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Weichenstellung für die Präsidentschaftswahlen

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Achim Kessler,

7. Mai 2024: Der Premierminister der Republik Polen Donald Tusk spricht während der Eröffnung des 16. Europäischen Wirtschaftskongresses in Katowice, Polen.
Der polnische Ministerpräsident Tusk und seine Bürgerkoalition setzen bei den Wahlen zum Europaparlament alles daran, zum ersten Mal seit zehn Jahren stärker als die PiS zu werden. Dafür nehmen sie eine Marginalisierung des Koalitionspartners Nowa Lewica in Kauf. 7. Mai 2024: Premierminister Donald Tusk spricht während der Eröffnung des 16. Europäischen Wirtschaftskongresses in Katowice, Polen., Foto: IMAGO / ZUMA Wire

Die Wahlen zum Europaparlament am 9. Juli sind die dritten landesweiten Wahlen in Polen innerhalb von acht Monaten. Sie gelten als Weichenstellung für die Präsidentschaftswahlen 2025 und als wichtiger Test, ob sich die neue Koalition aus der liberalen Koalicja Obywatelska (Bürgerkoalition), dem konservativen Trzecia Droga (Dritter Weg) und der sozialdemokratischen Nowa Lewica (Neue Linke) dauerhaft an der Regierung halten kann.

Dr. Achim Kessler leitet das Regionalbüro der Rosa-Luxemburg-Stiftung in Warschau.

Bei den Wahlen zum Sejm im Oktober 2023 hatten diese Parteien die nationalistische und EU-feindliche Partei Prawo i Sprawiedliwość (Recht und Gerechtigkeit, im folgenden PiS) an der Regierung abgelöst. Die rechtsextreme Konfederacja (Konföderation) blieb hinter den prognostizierten Ergebnissen zurück und konnte PiS nicht zur Mehrheit verhelfen. Doch wie schon bei den Parlamentswahlen, blieb PiS auch bei den darauffolgenden Kommunal- und Regionalwahlen im April noch vor der Bürgerkoalition die stärkste Partei. Nowa Lewica und die weiter linksstehende Partei Razem (Gemeinsam), die zu den Wahlen zum Europaparlament wie schon zu den Wahlen zum Sejm auf gemeinsamen Listen antreten, blieben mit 6,2 Prozent sogar hinter dem schwachen Ergebnis von 8,6 Prozent bei den Parlamentswahlen zurück.

Kampf der Linken um ihr Gewicht in der Regierung

Während der Aufstellung der Kandidat*innen für die gemeinsame Liste kam es zu erheblichen Spannungen zwischen Nowa Lewica und Razem. Beide Parteien bilden im Sejm eine gemeinsame Fraktion. Doch während Nowa Lewica der Regierung angehört, ist Razem der Regierung nicht beigetreten, weil ihre Forderungen bei den Koalitionsverhandlungen nicht ausreichend berücksichtigt worden waren. Diese komplizierte Konstellation macht es Razem schwer, ein eigenes Profil in der Öffentlichkeit zur Geltung zu bringen. Es ist Razem jedoch gelungen, mit Maciej Konieczny einen profilierten und erfahrenen Politiker auf einem sehr aussichtsreichen Platz durchzusetzen, wodurch die Partei die Chance hat, künftig einen Abgeordneten des Europaparlaments zu stellen. Dass Wiktoria Barańska, die ebenfalls für Razem antritt, ein Mandat erreichen wird, gilt als eher unwahrscheinlich.

Für Nowa Lewica sind Robert Biedron, Joanna Scheuring-Wielgus und Krzysztof Śmiszek auf aussichtsreichen Listenplätzen. Sollten Nowa Lewica und Razem gemeinsam vier der 53 polnischen Mandate im Europaparlament erringen, wäre dies ein großer gemeinsamer Erfolg, den auch Nowa Lewica dringend braucht um ihr Gewicht innerhalb der Regierungskoalition zu erhöhen. Denn nach dem schlechten Ergebnis bei den Kommunalwahlen wurden stimmen aus dem Lager des konservativen Trzecia Droga laut, die Ministerin für Arbeit, Soziales und Familie, Agnieszka Dziemianowicz-Bąk (Nowa Lewica), abzulösen.

Frauenrechte im Zentrum des linken Wahlkampfs

Wie schon bei den Parlaments- und Kommunalwahlen sind für Nowa Lewica und Razem die Rechte von Frauen auch im Europawahlkampf von zentraler Bedeutung. Denn das restriktive polnische Abtreibungsrecht, nach dem nur in wenigen Ausnahmen Schwangerschaftsabbrüche erlaubt sind, führt immer wieder dazu, dass Frauen sterben weil Ärzt*innen Angst haben, vor Gericht gestellt zu werden wenn sie einen Abbruch vornehmen. Die große Bedeutung von Frauenpolitik ist auch daran erkennbar, dass mit Katarzyna Kotula erstmals eine Frau für die Wahlkampagne von Nowa Lewica verantwortlich ist, und dass in sechs von 13 Wahlkreisen Frauen an der Spitze der Listen stehen.

Vier-Tage-Woche als Vorhaben der polnischen EU-Ratspräsidentschaft 2025

Zudem geht Nowa Lewica auch mit zentralen gewerkschaftlichen Forderungen in den Europawahlkampf. Seit fast 20 Jahren sprach mit Agnieszka Dziemianowicz-Bąk erstmalig wieder ein Regierungsmitglied bei der Gewerkschaftsdemonstration am 1. Mai. Als Reaktion auf die Veränderungen im Arbeitsmarkt forderte sie die Einführung der Vier-Tage-Woche noch in der laufenden Legislaturperiode. In einem Interview mit dem Polit-Magazin Krytyka Polityczna sagte sie, «angesichts der bevorstehenden Veränderungen und Herausforderungen» wäre die Verkürzung der Wochenarbeitszeit «der nächste zivilisatorische Schritt nach der Einführung des Acht-Stunden-Arbeitstages». Sie betonte, dass die Arbeitszeitverkürzung nicht mit Lohnkürzungen einhergehen dürfe und kündigte an, dieses Thema auch während der polnischen EU-Ratspräsidentschaft, die in der ersten Hälfte des Jahres 2025 beginnt, zur Sprache zu bringen.

Im gleichen Interview kündigte sie an, dass die Regierung die staatliche Arbeitsinspektion stärken und die sozialversicherungsrechtliche Absicherung von Werkverträgen neu regeln wolle. Die bisherigen Regelungen ermöglichen es Arbeitgebern, ihren Beschäftigten in einem erheblichen Maß Sozialabgaben vorzuenthalten. Ein weiteres Ziel der neuen polnischen Regierung sei es, allen in Polen tätigen Beschäftigten, unabhängig von ihrer Herkunft, einheitlichen Schutz zu gewährleisten. Durch ein neues Tarifvertragsgesetz soll auch der gewerkschaftliche Organisationsgrad erhöht werden, der in Polen zurzeit bei lediglich rund zehn Prozent liegt.

Donald Tusk: Wahlkampf auf Kosten der Linken

Der polnische Ministerpräsident Tusk und seine Bürgerkoalition setzen bei den Wahlen zum Europaparlament alles daran, zum ersten Mal seit zehn Jahren stärker als die PiS zu werden, auch auf Kosten des Koalitionspartners Nowa Lewica, den sie auch in der Regierung nach Kräften zu marginalisieren trachten. Erkennbar ist das etwa daran, dass die Bürgerkoalition den bisherigen Europaabgeordneten von Nowa Lewica, Łukasz Kohut, als Kandidaten für das Europaparlament antreten lässt. Kohut ist vor Kurzem aus der Nowa Lewica ausgetreten um für die Bürgerkoalition kandidieren zu können. Außerdem kandidieren mit Dariusz Joński und Bartosz Arłukowicz zwei weitere ehemalige linke Parlamentsabgeordnete auf den Listen der Bürgerkoalition.

Ein Sieg der Bürgerkoalition bei den Europawahlen würde ihre Aussichten verbessern, bei den Präsidentschaftswahlen 2025 den amtierenden PiS-nahen Präsidenten Andrzej Duda abzulösen, der nach der polnischen Verfassung mit seinem Veto nahezu jedes Regierungsgesetz blockieren und somit die Regierung in ihrer Handlungsfähigkeit empfindlich einschränken kann. Das Veto des Präsidenten kann im Sejm nur mit einer Mehrheit von drei Fünfteln überstimmt werden, über die die Regierungskoalition aber nicht verfügt.

Um dieses strategische Ziel zu erreichen, tritt die Bürgerkoalition mit politischen Schwergewichten zu den Europawahlen an: So stehen mit dem Innen- und Verwaltungsminister, dem Kulturminister sowie dem Minister für Staatsvermögen gleich drei hochrangige Regierungsmitglieder der Bürgerkoalition auf den Wahllisten. Außerdem schickt Trzecia Droga mit dem Minister für Entwicklung und Technologie einen vierten Minister ins Rennen. Vor diesem Hintergrund ist es folgerichtig, dass Ministerpräsident Donald Tusk am 10. Mai die Regierung umgebildet hat. Die vier Minister, die für das Europaparlament kandidieren, wurden durch andere Vertreter*innen ihrer jeweiligen Partei ersetzt.

Insbesondere der ehemalige Kulturminister Bartłomiej Sienkiewicz hat seit seiner Ernennung im Dezember 2023 eine prominente und kontrovers bewertete Rolle gespielt. Während ihrer Regierungszeit hatte PiS die öffentlichen Medien zu einem Sprachrohr ihrer Parteipropaganda gemacht. Da Präsident Duda eine Ablösung der Leitungen der öffentlichen Medien hätte verhindern können, löste Sienkiewicz sie kurzerhand auf um sie anschließend mit ausgewechselter Leitung neu zu gründen. Der von Sinkiewicz unternommene Schritt ist verfassungsrechtlich umstritten, wofür er heftig angegriffen wurde. Ministerpräsident Tusk dankt ihm aber mit den Worten: «Ich möchte Ihnen in meinem Namen und im Namen der gesamten Öffentlichkeit danken, für die Heilung der Situation in den öffentlichen Medien, die sowohl politisch als auch organisatorisch, eine der grundlegenden Aufgaben der Regierungskoalition war».

Instrumentalisierung der Bauernproteste

Die ehemalige Regierungspartei PiS versucht die Bauernproteste gegen sinkende Preise infolge billiger Importe aus der Ukraine sowie gegen finanzielle Belastungen durch den European Green Deal im Europawahlkampf für sich zu instrumentalisieren. Gemeinsam mit der Bauerngewerkschaft Solidarność Rolników rief sie am 10. Mai zu einer Demonstration auf. Inwieweit diese Strategie aufgehen wird, Vorbehalte der Bürger*innen gegen eine an Wirtschaftsinteressen orientierte Europäische Union nationalistisch zu wenden und zu instrumentalisieren, bleibt abzuwarten. In jedem Fall aber ist die PiS in Polen ein bedeutender politischer Faktor und die polnische Gesellschaft bleibt weiterhin tief gespalten.

Ausblick

Entscheidend für den Ausgang der Wahlen zum Europaparlament wird die Wahlbeteiligung sein. Sie lag 2014 bei rund 24 und 2019 bei 46 Prozent. Eine höhere Wahlbeteiligung in ländlichen Gebieten käme der PiS zugute, während die Regierungsparteien und Razem in großen und mittleren Städten besonders großen Rückhalt haben. Die Mobilisierung in diesem dritten Wahlkampf innerhalb von acht Monaten ist für alle Parteien schwierig, wobei die PiS von einem Teil des katholischen Klerus massiv unterstützt wird. So haben katholische Geistliche an Gläubige appelliert, sich «fremden Ideologien» – gemeint sind damit beispielsweise die Rechte von Frauen und queeren Menschen – zu widersetzen, ein «Europa der Heimatländer» zu unterstützen und christliche Werte zu verteidigen.