Teil 6 | Teil 7

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Dr. Uwe Sonnenberg

Referent für Zeitgeschichte und Geschichtspolitik, Rosa-Luxemburg-Stiftung

Telefon: +49 30 44310 425