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Ein engagierter Haustürwahlkampf war der Schlüssel zum linken Wahlerfolg in Frankreich

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Louise Héritier spricht auf einer Wahlkampfveranstaltung (eigenes Bild)

Bei den kurzfristig angesetzten Parlamentswahlen überraschte die französische Linke gleich zweifach: Innerhalb kurzer Zeit kam ein linkes Wahlbündnis – der Nouveau Front Populaire zustande und dieses Bündnis ging überraschend als stärkste politische Kraft aus den Wahlen hervor. Als ein Grund für diesen Erfolg wird der beteiligungsorientierte Wahlkampf gesehen, über den wir mit einer Aktivistin des Bündnisses sprechen.

Das Interview führte Lukas Ferrari, Dolmetscher, Internationalist und in der Linken in Leipzig aktiv. Er organisiert Bildungsreisen nach Italien, Spanien und Frankreich und schreibt zu gewerkschaftlichen Kämpfen und politischen Praxen, wenn er dort auf inspirierende Erfahrungen stößt.

Louise Héritier ist 27 Jahre jung, Schauspielerin und Mitglied der linken Partei La France Insoumise (LFI). Politisiert hat sie sich 2016 in der Protestbewegung gegen die damalige Arbeitsrechtsreform des sozialistischen Präsidenten François Hollande. Jetzt teilt sie mit den Sozialisten das gleiche Wahlbündnis, die nach der Europawahl gegründete Neue Volksfront. Anfang Juli war sie für die Parlamentswahl  Spitzenkandidatin des Bündnisses im Wahlkreis von Montluçon, einer Kleinstadt mit 35.000 Einwohner*innen im Herzen Frankreichs. Wie im gesamten Land hat auch hier die Neue Volksfront mit hunderten Aktiven einen beteiligungsorientierten Wahlkampf geführt. Beim zweiten Wahlgang unterlag sie nur knapp dem lokalen Kandidaten des rechtsextremen Rassemblement National (RN). Im Gespräch blickt sie auf ihre Erfahrung zurück und beschreibt Chancen und Grenzen eines auf Haustürgespräche ausgerichteten Wahlkampfes.

Louise , wie hast du das Ergebnis der Parlamentswahl am 7. Juli erlebt?

Wir alle dachten, dass das Rassemblement National (RN) gewinnen würde. In meinem Wahlkreis haben wir zwar verloren, dennoch war die Stimmung am Wahlabend sehr gut, weil das Bündnis nun die größte Fraktion in der Nationalversammlung stellt. Wir sind mit dem Ergebnis zufrieden, doch da wir keine absolute Mehrheit haben, ist es unklar, welche Veränderungen wir am Ende umsetzen können. Deswegen müssen wir den Druck weiter hochhalten, damit dieser Sieg tatsächlich das Leben der Menschen verbessern kann. Dieser Schwebezustand liegt vor allem daran, dass Macron Zeit schindet, um ein Bündnis mit den konservativen Republikanern und den Sozialisten vorzubereiten. Leider gibt es bestimmte Kräfte innerhalb der Neuen Volksfront, die sich Macron anbiedern und unseren Regierungsauftrag verraten wollen. Doch sollten die Sozialisten uns verraten, würde die linke Wählerschaft sie wirklich für immer hassen. Das war 2016 schon der Fall, als ich und viele andere gegen eine Arbeitsrechtsreform der Sozialisten auf die Straße gingen.

Viele haben zum ersten Mal einen Wahlkampf mitgemacht, einerseits weil sie begeistert waren, dass die Linke endlich zusammengerückt ist und andererseits aus Angst vor dem Rechtsruck. Wöchentlich ist unser Wahlkampfteam gewachsen.

Eigentlich würden die Sozialisten gerne mit Macron koalieren, doch sie wissen, dass sie dann politisch tot wären. Das Versagen des linken Wahlbündnisses NUPES (Nouvelle Union Populaire Écologique et Sociale) ist noch sehr frisch, deswegen ist der Druck auf die Neue Volksfront hoch und wir können uns keine Fehler erlauben. Nach dem Sieg sind wir der doppelten Herausforderung ausgesetzt, zusammenzuhalten und Macron das Programm aufzuzwingen. So viel zur jetzigen Situation. Im Wahlkampf war die Stimmung unter den Aktiven aber grandios, alleine aufgrund der Tatsache, dass es zu diesem Bündnis kam. Viele neue Aktivist*innen haben sich uns angeschlossen, auch aus Angst vor einem Sieg der Rechtsextremen.

Wie wurde das Programm entwickelt?

Im Grunde ist das Programm der Neuen Volksfront eine gekürzte Version des Programms der NUPES, welches wiederum aus dem Programm von La France Insoumise (LFI) hervorgegangen ist. Letzteres wurde 2017 im Austausch mit Wohlfahrtsverbänden, Gewerkschaften, Umwelt- und Menschenrechtsorganisationen verfasst. Dank dieser bereits existierenden programmatischen Grundlage waren wir in der Lage, schnell Abkommen zu unterzeichnen. Dadurch konnten sich breite Teile der Bevölkerung mobilisieren und hinter uns stellen. Ich möchte an der Stelle präzisieren, dass dies kein gewöhnliches Programm war, sondern ein Legislaturvertrag, der auf nationaler Ebene unterzeichnet wurde. Damit verpflichtet sich die Neue Volksfront auf einen Maßnahmenkatalog und einen klaren Zeitplan. Zum Beispiel wird innerhalb der ersten 15 Tagen der Mindestlohn erhöht und die Rentenreform von Macron abgeschafft. Dann folgen die nächsten 100 Tage, in denen weitere Maßnahmen anstehen. Die Wähler wussten ganz genau, was sich wann für sie ändern sollte und vertrauten uns.

Wie war deine Kampagne strukturiert?

Nachdem ich als Kandidatin von der nationalen Ebene bestimmt wurde, haben wir ein Wahlkampfteam zusammengestellt. Zehn Personen übernahmen die koordinierenden Funktionen: soziale Netzwerke, Plakatieren, Aktionskalender, ein Schatzmeister, Presse, Wahlanalyse und Kampagnenleitung. Darüber hinaus gab es 50 bis 100 Aktive, die auf Märkten, Dorffesten, in Schulen, an Kreisverkehren und vor Supermärkten plakatieren gingen, die Haustürgespräche führten und Bürgerversammlungen veranstalteten. Die Gewerkschaften haben wöchentliche Demonstrationen organisiert, an denen bis zu 500 Personen teilnahmen, was für Montluçon ziemlich gut ist. Die Aktiven der Kommunistischen Partei ihrerseits organisierten Versammlungen in ländlichen Gebieten, wo sie am tiefsten verankert sind. Es entstand eine sehr produktive Zusammenarbeit zwischen den Gewerkschaften, der Kommunistischen Partei und uns von LFI. Gemeinsam mit den Sozialisten waren wir die beiden einzigen Parteien, die auf lokaler Ebene genügend Mitglieder hatten, um wirklich Haustürgespräche zu führen. Zum Wochenbeginn trafen wir uns mit den Verantwortlichen der verschiedenen Parteien der Neuen Volksfront, um gemeinsam zu entscheiden, was wir tun würden.

Wie habt ihr eure Wahlkampfaktionen organisiert?

Zu Beginn gab es bereits drei verschiedene Emailverteiler, unseren von LFI,  den vom Bündnis NUPES und dann hatten die anderen Parteien noch ihre eigenen Kontakte. Zusätzlich haben wir Menschen in unserem Umfeld und auf der Straße angesprochen und gefragt, ob sie unseren Wahlkampf unterstützen wollen. An all diese Personen wurde ein wöchentlicher Aktionskalender verschickt. Dann hatten wir als LFI noch unsere eigene App «Action populaire», die sehr zugänglich ist und deswegen auch perfekt funktionierte, um Menschen einzubinden. Auf der App klickst du auf eine Ortsgruppe in deiner Nähe und kannst schauen, wann und wo welche Veranstaltung oder Aktionen angeboten werden. Das hat sich in der Neuen Volksfront als sehr praktisch erwiesen, um Kontakte zu sammeln und den Menschen ein niedrigschwelliges Beteiligungsangebot zu machen. Viele haben zum ersten Mal einen Wahlkampf mitgemacht, einerseits weil sie begeistert waren, dass die Linke endlich zusammengerückt ist und andererseits aus Angst vor dem Rechtsruck. Wöchentlich ist unser Wahlkampfteam gewachsen, weil wir Leute trafen, ihre Kontakte sammelten und in Telegram-Gruppen einbanden. Dort wurden dann die Details zu den Aktionen diskutiert und dann ging’s los.

Welche Menschen konntet ihr dadurch aktivieren?

In unserer Region gibt es viele ältere Parteiaktive, die ursprünglich aus den Gewerkschaften und der Kommunistischen Partei kamen, dann aber LFI in unserer Region aufgebaut haben. In den letzten Jahren sind dann eher jüngere Menschen dazugestoßen, die ich zur Mittelschicht zählen würde, die keine großen materiellen Schwierigkeiten haben und sich den politischen Aktivismus leisten können. Außerdem sind wir ein sehr weißer Aktivenkreis, was allerdings auch ein Abbild der Region ist, in der wir uns befinden. Unter ihnen gibt es auch Leute, die bei der Bewegung der Gelbwesten dabei waren und die im Nachhinein LFI beigetreten sind. Im Allgemeinen ist es natürlich schwer, diese Mobilisierung und den Schwung an Neumitgliedern in Zahlen zu fassen, weil sowohl die anderen Parteien als auch die Gewerkschaften Neumitglieder organisieren konnten. Und dann gibt es noch all die Personen, die sich am Wahlkampf beteiligt haben, aber keiner Organisation beigetreten sind. Doch was uns betrifft, haben sich alleine innerhalb der ersten zwei Tage nach der Europawahl 13.000 Menschen in der App von LFI angemeldet und davon sind 7.000 einer Aktionsgruppe beigetreten. Am Ende des Wahlkampfes waren es 50.000 neu angemeldete Menschen und 20.000 neue Aktive.

Was hat diesen Wahlkampf von denen unterschieden, die du bisher erlebt hattest?

Der größte Unterschied bestand darin, dass bei dieser Wahl sehr viele Menschen gemerkt haben, dass das Rassemblement National wirklich stärkste Kraft werden könnte. Besonders, nachdem RN die Europawahlen schon zum dritten Mal gewonnen hatte und in den Umfragen auch vorn lag. Dieser Schock hat in großen Teilen der Bevölkerung aktivierend gewirkt. Andererseits hat der Zusammenschluss aller grünen und linken Kräfte in der Neuen Volksfront auch für viel Enthusiasmus gesorgt. Diese doppelte aktivierende Dynamik habe ich so noch nie erlebt. Man muss auch dazu sagen, dass es bei dieser Wahl für viele der anderen Parteien ums Überleben ging, sie mussten praktisch eine derart mobilisierende Kampagne machen. Deswegen war die Beteiligung im ganzen Land auch so groß.

Es macht einen Unterschied, ob man mich in einem Arbeiterviertel an der Tür wiederkennt. Doch dieses Vertrauen baut man nicht mit einer Kampagne auf, denn die Verdrossenheit gegenüber ‹der Politik› ist zu groß.

Eine weitere Besonderheit war die Rolle der Gewerkschaften CGT und SUD Solidaires, die schon im ersten Wahlgang ihre Mitglieder dazu aufgerufen haben, der Neuen Volksfront ihre Stimme zu geben. Das war ein Novum und ein starkes Zeichen. Daraufhin sind Mitglieder aus der Gewerkschaft ausgetreten, weil sie überzeugte RN-Wähler*innen waren. Sie haben nicht nur zur Wahl der Neuen Volksfront aufgerufen, sondern auch eigenes Material erstellt, in dem sie klare Kante gegen den RN zeigten. Ein großer Unterschied zu den vorherigen Wahlen war die Wahlbeteiligung. Beim letzten Mal lag sie bei 50 Prozent, jetzt bei 70. In den Jahren zuvor wussten die Menschen teilweise gar nicht, dass es Parlamentswahlen gab, diesmal waren sie überall präsent

Was glaubst du, welche Rolle hat die Verdrossenheit gegenüber Macron gespielt?

Macron mag in Frankreich keiner mehr. Das eigentliche Problem ist unserer Meinung nach, wer als Alternative zu ihm wahrgenommen wird. In unserer Region ist das leider RN. Das liegt unter anderem daran, dass die großen Fernsehsender vom Milliardär Vincent Bolloré rechtsextreme Inhalte propagieren. Hier bei gibt es viele arme Menschen, die sehr isoliert leben. In ihrem Alltag spielen Gemeinschaft und Solidarität keine Rolle. Deswegen sind sie ziemlich anfällig dafür, diese verzerrten Informationen zu glauben, zum Beispiel, dass es zu viel Immigration gibt, dass wir uns diese nicht leisten können usw. Beim Haustürwahlkampf bestand unsere Rolle darin, auf diese Menschen zuzugehen und sie nach ihren Anliegen und Problemen zu fragen. Dabei ging es gleichzeitig auch darum, unsere Forderungen an die Türen zu bringen und das letzten Endes sozial ungerechte Programm des Rassemblement National zu entschleiern. Denn diese Menschen werden vom Antimigrationsdiskurs angezogen, sehen dabei aber nicht, dass RN eigentlich den gleichen Sozialabbau wie Macron vertritt. Es reicht deswegen nicht gegen Rechts zu sein, man muss an den Türen die soziale Frage stellen.

Welche Bilanz habt ihr aus eurem Haustürwahlkampf gezogen?

In absoluten Zahlen hat die Neue Volksfront 2024 genauso viele Stimmen bekommen wie alle linken Parteien 2022 zusammen. Wir gehen deswegen davon aus, dass wir die gesamte potenzielle linke Wählerschaft erreicht haben. Vielleicht gab es hier und dort ein paar Nichtwähler*innen, die uns ihre Stimme haben. Doch aufgrund einer nationalen Dynamik ist die Mehrheit der Nichtwähler schon zum RN gegangen. Und RN hat wohlgemerkt keinen Haustürwahlkampf gemacht. Diese Wahlkampagne hat gezeigt, dass du trotz eines breit getragenen Haustürwahlkampfes innerhalb von drei Wochen in der Masse nicht das Wahlverhalten verändern kannst. Unserer Einschätzung nach haben wir es aber geschafft, unsere Wählerschaft zu «radikalisieren», sowohl in ihrem Wahlverhalten als auch in ihrer politischen Praxis.

Natürlich haben wir auch Anfeindungen erlebt. Ich denke, dass ein Haustürwahlkampf das strukturelle Wahlverhalten verändern kann, wenn er langfristig angesetzt ist. Es macht einen Unterschied, ob man mich in einem Arbeiterviertel an der Tür wiederkennt. Doch dieses Vertrauen baut man nicht mit einer Kampagne auf, denn die Verdrossenheit gegenüber «der Politik» ist zu groß. «Ihr kommt doch nur, weil Wahlen anstehen, ihr meine Stimmen wollt, um an die Macht zu kommen und uns abzuzocken»: dieser Argumentation bin ich an der Tür häufig begegnet. Bei solchen Einstellungen haben wir versucht glaubhaft zu machen, dass wir nicht von dieser liberalen Linken sind, die die Arbeiter verraten hat, sondern dass wir einen Bruch sowohl mit der neoliberalen Agenda von Macron als auch mit den Rechtsextremen wollen. Doch solche gefestigten Weltanschauungen veränderst du nicht mit einer Wahlkampagne.

Wie seid ihr mit den begrenzten Ressourcen eurer Kampagne umgegangen?

Bei der vergangenen Parlamentswahl haben wir die Kräfte unseres Haustürwahlkampfes auf Wahlkreise kanalisiert, in denen zuletzt tendenziell links gewählt wurde, um dort unsere Wählerschaft weiter auszubauen. Dabei ging es darum, unser Programm zu vertreten, aber oft auch darum, das Wahlverfahren zu erklären:  Wo sind die Wahllokale, welche Unterlagen muss man mitbringen und wie und wie funktioniert die Briefwahl? Viele Menschen nutzen ihr Wahlrecht nicht, weil sie nicht wissen wie. Eine zusätzliche Hürde besteht darin, dass sich in Frankreich alle Bürger*innen selbst auf eine Wahlliste eintragen müssen, wenn sie teilnehmen wollen.

Um die Wahlbeteiligung noch weiter zu erleichtern, haben wir am Wahltag in manchen Haustüreingängen Plakate mit der Wegbeschreibung zum Wahllokal und seinen Öffnungszeiten verteilt. Diese Arbeit hat sich besonders in den ärmeren Ballungsgebieten der Großstädte ausgezahlt, wo wir teilweise super aufgenommen wurden und die Menschen von unserem Programm begeistert waren. Wären wir dort nicht an den Türen gewesen, hätten diese Menschen weder von unserem Programm erfahren, noch gewusst, wie sie wählen können. Die wachsende Wahlbeteiligung zu unseren Gunsten im Departement 93, dem ärmsten Bezirk Frankreichs, ist ein Beweis dafür.

Was habt ihr euch für die Zukunft vorgenommen?

Was wir im Rahmen der Parlamentswahl getan haben, ist meiner Meinung nach noch kein wirklicher Haustürwahlkampf. Der muss langfristig angesetzt sein. Deswegen wollen wir künftig mit Fragebögen an die Türen gehen, um herauszufinden, was die wirklichen Bedürfnisse der Menschen sind. Mit den Ergebnisse dieser Umfragen wollen wir in einem zweiten Schritt Bürgerversammlungen einberufen, um unser Programm für die Kommunalwahlen 2026 zu schnüren. Ich hoffe, dass wir dadurch die Dynamik der letzten Monate aufrechterhalten können. Für diesen Haustürwahlkampf haben wir seit den Europawahlen ein neues Online-Tool erstellt. Das heißt Canvass. Dieses Tool besteht aus einer Karte mit Informationen über das Wahlverhalten in einer bestimmten Region und dabei ist der Algorithmus mit Daten des statistischen Bundesamtes INSEE unterfüttert. Damit haben wir Zahlen zu der Bevölkerungsdichte, zur Alters- und Einkommensstruktur eines Wahlkreises. Dieses Tool kann uns also direkt sagen, wo unsere potenzielle Wählerschaft am größten ist. Ich betone potenziell, weil unsere grundlegende Strategie darin besteht, Nichtwähler*innen zu aktivieren. Es geht darum, das Vertrauen der Menschen in die Politik zurückzugewinnen.