Nachricht | Deutsche / Europäische Geschichte - Partizipation / Bürgerrechte - Demokratischer Sozialismus - Grundgesetz Eine Verfassung nach dem Faschismus

Florian Weis und Ingar Solty sprechen über die Entstehung und Bewertung des Grundgesetzes

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Ingar Solty, Florian Weis,

Die Westalliierten stimmten einem Grundgesetz zu, das erheblich progressiver war als die damalige Politik in ihren Ländern: Am 12. Mai 1949 trafen sich die alliierten Militärgouverneure mit den Abgeordneten des Parlamentarischen Rats in Frankfurt am Main und genehmigten das Grundgesetz (General Lucius D. Clay, Oberbefehlshaber des EUCOM, zweiter von rechts; General Pierre Koenig,
französischer Militärgouverneur, zweiter von links, und General Sir Brian H. Robertson, britischer
Militärgouverneur, Mitte). Foto: U.S. National Archives, Washington, D.C.

Florian Weis (FW): Ingar Solty, wie würdest Du das Grundgesetz in seiner Entstehung historisch einordnen und bewerten?

Ingar Solty (IS): Es ist eine Reaktion auf Faschismus und Weltkrieg und auch eine auf die Wiederauferstehung der Arbeiter*innenbewegung. Es gab in allen Besatzungszonen Masseneintritte in Gewerkschaften, SPD und KPD. Im Ergebnis des Begreifens, dass der Kapitalismus für die Weltwirtschaftskrise, die Weltwirtschaftskrise für den Faschismus und der Faschismus für den Weltkrieg verantwortlich war. Das drückt sich in dieser Verfassung aus. Und sie beinhaltet viel Fortschrittliches inklusive eines verfassungsgemäßen Weges zum Sozialismus. Denn die Wirtschaftsordnung wird offengelassen. Vor diesem Hintergrund ist die Verfassung sicherlich besser als das, was nach 1990 eine gesamtdeutsche Verfassung geworden wäre. Sie wäre sicherlich eine sehr viel antisozialistischere und damit auch anti- oder weniger demokratische gewesen. Und dennoch ist festzuhalten, dass das Grundgesetz selbst, insofern es zwei Jahre nach Beginn des Kalten Krieges entstand, schon eine konstitutionell verdichtete Niederlage der Linken gewesen ist, angesichts dessen, was nach 1945 möglich war.

Ingar Solty ist Referent für Friedens- und Sicherheitspolitik in der Rosa-Luxemburg-Stiftung und Redakteur bei der Zeitschrift LuXemburg. 
Florian Weis ist Historiker mit Schwerpunkten zur neueren und neuesten britischen und deutschen Geschichte. Er arbeitet als Referent für Antisemitismus und jüdisch linke Geschichte und Gegenwart in der Stiftung.

FW: Ich möchte zunächst die Rolle (West-)Alliierten würdigen, insbesondere die der USA und Großbritanniens. Positionen, die sie in ihren eigenen Ländern niemals (USA) oder nur in Teilen (Großbritannien) hätten durchsetzen können, werden mit ihrer Zustimmung in das Grundgesetz aufgenommen. Die Abschaffung der Todesstrafe 1949 etwa wäre ohne die Alliierten nicht möglich gewesen. In Frankreich wird dies erst 1981 erreicht, in den USA bis heute nur in einzelnen Bundesstaaten, in Großbritannien erst ab 1965.

Hervorheben möchte ich einige bemerkenswerte Aspekte des Grundgesetzes, auch wenn die Verfassungsrealität oftmals eine andere ist. Da ist einmal der Artikel 1 mit «Die Würde des Menschen ist unantastbar». Ein ungewöhnlicher Verfassungseinstieg, tief geprägt von den Verbrechen der Nazis, auch solchen wie der sogenannten Euthanasie. Dieser Zugang einte Menschen aus unterschiedlichen Spektren, konservativ-religiösen, liberalen, linken. Der zweite Punkt findet sich im Artikel 9, nämlich die Koalitionsfreiheit, die die Tarifautonomie sichert. Ferner möchte ich den Artikel 3 mit seinem Gleichheitspostulat hervorheben. Die Regelungen des Bürgerlichen Gesetzbuches, auch die damals von Nazi-Karrieristen durchsetzte Verwaltung und Justiz, haben die Umsetzung lange und massiv behindert. Das Grundgesetz bot aber Chancen für Frauenrechtlerinnen, wie sie lange bezeichnet wurden, sich in ihren Kämpfen auf diesen Artikel, auf seine verfassungsrechtliche Norm zu beziehen, die Bürgerliches Gesetzbuch und gesellschaftlicher Alltag nicht einlösten, eben die Gleichstellung von Männern und Frauen.

Du hast zuvor eingeschätzt, dass wahrscheinlich 1990 eine neue Verfassung sehr viel kapitalismuskompatibler ausgefallen wäre? Wie fällt eine marxistische kritische Würdigung des Grundgesetzes daher aus?

IS: Der Ausgangspunkt ist das Ende des Weltkrieges. Geschichtlich sehen wir ja einen engen Zusammenhang zwischen Krieg und Revolution. Europäisch betrachtet war 1945 eigentlich ein revolutionärer Moment. So wie nach dem Ersten Weltkrieg, mit der sozialrevolutionären Welle von Irland bis Ostasien und dann eben das Scheitern der sozialen Revolution im Westen. Mir scheint, dass 1945 mehr möglich war – mit einerseits der Befreiung Osteuropas durch die Rote Armee, dann der Rolle der Kommunisten in der Resistenza in Italien, in der Résistance in Frankreich, der Bedeutung der Kommunisten auf dem Balkan, namentlich in Griechenland, der Nachkriegsbedeutung des «Spirit of 45» in Großbritannien, also mit der konsequenten Reformregierung von Clement Attlee, und dann eben dem Zustrom zur Arbeiter*innenbewegung in Deutschland.

Im realgeschichtlichen Rückblick sehen wir, dass trotz seiner Offenheit für eine sozialistische Gemeinwirtschaft das Grundgesetz dennoch kompatibel war mit dem Neoliberalismus. Und es ist trotz seines Friedensgebots eben auch kompatibel gewesen, wenigstens als Auslegungssache, mit Kriegseinsätzen der Bundeswehr und der neoimperialistischen Politik Deutschlands innerhalb Europas wie auch – zunehmend – über Europa hinaus. Insofern: Wenn das Ziel der Verfassung war, einem neuen Krieg und dem Wiederaufstieg des Faschismus vorzubeugen, dann liegt offensichtlich in der Verfassung etwas im Argen oder wenigstens in dem Deutschland, das danach entstand.

Du sprachst die progressive Rolle der Alliierten an. In den USA war ja Roosevelts Vision einer Second Bill of Rights gescheitert. Du hast Recht: Das Grundgesetz ist weitergehend als das, was in den USA trotz der starken Klassenkämpfe möglich war. Dennoch ist die hessische Landesverfassung ja weitreichender als das Grundgesetz, was die sozialistische Orientierung anbelangt, auch wenn sie gleichzeitig die Todesstrafe behält. Diesen Maßstab möchte ich anlegen: Wie kommt es nach der Verfassung in Hessen, die die Eigentumsfrage zentral aufwirft und sie per Volksabstimmung über den Sozialisierungsartikel 41 sozialistisch entscheidet, zu diesem Rückschritt? Warum wurden, genauso wie nach dem verlorenen Ersten Weltkrieg, als ein moderat sozialdemokratischer Reichsrätekongress nie umgesetzte Vorstöße in Richtung sozialistische Gemeinwirtschaft und Demokratisierung des Militärs machte, auch nach 1945 die Lehren aus Kapitalismus, Krise und Krieg nicht gezogen?

FW: Für den europäischen Vergleich möchte ich hier auf Gerd-Rainer Horns Buch «The Moment of Liberation in Western Europe» verweisen. Freilich sollten wir das revolutionäre Element 1945/46 nicht überhöhen, in Italien etwa gewinnt die Christdemokratie die Wahlen von 1948 deutlich. Nun können wir streiten: Liegt es daran, dass der Moment nicht radikal genutzt wurde? Oder neigen wir dazu, die Tiefe und Breite eines linken Aktivismus zu überschätzen? Das passiert uns ja auch heute immer wieder.

Aber wenn wir jetzt zum Beispiel auf Kurt Schumacher schauen: Wirtschaftspolitisch erscheint er als ein linker Sozialdemokrat, gleichzeitig ist er ein ziemlicher Nationalist.

IS: Auch die KPD hatte ja sogar ein nationaleres, weniger radikales Programm als die SPD ...

FW: … ja, genau. Und die West-KPD hat ja dann später eine schlimme nationalistische Linie verfolgt.

Und dann gibt es, nicht nur in Westdeutschland, auch in anderen europäischen Ländern, eine verbreitete Auffassung insbesondere in Milieus, die auf die katholische Soziallehre zurückgreifen: Der Kapitalismus ist aus dem Ruder gelaufen, muss reguliert werden. Eigentum ja, aber Eigentum muss eine Bindung haben: «Eigentum verpflichtet. Sein Gebrauch soll zugleich dem Wohle der Allgemeinheit dienen.» (Artikel 14, Absatz 2 GG). Insofern könnten wir auch die Gegenthese aufstellen: Die Praxis seit den 1990er Jahren war eigentlich ein Verfassungsbruch gegen den Artikel 14.

IS: Die geschichtlichen Alternativen, das historisch Versäumte und Unabgegoltene treiben mich heute so um, weil wir uns vermutlich hinbewegen zu einem Land mit Kapitalismus, aber ohne Linke, der, weil er sich in einer Systemkrise befindet, mit der Rückkehr faschistischer Kräfte und dazu erheblicher Kriegsgefahr einhergeht.

Wir wissen: Die USA hatten Angst, zurückzufallen in die Great Depression, weil man wusste, dass es nicht so sehr der New Deal war, der die USA aus der Wirtschaftskrise heraushob, sondern die Kriegswirtschaft. Darum die Restauration des Kapitalismus mitsamt seinen alten Eliten in Westeuropa. Aber war das alternativlos? Welche Chance hatte ein neutrales, entmilitarisiertes Europa, das auch die deutsche Einheit erhalten hätte? Welche Chance hatte einerseits der «deutsche Weg zum Sozialismus» von Anton Ackermann, der nicht in den «Stalinismus» geführt hätte, weil man dank der Sowjetunion und ihrer Roten Armee die eigene herrschende Klasse schon entmachtet hatte, es also nicht einen starken Staat zu ihrer Entmachtung brauchte? Und welche Chance hatte andererseits im Westen das Ziel eines sozialistischen, neutralen und demokratischen Deutschlands, wie es etwa «Der Ruf» von Hans Werner Richter und Alfred Andersch vertrat? Eine Zeitschrift, die ja dann von den USA verboten wurde. Spannt man den langen Bogen, stehen wir, bei allen Brüchen, die es gegeben hat, wieder vor den Fragen, die sich nach dem Zweiten Weltkrieg stellten: Die Frage von kapitalistischer Ungleichheit, die Frage von Entdemokratisierung und die Frage von Faschismus und Krieg, als habe man nichts gelernt.

FW: In leichter Differenz zu Dir halte es für eine große Leistung, eine im besten Sinne liberale Verfassung zu haben, die gleichzeitig keine wirtschaftsliberale Verfassung ist. Sie hat den Neoliberalismus nicht verhindert, vollkommen richtig, aber eine Verfassung kann Mindeststandards setzen, menschenrechtliche und prozedurale, und diesen im besten Sinne liberalen und menschenrechtlichen Impuls finde ich vor dem Hintergrund der Naziverbrechen und der AfD heute ungeheuer wichtig. Das ist in meinen Augen auch eine starke argumentative – und nicht nur argumentative – Waffe gegen die AfD. In der aktuellen Situation komme ich vielleicht zu einer etwas anderen Akzentuierung: Ob gerade der Antikapitalismus oder die Verteidigung des Demokratischen im Vordergrund stehen sollte.

Der zweite Punkt unseres Dissenses betrifft die «Deutschlandfrage». Dabei bin ich ein dezidierter Schumacher-Kritiker. Wenn ich mich in das Denken der Nachbarländer hineinzuversetzen versuche, würde ich die Teilung Deutschlands und die Tatsache, dass das Grundgesetz sie in gewisser Weise zementiert hat, nicht als Schwäche sehen. Wie gesagt: Ich glaube, dass in der Hinsicht Kurt Schumachers Nationalismus, mit großem Respekt vor seiner Leidenszeit und Integrität, die falsche Antwort war. Und dass es erstmal die Aufgabe der Alliierten und der Nachbarländer war, Schutz vor Deutschland zu gewährleisten, vor einem dritten Anlauf zur brutalen europäischen Hegemonie.

IS: Nimmt man die Deutschlandpläne des militärischen Widerstands vom 20. Juli, steht das Grundgesetz dazu natürlich in erheblichem Kontrast. Sie wären ja auf eine Militärdiktatur hinausgelaufen. Somit kann man sicherlich eine positive Rolle der Alliierten konstatieren. Der Gedanke, dass die Verfassung in einem Spannungsverhältnis zum bürgerlichen Recht steht, ist einleuchtend. Man müsste ihn eigentlich ausdehnen, auf die Hartz-Gesetze beispielsweise. Dazu gehört die Frage, warum es trotz dieser Verfassung möglich war, ein rechtebasiertes umlagefinanziertes System der Arbeitslosenversicherung in ein der feudalen Armenfürsorge ähnelndes System zu verwandeln. Ich teile auch die Ansicht, dass es gute linke Schule war, Anspruch und Wirklichkeit der bürgerlichen Gesellschaft gegeneinanderzustellen.

Was die europäische Perspektive auf Deutschland anbelangt, bin ich immer skeptisch, wenn man meint, dass die europäische Einigung unter dem Prärogativ der Einhegung Deutschlands stattgefunden habe. Das hat sicherlich für Frankreich eine große Rolle gespielt; aber das in letzter Instanz Dominante war ja die Expansion von Kapital über nationale Grenzen hinaus, angefangen mit der Montanunion. Und warum sich die Frage des Nationalstaats meines Erachtens doch stellt, ist, dass vieles von dem, was an sozialer Demokratie auf nationaler Ebene entstand, ja durch den europäischen «neuen Konstitutionalismus» abgeschafft wurde.

FW: Da stimme ich dir in Bezug auf die Entwicklung der EU völlig zu; Dissens haben wir in der Bewertung eines Anspruches auf deutsche staatliche Einheit nach 1945. Mein Argument ist dieses: Aufgrund des Zweiten Weltkrieges, der Nazibesatzung, aber in geringerem Maße auch des Ersten Weltkrieges, hatte Deutschland – jetzt etwas pathetisch formuliert – das Recht verwirkt, einen einheitlichen Nationalstaat zu bilden. Dass die Nachbarländer und Siegermächte ein starkes Interesse hatten, Deutschland einzuhegen, erscheint mir sehr berechtigt.

Ich würde dir ansonsten insofern zustimmen, dass in den anderen europäischen Ländern der Moment von Befreiung selbstverständlich ein sowohl soziales, linkes, revolutionäres Element als auch ein patriotisches hatte. In Großbritannien etwa reflektierten J.B. Priestley und George Orwell darüber, dass während des Zweiten Weltkrieges die demokratische Rechte sozialer und egalitärer, die Linke patriotischer werde; eine Form des Spirit of 1940 and of 1945. Wenn ein Land von einer dermaßen brutalen Macht wie Nazi-Deutschland angegriffen, gar unterworfen wird, dann können diese beiden Komponenten einmal zusammenkommen. Auf Deutschland war dies 1945 und danach schwerlich übertragbar.

Eine weitere Schlussfolgerung besteht für mich darin, dass wir als Linke nicht alles über Rechtskodifizierung zu lösen versuchen sollten. Es wird mir zuweilen etwas zu sehr über «Diskurse» sowie über Forderungen nach Verrechtlichung agiert. Da wäre der Artikel 9 lehrreich. Er zeigt den mühsamen Weg über Tarifverträge auf, also über soziale Kämpfe in einem eingehegten Rahmen. Es geht um Auseinandersetzung, Konflikt, Verhandlung, temporären Kompromiss. Viele sozialrechtliche Fortschritte sind so erkämpft worden, sei es die Lohnfortzahlung für Arbeiter*innen 1956/57 wesentlich durch den IG Metall-Streik in Schleswig-Holstein oder die Abschaffung frauendiskriminierender Leichtlohngruppen als Folge auch des Streiks bei Pierburg in Neuss 1973. Die gesetzlichen Regelungen folgten den tarifvertraglichen erst Jahre später. Das scheinen mir gute Beispiele zu sein: Auf einer Verfassung mit Tarifautonomie und Koalitionsfreiheit aufzubauen, konkrete soziale Auseinandersetzungen zu führen, an deren Ende eine allgemeingültige gesetzliche Festschreibung stehen kann. Heute habe ich gelegentlich den Eindruck, dass zu stark über medial-moralischen Druck versucht wird, rechtliche Festsetzungen herzustellen, aber ohne ausreichende soziale Verankerung und damit ohne wirkliche Umsetzungskraft.

1986 hat Jürgen Habermas mit dem Begriff des «Verfassungspatriotismus» experimentiert. Taugt der Gedanke für heute wieder?

IS: Ich bin auch da skeptisch, da es eine Anrufung von oben ist und in einem erheblichen Kontrast steht zur Verfassungswirklichkeit, selbst wenn man natürlich in der konkreten Wirklichkeit bedrohter liberaldemokratischer Verfahren in Situationen gerät, in denen man die Verfassung auch gegen ihre Feinde verteidigt.

FW: Ja, und zuweilen auch gegen die, die gegen sie gestimmt haben, wie die CSU und der Freistaat Bayern 1949, denn die 12 Gegenstimmen im Parlamentarischen Rat 1949 kamen nicht nur von den beiden Kommunisten, sondern mehrheitlich von der Rechten, der CSU und der Deutschen Partei. Das müssen wir Markus Söder und seinesgleichen immer wieder vorhalten, in welcher Tradition der Ablehnung des Grundgesetzes seine Partei steht.