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Clémence Guetté vom Institut La Boétie über die Politik und die Strategie von La France insoumise

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Clémence Guetté mit Jean-Luc Mélenchon bei einer Wahlkampfveranstaltung von La France insoumise in Paris, 20.03.2022. Foto: IMAGO / ABACAPRESS

Im Vorfeld der Europawahlen im Juni führt die Rosa-Luxemburg-Stiftung eine Reihe von Interviews mit linken Parteien und Kandidat*innen aus der gesamten Europäischen Union über Wahlkämpfe, politische Programme und Herausforderungen, denen linke Kräfte auf nationaler und europäischer Ebene gegenüberstehen.

Nessim Achouche sprach mit Clémence Guetté, die seit 2022 für La France Insoumise (LFI, Unbeugsames Frankreich) Abgeordnete des Departements Val de Marne und seit 2023, zusammen mit Jean-Luc Mélenchon, Co-Vorsitzende des Instituts La Boétie ist. Das Institut setzt sich zum Ziel, den Dialog zwischen Politik, Wissenschaft, Kultur und Aktivismus zu fördern und gilt als Ideenschmiede der LFI.

Das Institut La Boétie ist seit über einem Jahr tätig und hat bereits eine Reihe von Treffen und Veranstaltungen organisiert. Was können Sie uns über diesen neuen politisch-kulturellen Raum erzählen und wie ist dessen Verbindung mit LFI gedacht?

Wir haben das Institut La Boétie Anfang 2023 ins Leben gerufen. Es ist eine neue Etappe im Leben der Bewegung. La France Insoumise erreichte mit der Kandidatur von Jean-Luc Mélenchon bei den Präsidentschaftswahlen im April 2022 22 Prozent, nachdem sie bereits 2017 die (neo)liberale Linke weit hinter sich gelassen hatte und eine eigene Fraktion in der Nationalversammlung gebildet hatte. Bei den Parlamentswahlen im Juni 2022, gelangt es der FLI, die als Teil des NUPES-Bündnis antrat, ihre Abgeordnetenzahl auf 75 zu erhöhen.

Clémence Guetté ist seit 2022 für Abgeordnete des Departements Val de Marne für La France Insoumise und seit 2023, zusammen mit Jean-Luc Mélenchon, Co-Vorsitzende des Instituts La Boétie.
Nessim Achouche ist Projekt-Manager für Energie- und Klimafragen sowie die Arbeit zu Frankreich bei der Rosa-Luxemburg-Stiftung in Brüssel.

Diese Erfolge sind keine kurzlebigen Wahltrends, sondern das Ergebnis einer grundlegenden, insbesondere programmatischen Arbeit. «L'Avenir en commun» (Gemeinsame Zukunft) – das Programm von LFI ist zu einem echten politischen Referenzpunkt geworden, und die darin enthaltenen Vorschläge zur Bewältigung der großen ökologischen und sozialen Herausforderungen unserer Zeit finden eine weitreichende Anerkennung. Dies ist nicht aus Zufall geschehen, sondern wurde unter anderem dadurch erreicht, dass hochrangige Akademiker*innen, Expert*innen, Forscher*innen, Intellektuelle und Aktivist*innen in unsere programmatische Arbeit eingebunden wurden. Nach den Wahlen 2022 mussten wir unbedingt einen Weg finden diese gemeinsame Arbeit, diese Brücke, die zwischen der Welt des revolutionären Aktivismus und der akademischen Forschung geschlagen wurde, zu verstetigen.

Das Institut La Boétie verkörpert diese Schnittstelle. Warum ist das wichtig? Weil wir uns in einem Kampf um die politische Hegemonie befinden. Dieser Kampf wird auch auf dem Gebiet der Ideen geführt. Über ein Instrument zu verfügen, das gleichzeitig eine andere Lesart der wirtschaftlichen, sozialen und politischen Ereignisse vermitteln kann; Wissen zu produzieren, das für die aktuellen sozialen Kämpfe nützlich ist – wie wir es beispielsweise während der Bewegung gegen die Rente mit 64 getan haben; große kritische Denker wie David Harvey bekannt zu machen; die strategische Debatte innerhalb der politischen und sozialen Linken zu beleben; oder, angesichts des Aufmarschs reaktionärer rechter Kräfte,  Gegennarrative zu entwickeln. Das ist eine absolut unerlässliche Aufgabe für eine Partei, die den Ehrgeiz hat, ein Land wie Frankreich zu regieren.

Wir haben keine Angst, uns in diese Gefilde zu begeben, wir verstecken uns nicht und schämen uns nicht dafür, wer wir sind und was wir denken.

Deshalb macht das Institut La Boétie auch keinen Hehl daraus, politisch zu sein und zur «Familie der Insoumises» zu gehören. Die Akademiker*innen, die dort arbeiten, wissen, dass sie dort völlige intellektuelle Autonomie genießen können. Aber sie teilen unsere politischen Grundwerte. Wir wollen auch mit der neoliberalen Mode der «Think Tanks» brechen, die vorgeben von der politischen Sphäre getrennt zu sein.

Ein weiterer konkreter Aktionsbereich für diesen Lernkreislauf zwischen aktivistischer und intellektueller Welt, Theorie und Praxis, stellt unsere Ausbildungsschule dar, die innerhalb des Instituts La Boétie angesiedelt ist[1]. Das Institut bietet Aktivist*innen, insbesondere den Jüngeren, die Gelegenheit mit einigen der renommiertesten Sozialwissenschaftler*innen in den Austausch zu kommen.

Bei den Präsidentschaftswahlen 2022 erreichte LFI mit der Kandidatur von Jean Luc Mélenchon mehr als 22 Prozent. Für die anstehenden EU Wahlen stehen die Prognosen für die von Manon Aubry geführte Liste bei knappen 8 Prozent. Was könnte diesen Unterschied erklären und welche Hauptthemen dominieren den Wahlkampf der LFI?

Man muss sich darüber im Klaren sein, dass die Europawahlen, zumindest in Frankreich, eine Besonderheit haben: Die Mehrheit der Wahlberechtigten enthält sich der Stimme. Es kann hier eine Form des «versteckten Zensus» bemerkt werden: Es sind insbesondere wohlhabende und ältere Bevölkerungsgruppen, die an den EU-Wahlen teilnehmen. Die Mehrheit, die Jean-Luc Mélenchon 2022 repräsentierte, besteht überwiegend aus prekär Beschäftigten, Bewohner*innen von Arbeiter*innenvierteln und Jugendlichen. Dies sind alles soziale Milieus, die sich bei anderen Wahlen traditionell der Stimme enthalten. Das Ergebnis der Europawahlen kann daher nicht mit dem der Präsidentschaftswahlen verglichen werden, es gibt ein leicht verzerrtes Bild der politischen Landschaft Frankreichs wider.

Wir sind diese Europawahl mit einem Hauptziel angetreten: die Mobilisierung der Gruppen, die am weitesten von den Wahlurnen entfernt sind. Dies ist eine Herausforderung für die Europawahl, aber auch ganz allgemein für die Zeit danach. Aus diesem Grund haben wir mit einer niederschwelligen Kampagne begonnen, die aus Haustürwahlkampf und Agitprop bestand, um so viele Menschen wie möglich in die Wähler*innenlisten einzutragen. Dabei haben wir eigentlich die Funktion staatlicher Behörden übernommen, da die Regierung –  wenig überraschend –  eine Registrierungskampagne ablehnte.

Diese Wahlkampagne findet vor einem dramatischen internationalen Hintergrund statt: dem Völkermord in Gaza. Wir sind die einzige Kraft in Frankreich, die sich nie der Propaganda der Netanjahu-Regierung gebeugt hat und konsequent zum Waffenstillstand aufgerufen hat. In den Arbeiter*innenvierteln sind viele Menschen empört: über das, was in Gaza passiert, aber auch über die Doppelstandards, die sie täglich im vorherrschenden medialen und politischen Diskurs in Frankreich feststellen. Wir haben uns entschieden uns auch an diejenigen zu wenden, die dem Wählen oft fernstehen, um ihnen zu sagen: Nutzen Sie Ihren Wahlzettel am 9. Juni, um diejenigen an die Macht bringen, die für Sanktionen gegen den Völkermord und ein Embargo für Waffenexporte eintreten. Damit bieten wir den Menschen ein konkretes politisches Ziel, einen direkten Nutzen ihrer Stimmabgabe.

Wir haben in unserer Kampagne auch gezielt versucht, Jugendliche und junge Erwachsene anzusprechen, sei es durch Vortragsreisen an Universitäten, politisch-festliche Veranstaltungen in den wichtigsten Studierendenstädten oder eigens für diese Zielgruppe entworfene Inhalte und Grafiken. Schließlich geben wir den Menschen auch die Möglichkeit, ein Jahr nach der Rentenreform und in einem Kontext, in dem neoliberale Angriffe auf die Sozialversicherung und öffentliche Dienste weiter zunehmen, gegen Macron Widerstand zu leisten.

Das Thema Klimakrise und die Suche nach ihren Lösungen stehen im Mittelpunkt der Arbeit von La Boétie, insbesondere durch die Abteilung für ökologische Planung, ein Konzept, das auch außerhalb akademischer Kreise Verbreitung findet und heute im französischen Kontext mit der LFI identifiziert wird. Gibt es konkrete Verbindungen zwischen der Arbeit des Instituts und der Schaffung des politischen Programms der Partei, insbesondere auf europäischer Ebene?

Das Konzepts der «ökologischen Planung» ist sehr interessant. Es wurde vor etwa 15 Jahren von Jean-Luc Mélenchon und anderen linken Persönlichkeiten wie Martine Billard als politisches Schlagwort in die öffentliche Debatte eingebracht. Zunächst galt das Wort als Abschreckung für die Rechte, die damit versuchte, die radikale Linke zu dämonisieren. Im Laufe der Jahre hat das Konzept jedoch wichtige intellektuelle, programmatische und politische Entwicklungen durchlaufen.

Es steht beispielsweise im Mittelpunkt der Arbeit von linken französischen Wissenschaftlern wie Razmig Keucheyan und Cédric Durand. Beide haben maßgeblich zur programmatischen Arbeit der LFI im Jahr 2022 beigetragen, und es wurde ein ständiger Dialog geführt. Das Wort «ökologische Planung» erlangte letztendlich eine solche Glaubwürdigkeit, dass es von Macron selbst in der Zwischenwahl 2022 aufgegriffen wurde. Natürlich bot er eine Version davon, die völlig leer von jeglichem planerischen Inhalt war. Aber es ist dennoch ein interessanter ideologischer Sieg, der unserem Programm Glaubwürdigkeit verleiht.

Wir glauben an unsere Fähigkeit, Gegennarrative zu entwickeln und die Hegemonie der extremen Rechten dort herauszufordern, wo sie sich für sehr stark hält.

Die Abteilung für ökologische Planung des Instituts La Boétie ist bemüht, diesen Dialog zwischen der wissenschaftlichen Forschung, die auf diesem Gebiet immer umfangreicher wird, und der Politik zu fördern und fortzusetzen. Ziel ist es, dem Projekt der ökologischen Planung einen immer konkreten, umsetzbaren, umfassenden und fundierten politischen Inhalt zu verleihen. Um dies zu erreichen, macht die Abteilung sie zu einem Gegenstand des intellektuellen Dialogs mit den derzeit prominentesten kritischen Denker*innen der Ökologie, wie z. B. Kohei Saito oder Andreas Malm. Daneben bezieht es Ingenieur*innen, Ökonom*innen und Energieexpert*innen in die Arbeit ein, um konkrete Umsetzungspläne zu formulieren.

Heute scheint die Rassemblement National (RN, Nationale Vereinigung) in den Umfragen bei der Europawahl weit vorne zu liegen, und die Vorstellung, dass die extreme Rechte in Frankreich an die Macht kommen könnte, wird immer greifbarer. Wie wird der Kampf gegen die Rechte seitens der LFI ausgetragen, auf politischer Ebene, aber auch im gesellschaftlichen Alltag, und welche Rolle spielt dabei das Institut La Boétie?

Der Aufstieg der extremen Rechten in Frankreich, wie leider auch in vielen anderen europäischen Ländern, ist die Folge einer jahrzehntelangen Offensive. Die traditionelle Linke hat in der Vergangenheit angesichts der extremen Rechten oft eine defensive Haltung eingenommen, ideologische Rückschritte zugelassen oder sich von der vermeintlichen – oft nur eingebildeten – Stärke des Gegners in eine Art Lähmung versetzen lassen.

Wir hingegen begegnen der extremen Rechten mit offensiver Haltung. Der Aufstieg der extremen Rechten ist aufhaltbar. Das Institut La Boétie beteiligt sich auf ideologischer Ebene an dieser offensiven Strategie. Weder Rückzug noch Angst: Wir stellen uns der extremen Rechten auf allen Gebieten entgegen.

Beispielsweise hat unsere Geschichtsabteilung angesichts der transphoben Panikmache die die Rechte, mit der komplizenhaften Vermittlung der Medien, gegen die LGBTQIA+ Community seit Jahren anfeuert, eine Studie veröffentlicht, die auf die Geschichte der Geschlechterfluidität von heute bis zur Antiken zurückblickt. In Bezug auf die Einwanderung haben wir anlässlich der aufgeheizten Debatte über das neue Asyl- und Einwanderungsgesetz erlebt, wie sich die ideologische Konvergenz der liberalen und rechtsextremen Blöcke konkretisierte. Unsere Fachbereiche für Wirtschaft und Soziologie veröffentlichten daraufhin eine ehrgeizige Analyse, die das Narrativ des «Einwanderungsproblems» konterkariert und den treffenden Titel «Frankreich dankt der Einwanderung» trägt.

Wir haben keine Angst, uns in diese Gefilde zu begeben, wir verstecken uns nicht und schämen uns nicht dafür, wer wir sind und was wir denken. Wir glauben an unsere Fähigkeit, Gegennarrative zu entwickeln und die Hegemonie der extremen Rechten dort herauszufordern, wo sie sich für sehr stark hält. Natürlich muss man die Gefahr der extremen Rechten, ihren Vormarsch, ernst nehmen. Sie ist ein umso gefürchteterer Gegner, als der herrschende bürgerliche Block sich dafür entschieden hat, auf ihren Sieg zu setzen, und mit ihr fast überall in Europa einen autoritären Pakt geschlossen hat, der neoliberale und rassistische Diskurse miteinander verbindet.

Mit dem Institut La Boétie haben wir sie zu einem eigenständigen Studien- und Analyseobjekt gemacht. Wir haben einen fachübergreifenden Bereich eingerichtet, der sich mit der extremen Rechten befasst. Er widmet sich der Analyse des Aufstiegs der extremen Rechten, ihres Wähler*innenblocks, ihrer Funktion in der politischen Ordnung und ihrer Methoden. Wir wollen ein gemeinsames Verständnis dieser Fragen schaffen, die zweifellos zu den wichtigsten strategischen Fragen für die Linke in den nächsten Jahren gehören werden.

Zu diesem Zweck haben wir im vergangenen Herbst ein zweitägiges Symposium veranstaltet, an dem 25 der besten internationalen Referent*innen auf diesem Gebiet, über 400 physische und 150.000 Online-Teilnehmer*innen teilnahmen. Für viele Aktivist*innen war dies ein Meilenstein und ein wichtiger Moment der Begegnung.

Im August werden wir unser erstes Buch herausgeben, das sich unter dem Titel «Extrême droite: la résistible ascension» (Rechtsextremismus: Der aufhaltsame Aufstieg) ausschließlich diesem Thema widmet. Es wird ein Sammelband sein, an dem sich renommierte Forscher*innen beteiligen und Analysen der Normalisierung rechter Diskurse sowohl auf der Ebene der Wahlkampagnen, als auch der Kultur und der politischen Einflussnetzwerke bieten. Dieses Buch wird einen wichtigen Beitrag zu den strategischen Überlegungen unseres politischen Lagers leisten.

Es wurde viel über die de facto Auflösung der NUPES und die potenziellen Auswirkungen auf die Gesamtheit linker Kräfte in Frankreich gesprochen. Wie sehen Sie die Beziehungen der verschiedenen linken Bewegungen nach den Europawahlen – ist eine Vereinigung noch denkbar und, wenn ja, auf welcher Grundlage?

Die Union, die die LFI vor den Parlamentswahlen im Juni 2022 initiiert hat, war möglich, weil sie auf der Grundlage eines Programms des Bruchs erfolgte. Sie war keine lose Vereinigung um den kleinsten gemeinsamen Nenner herum. Die NUPES gab sich ein gemeinsames Programm mit 650 Maßnahmen zu allen Themenbereichen, mit denen sich eine Regierung befassen muss. Es wurde auf der Grundlage des Programms «L'Avenir en commun» der LFI erstellt, über das sowohl Wähler*innen als auch NGOs und soziale Verbände abgestimmt hatten.

Diese Konstellation war möglich, weil Jean-Luc Mélenchon bei den Präsidentschaftswahlen im April 2022 ein Ergebnis erzielte, das weit über dem der Grünen (4 Prozent), der Kommunistischen Partei Frankreichs (2 Prozent) oder der Sozialistischen Partei (unter 2 Prozent) lag.

Nach den Parlamentswahlen machten wir mehrere Vorschläge, die in Richtung einer Verstetigung der NUPES gingen, wie die Gründung einer gemeinsamen Fraktion in der Nationalversammlung, die Schaffung lokaler NUPES-Versammlungen oder die Aufstellung einer gemeinsamen Liste für die Wahlen zum Senat und anschließend zum Europäischen Parlament. Dazu hatten wir vorgeschlagen, dass diese Liste von einem*r Spitzenkandidaten*in der Grünen Partei angeführt werden sollte, da sie die größte Anzahl ausscheidender Europaabgeordneter stellte.

Wir haben auf dem alten Kontinent gemeinsame Herausforderungen zu bewältigen: Die Zurückdrängung der faschistischen Welle, das Erlangen einer Mehrheit für die notwendige ökologische Kehrtwende oder unsere Unabhängigkeit von den USA zu stärken. Wir haben also allen Grund, miteinander zu reden, und jedes Interesse daran.

Wir stießen nur auf Ablehnungen. Die Grünen wollten die Europawahl dafür nutzen, das Kräfteverhältnis innerhalb der NUPES im Hinblick auf die nächsten Parlamentswahlen zu ihren Gunsten zu verändern. Sie zogen einen hypothetischen politischen Nutzen der Tatsache vor, was wir nur als Koalition in der Lage gewesen wären der extremen Rechten den ersten Platz streitig zu machen.

Was die Sozialist*innen betrifft, so haben wir im Laufe der Zeit gesehen, dass sie sich von der gemeinsamen «Linie des Bruchs» zunehmend entfernt haben. Zunächst beteiligten sich ihre wichtigsten Sprecher*innen nach dem 7. Oktober an unserer medialen Dämonisierung und schlossen sich in vielerlei Hinsicht der Position der «bedingungslosen Unterstützung» Israels bei seinem Krieg gegen Gaza an. Dann wählten sie mit Raphaël Glucksmann einen Spitzenkandidaten, der aus dem liberalen Zentrum stammt und seit jeher gegen die NUPES war. Ein Kandidat, der damit begann, zentrale Punkte unseres gemeinsamen Programms in Frage zu stellen, wie etwa die Rückkehr zur Rente mit 60, den Ausstieg aus dem europäischen Strommarkt oder die Ablehnung der Hochgeschwindigkeitstrasse Lyon-Turin. All dies sind Ausfälle, die vom ehemaligen sozialliberalen Präsidenten François Hollande und seinen Unterstützer*innen, allesamt NUPES-Gegner*innen der ersten Stunde, weitgehend begrüßt wurden.

Nach dem 9. Juni werden wir unsere Strategie der Volksunion fortsetzen, d. h. die Einheit und den Zusammenhalt der Bevölkerung anzustreben. Nicht nur die der politischen Etiketten, sondern die der Menschen selbst sowie der sozialen, gewerkschaftlichen und assoziativen Kräfte. Wir werden dies in programmatischer Klarheit tun, denn der gesellschaftliche Zusammenhalt kann unmöglich mit einem Programm erreicht werden, das die wesentlichen Fragen des Lebens vieler Menschen ignoriert. Im Laufe der Kampagne haben sich uns bereits zahlreiche Umweltschützer*innen angeschlossen. Sie kommen zu den unzähligen Gewerkschafter*innen, Akademiker*innen, Aktivist*innen und Künstler*innen hinzu, die sich bereits 2022 für die Volksunion eingesetzt hatten. Wir werden weiterhin eine anziehende Kraft und ein Sammlungspol sein. Aber wir werden die Union nicht durch Verwirrungen und endlose Zugeständnisse aufrechterhalten. Das war noch nie unsere Methode. 

LFI ist Mitglied der Fraktion The Left im Europäischen Parlament und Teil verschiedener Initiativen wie der von Maintenant le peuple (Jetzt das Volk), während La Boétie dem Netzwerk transformeurope beigetreten ist. Was werden die großen Themen und Hauptlinien sein, die ihr in den verschiedenen Bündnissen mit linken Parteien und zivilgesellschaftlichen Organisationen in Frankreich und auf europäischer Ebene zu entwickeln versucht?

Der Austausch zwischen uns ist unverzichtbar. Wir praktizieren ihn seit langem. Seit Jean-Luc Mélenchons Austritt aus der PS 2008 und der Gründung der Parti de Gauche (Linkspartei) und später von La France Insoumise im Jahr 2016 haben wir uns in den verschiedenen Phasen, die wir durchlebt haben, viel von unseren Brüdern und Schwestern in Deutschland, Spanien, Belgien oder Griechenland inspirieren lassen. Wir wissen auch, dass dies auch umgekehrt der Fall war. Wir führen spannende Diskussionen mit anderen Stiftungen, die sehr an dem interessiert sind, was wir zur ökologischen Planung oder auch zu Konzepten wie dem der «Kreolisierung» (etwa: kulturelle Vermischung) entwickelt haben. Wir sind begeistert von der Zirkulation von Ideen, programmatischen Überlegungen und strategischen Durchbrüchen in ganz Europa. Wir haben auf dem alten Kontinent gemeinsame Herausforderungen zu bewältigen: Die Zurückdrängung der faschistischen Welle, das Erlangen einer Mehrheit für die notwendige ökologische Kehrtwende oder unsere Unabhängigkeit von den USA zu stärken. Wir haben also allen Grund, miteinander zu reden, und jedes Interesse daran.

Übersetzung von Sophia Thoenes.


[1] Die Ausbildungsschule des Instituts La Boétie bietet einen einjährigen Lehrgang an, an dem bis zu 70 Aktivist*innen aus allen Regionen Frankreichs teilnehmen können. Der Lehrplan dieser «Kaderschule» ist in zwei Stufen gegliedert, die jeweils fünf Wochenendseminare umfassen. Die Kurse folgen vier thematischen Schwerpunkten: drei theoretische, die dem Materialismus, dem Zeitalter des Volkes (fr:. l’ère du peuple) und den zeitgenössischen Herausforderungen sowie dem globalen Humanismus gewidmet sind; und einer den aktivistischen Praktiken gewidmet ist.