Nachricht | Krieg / Frieden - Libanon / Syrien / Irak - Rosa-Luxemburg-Stiftung «Israel und die Hisbollah halten sich nicht mehr an klare Regeln»

Gespräch mit Corinna Bender, die das Stiftungsbüro in Beirut in den Tagen der militärischen Eskalation übernimmt

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Rettungseinsatz in einem südlichen Vorort von Beirut, nachdem das isaelische Militär das Haus eines Kommandeurs der Hisbollah bombadiert hat (30.7.2024). Foto: IMAGO / NurPhoto

Vor einigen Tagen hast Du die Büroleitung der RLS in Beirut übernommen. Die Lage ist angespannt, eine militärische Eskalation zwischen Iran und Israel steht kurz bevor. Was bedeutet das für den Libanon?

Corinna Bender ist Leiterin des Regionalbüros im Libanon. Sie hat Interkulturelles Konfliktmanagement studiert und ist seit über 10 Jahren mit der Region Westasien sowohl privat als auch beruflich eng verbunden. Das Gespräch mit ihr führte Katja Hermann, Referentin im Westasien-Referat der Rosa-Luxemburg-Stiftung.

Die Lage ist äußerst angespannt und auch die Menschen vor Ort sind sehr angespannt, sie haben Angst, dass ganz Libanon in den Konflikt zwischen der Hisbollah und Israel hereingezogen wird. Seit zwei Tagen fliegen israelische Kampfflugzeuge im Tiefflug über Beirut und durchbrechen dabei die Schallmauer, was zu ohrenbetäubenden Überschallknallen führt, die Angst und Schrecken verbreiten. Die Fensterscheiben klirren so stark, dass man befürchten muss, sie könnten zerspringen, weshalb es sicherer ist, die Fenster offen zu lassen.

Heute hatte ich ein Online-Team-Meeting mit meinen Kolleginnen in Beirut – ich selbst wurde vor einigen Tagen nach Deutschland evakuiert. Während des Meetings flogen Jets über Beirut, und der Knall war so laut, dass das Bild auf meinem Laptop wackelte. Meine Kolleginnen waren zutiefst verängstigt und erschüttert, in Sorge, dass der Krieg nun beginnt. Eine Kollegin aus dem Süden des Libanons, wo der gewaltsame Konflikt bisher hauptsächlich stattfindet, sagte zu mir, dass sie diese Knalle gewohnt sei, aber dass die Tatsache, dass es jetzt auch in Beirut passiere, zeige, wie sehr die Situation eskaliere.

All das ist Teil der psychologischen Kriegsführung, die Israel gegen die Einwohner*innen im Libanon führt. Israel rasselt mit den Säbeln als klare Warnung an die Hisbollah, dass sie ihre Vergeltungsschläge sorgfältig abwägen und die möglichen Konsequenzen bedenken solle. Darunter leidet vor allem die Bevölkerung, die dadurch an traumatische Erlebnisse aus der Vergangenheit erinnert wird: den 15-jährigen Bürgerkrieg (1975-1990), den Krieg gegen Israel im Jahr 2006 und die schreckliche Hafenexplosion im Sommer 2020.

Nach dem Angriff auf Majdel Shams hat sich die Situation verändert. Die Aggressionen sind auch physisch in Beirut spürbar geworden.

Daher gibt es durchaus Stimmen, die hinter vorgehaltener Hand sagen, dass die Gegenschläge der sogenannten Achse des Widerstandes anlässlich der gezielten Tötungen des hochrangigen Hisbollah-Kommandeurs Fuad Shukr in Süd-Beirut und des Politbüro-Chefs der Hamas, Ismail Hanija in Teheran, nun endlich beginnen sollen. Damit könnte die Lage besser eingeschätzt werden und die Menschen müssten nicht weiter in Angst vor dem Ungewissen leben.  

Seit dem 7. Oktober letzten Jahres gibt es vermehrt Angriffe und Gegenangriffe zwischen Israel und der Hisbollah im Grenzgebiet. Längst sind dies nicht mehr die üblichen «Scharmützel». Wie wird diese Situation in Beirut wahrgenommen?

Ich würde hier einen Unterschied machen wollen zwischen dem jüngsten Ereignis – dem furchtbaren Angriff auf das drusische Dorf Majdel Shams auf den Golanhöhen[1] – und der Situation davor. Vorher waren sich alle der Gefahren im Süden Libanons bewusst. Über 90.000 Menschen mussten dort ihre Häuser verlassen, ganze Dörfer wurden zerbombt, Landstriche durch Phosphorbomben für viele Jahre für die Landwirtschaft unkultivierbar und damit unbewohnbar gemacht, und viele Zivilist*innen, darunter auch Journalist*innen und Sanitäter*innen, wurden getötet.

Trotzdem verliefen die Aggressionen von beiden Seiten – Hisbollah und Israel – innerhalb bestimmter roter Linien. Diese relative Berechenbarkeit gab den Menschen ein Gefühl von Sicherheit und Kontrolle. Das alltägliche Leben in Beirut ging – trotz der allgegenwärtigen Anspannung – in all seinen farbenfrohen Facetten weiter. Gleichzeitig, denke ich, wollten sich viele Menschen auch nicht mit der Möglichkeit eines regionalen Krieges, der auch den gesamten Libanon betreffen könnte, auseinandersetzen.

Nach dem Angriff auf Majdel Shams hat sich die Situation verändert. Die Aggressionen sind auch physisch in Beirut spürbar geworden, wie oben beschrieben. Es gibt keine klaren Regeln mehr, nach denen sich Israel und die Hisbollah richten. Im besten Fall werden die roten Linien jetzt neu «verhandelt» und festgelegt.

Auch wir haben unseren lokalen Mitarbeiter*innen eine Möglichkeit geschaffen, außerhalb von Beirut unterzukommen, für den Fall der Zuspitzung der Situation in der Hauptstadt.

Es ist davon auszugehen, dass die zu erwartende Eskalation zwischen Israel und Iran (auch) über die Hisbollah gespielt wird. Wie wird das vor Ort diskutiert und wie bereiten sich die Menschen auf den Ernstfall vor?

Darüber wird nicht diskutiert, sondern es wird vielmehr als gesetzt angenommen. Gleichzeitig halten sich der Iran und die Hisbollah bedeckt über den zu erwartenden Vergeltungsschlag. Nasrallah, der Generalsekretär der Hisbollah, hat in seiner jüngsten Rede angedeutet, dass ein Gegenschlag vom Jemen, Iran und der Hisbollah folgen wird, jedoch ließ er offen, wie dieser konkret aussehen wird. Er deutete an, dass der angekündigte, aber bislang noch nicht durchgeführte Gegenschlag schon Teil der psychologischen Kriegsführung ist, um Israel bereits im Vorfeld zu belasten.

Das ist tatsächlich denkbar, allerdings ist meine Einschätzung auch, dass sie warten, bis sich die USA und ihre Alliierten koordiniert haben, um den folgenden Angriff, ähnlich wie dem iranischen Drohnenangriff im April auf Israel, mit möglichst wenig Schäden für Israel abzufangen. Dann wäre Israel nicht gezwungen, seinerseits mit einem massiven Vergeltungsschlag gegen den Iran oder den Libanon zu reagieren.

Ganz konkret haben Libanes*innen, die die Mittel und Möglichkeit dazu haben, sich Zufluchtsorte vor allem in den Bergen nahe Beirut gesucht, in die sie bei Bedarf flüchten können. Auch wir haben unseren lokalen Mitarbeiter*innen eine Möglichkeit geschaffen, außerhalb von Beirut unterzukommen, für den Fall der Zuspitzung der Situation in der Hauptstadt.

Die Regierung bereitet sich auf den Ernstfall vor, indem sie Notfallpläne erarbeitet und einen Krisenstab eingerichtet hat. Ob und wie gut dieser Notfallplan ist, kann ich nicht beurteilen. Laut dem Gesundheitsminister Firas Abiad sind die Krankenhäuser vorbereitet und Kliniken im Süden wurden anscheinend mit zusätzlichen Medikamenten und Ausstattung versorgt, um Verletzungen und Brandwunden versorgen zu können. Wie die Regierung allerdings auf Angriffe auf das Telefonnetz bzw. die Internet- und Stromversorgung reagieren möchte, bleibt unklar. Auch scheint die Regierung keine Antworten zu haben, wenn tatsächlich der Beiruter Flughafen – wie im Israel-Libanon Krieg 2006 – oder andere Infrastruktur wie Brücken und Autobahnen angegriffen würden. Dies zeichnet ein sehr dunkles Bild im Fall eines Angriffs und macht den Menschen vor Ort natürlich große Angst. Das macht es nur umso wichtiger, dass nun diplomatische Wege gefunden werden, um die Situation zu deeskalieren.

Die eskalierende Situation in Westasien kann nicht durch eine Schwarz-Weiß-Brille betrachtet werden, sondern muss in ihrer gesamten Komplexität und Geschichte analysiert werden. Das fehlt mir sehr in der deutschen Debattenkultur.

Abgesehen von der gegenwärtigen Lage ist der Libanon schon lange mit multiplen Krisen konfrontiert. Worin siehst Du die größten Herausforderungen für das Land?

Der Libanon ist mit zahlreichen Krisen konfrontiert, die sich gegenseitig bedingen und beeinflussen. Es ist also wirklich eine Frage der Perspektive, welche der vielen Krisen die größte Herausforderung darstellt. Um nur einige zu nennen: Die Wirtschaftskrise, die Korruption, die Regierungskrise, und die fehlende Aufarbeitung der Hafenexplosion.

Besonders hinderlich bei der Bewältigung dieser Krisen sehe ich das politische System des Landes. Es ist ein Proporz- beziehungsweise ein Patronage-System, das entlang konfessioneller Linien verläuft. Dies fördert Korruption, beeinträchtigt die Effizienz der Regierung und führt zu sozialer Ungerechtigkeit. Unabhängige und konfessionslose Abgeordnete haben kaum die Möglichkeit, ins Parlament gewählt zu werden und die Geschicke des Landes mitzugestalten. Stattdessen dominieren Parteien, die eher daran interessiert sind, ihre Macht zu erhalten, als tiefgreifende Reformen umzusetzen.

Um die genannten Krisen wirklich anzugehen, müssten Personen in Machtpositionen ihre Stühle räumen. Vor diesem Hintergrund ist es besonders wichtig, progressive Kräfte zu unterstützen, die Rechenschaftspflicht und Reformen fordern.

Welche Rollen haben internationale Akteure wie Stiftungen und NGOs in dieser schwierigen Gemengelage?   

Meiner Meinung nach besteht unsere Aufgabe darin, zum einen bei einer Eskalation des Konfliktes Zeug*innen von potenziellen Kriegs-bzw. Menschenrechtsverbrechen zu sein und zum anderen die lokalen Perspektiven und Komplexitäten der Situation in unsere Entsendungsländer zu tragen, um zu einer vielfältigen Debattenkultur beizutragen und gleichzeitig für diplomatische Lösungen zu werben. Die eskalierende Situation in Westasien kann nicht durch eine Schwarz-Weiß-Brille betrachtet werden. Stattdessen muss sie in ihrer gesamten Komplexität und Geschichte analysiert werden. Das fehlt mir sehr in der deutschen Debattenkultur. Mir fehlen die Nuancen und die aufrichtige Auseinandersetzung der westlichen Länder mit ihrem eigenen Beitrag zur stetigen Eskalation in Westasien und was sie tun könnten, um diese zu mindern.

Zu welchen Themen arbeitet die RLS in Beirut und wie versteht Ihr Eure Rolle als linke Stiftung?

Unser Büro arbeitet zu intersektionalem Feminismus, Migration, Rechenschaftspflicht und Ernährungssouveränität und kooperiert dabei mit Partnerorganisationen im Libanon und im Irak. Darüber hinaus analysieren wir die Entwicklungen in Syrien und Iran und beobachten dort Trends und politische Entwicklungen. Unsere Rolle sehen wir darin, in den genannten Bereichen vor allem linke und progressive Projekte sowie lokale NGOs zu unterstützen. Besonders wichtig sind uns dabei Akteur*innen, die aufgrund ihrer Marginalisierung und Progressivität wenige Fördermöglichkeiten haben oder deren Arbeit durch schrumpfende zivile Räume besonders bedroht ist.

Was glaubst Du, kann die deutsche Linke von den Linken im Libanon lernen?

Im Jahr 2019 gab es eine riesige Protestwelle, bei der sich viele linke Bewegungen zusammengeschlossen haben, um gegen Korruption, Misswirtschaft und die politische Elite zu protestieren und Reformen zu fordern. Leider brach diese Aufbruchsstimmung wieder in sich zusammen, da sich die Wirtschaftskrise verschärfte, COVID-19 hinzukam und die Hafenexplosion die Situation weiter verschlimmerte. Die Menschen wurden durch diese Krisen wieder auf sich selbst und ihre eigenen Strukturen zurückgeworfen.

Nichtsdestotrotz gibt es immer noch Inseln dieser Bewegungen, die sich wacker halten und weiter an ihren Zielen arbeiten. Von dieser Zähigkeit und der Fähigkeit, sich trotz Rückschlägen nicht entmutigen zu lassen, können wir als deutsche Linke viel lernen.

Bei all den Herausforderungen, die vor Dir liegen, auf was freust Du Dich im Libanon?

Danke für diese positive Abschlussfrage. Leider bin ich nach nur wenigen Tagen vor Ort aufgrund der Sicherheitslage erst einmal wieder nach Deutschland zurückgekehrt. Das macht meine Anfangszeit als neue Büroleitung natürlich nicht einfach. Gleichzeitig zeigt sich in Krisenzeiten, wie gut Strukturen und ein Team funktionieren. Meine Kolleg*innen in Beirut und im Irak sind einfach fantastisch. Trotz der unvorstellbaren Herausforderungen halten sie den operativen Betrieb im Büro so gut es eben geht am Laufen und unterstützen sich gegenseitig. Ich ziehe wirklich meinen Hut vor ihnen. Ich freue mich sehr darauf, bald wieder im Büro zu sein und unsere Arbeit vor Ort mit dem Team voranzutreiben. Außerdem ist der Libanon ein wunderschönes und vielfältiges Land mit tollen Menschen, dass es weiter zu entdecken und zu bewandern gilt. Darauf freue ich mich auch schon sehr.


[1] Der Angriff fand am 27.07.2024 statt und wird der Hisbollah zugeschrieben.