Nachricht | Rassismus / Neonazismus - Migration / Flucht - UK / Irland - Westeuropa Großbritanniens schlimmsten rassistischen Unruhen seit einem Jahrhundert

Die hässlichen Szenen in UK ereignen sich in einer Zeit tiefer sozialer Unsicherheit

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James Poulter,

Tausende demonstrieren gegen Rechtsextremismus in Walthamstow, London, 7. August 2024.
Tausende demonstrieren gegen Rechtsextremismus in Walthamstow, London, 7. August 2024. Foto: IMAGO / Avalon.red

Das Vereinigte Königreich erlebt die schlimmsten rassistischen Ausschreitungen seit 1919, als weiße Arbeiter, aufgebracht über die hohe Arbeitslosigkeit und den Wohnungsmangel, in einer Welle von Straßengewalt und Zerstörung von Eigentum ihre Empörung gegen Minderheiten richteten. Fünf Menschen wurden dabei in Glasgow, South Shields, Salford, London, Hull, Newport, Barry, Liverpool und Cardiff getötet. Ähnliche Szenen sind heute vielerorts zu beobachten. In der vergangenen Woche wurde in Middlesbrough ein Pogrom angezettelt, in Rotherham und Tamworth wurden von randalierenden Mobs Hotels in Brand gesteckt, in denen Geflüchtete untergebracht waren. Im ganzen Land kam es zu migrationsfeindlichen Ausschreitungen, bei denen rassistische Übergriffe an der Tagesordnung sind. Fast 500 Menschen wurden festgenommen.

James Poulter ist ein investigativer Journalist, der über die extreme Rechte in Großbritannien berichtet.

Der Vorfall, der die Unruhen auslöste, war ein entsetzlicher Angriff auf eine Kindertanzveranstaltung in Southport, bei dem drei Mädchen getötet und weitere schwer verletzt wurden. Der Täter wurde am Tatort verhaftet, aber nicht öffentlich identifiziert, weil er unter 18 Jahre alt war. Die extreme Rechte hat die fehlende Identität ausgenutzt und das unwahre Gerücht verbreitet, der Täter sei ein Muslim, der auf einer Beobachtungsliste für Terroristen stehe – eine Behauptung, für die sie keine Belege hatten.

Bevor die Identität des Täters aufgedeckt wurde, veröffentlichte ein prominenter Mitarbeiter von Stephen Yaxley-Lennon (besser bekannt als Tommy Robinson), Daniel Thomas (alias Danny Tommo), ein aufhetzendes, inzwischen gelöschtes Video, in dem er sagte, «jede Stadt muss sich erheben», und seine Anhänger aufforderte, «sich vorzubereiten» und «bereit zu sein», da «es in verschiedenen Städten losgehen muss».

Yaxley-Lennon ist der ehemalige Anführer der English Defence League (EDL), einer Organisation, die seit mehr als fünf Jahren nicht mehr existiert und die von einigen Polizisten und Politikern fälschlicherweise für die Unruhen verantwortlich gemacht wird. Yaxley-Lennon ist nach einer Zeit, in der ihm die Mobilisierung von Anhängern schwer fiel, wieder der wichtigste Influencer der britischen extremen Rechten. Im November letzten Jahres stellte Elon Musk seinen Twitter-Account wieder her, und Yaxley-Lennon hat nun über 900.000 Follower auf dieser Plattform. Nur wenige Tage vor dem Anschlag in Southport veranstaltete er in London einen Protest gegen die «Zwei-Klassen-Polizei», an dem nach Angaben seiner Unterstützer über 20.000 Menschen teilnahmen.

Am Tag des Anschlags wurde ein Telegram-Gruppenchat mit dem Namen «Southport Wake Up» eingerichtet. Diese Gruppe war eine der Quellen für den Aufruf zu einer Demonstration in Southport am folgenden Abend. Zu dem Protest wurde auch über einen lokalen Instagram-Account aufgerufen, der mit den migrationsfeindlichen Ausschreitungen in Knowsley im Februar 2023 in Verbindung stand. Nach dem ersten Aufruf erstellte der regionale Organisator der faschistischen Gruppe Patriotic Alternative (PA) in Wales, Joe Butler (alias Joe Marsh), eine eigene Grafik im PA-Design und teilte sie auf seinem Telegram-Kanal. Der Telegram-Chat «Southport Wake Up» schlug vor, vor dem Protest die Moschee anzugreifen.

Die Ursachen liegen auf der Hand: Beide großen Parteien und die Medien haben seit den 1960er Jahren abwechselnd rassistische Einwanderungsgesetze entworfen und moralische Panik vor Geflüchteten und Asylbewerbern, vor ‚schwarzer Kriminalität‘, ‚asiatischen Kinderbanden‘ und ‚muslimischen Terroristen‘ geschürt. Die rassistische Gewalt, die wir jetzt erleben, ist eigentlich eine Konstante in der britischen Gesellschaft.

Bei den Ausschreitungen in Southport, die über zwei Stunden dauerten, wurden 27 Polizisten ins Krankenhaus eingeliefert, eine Moschee angegriffen und ein Polizeiwagen angezündet. In der Menge befanden sich der PA-Aktivist David Miles aus Birmingham und der verurteilte Neonazi-Terrorist Matthew Hankinson, der sich in der verbotenen rechtsextremen Gruppe National Action engagierte, sowie rechtsextreme Fußball-Hooligans und lokale Rassisten.

Miles stellte sich dabei demonstrativ vor die Bereitschaftspolizei und trug dabei ein T-Shirt mit dem Slogan «Free Sam Melia». Melia, der regionale Organisator der PA in Yorkshire, verbüßt derzeit eine Haftstrafe wegen der Herstellung rassistischer Aufkleber. Unter den Demonstranten befand sich auch Rikki Doolan, der wenige Tage zuvor auf der Bühne der Yaxley-Lennon-Demonstration im Zentrum Londons aufgetreten war. Doolan wurde von anderen Demonstranten als «anti-weißer Drecksack» kritisiert, weil er in einer Debatte mit Laura Melia, der stellvertretenden Anführerin der PA, gegen einen Ethno-Nationalismus argumentiert hatte.

Die Unruhen breiten sich aus

Am folgenden Tag, dem 31. Juli, begannen sich die Unruhen im ganzen Land auszubreiten. Bei einem Protest in London, zu dem Thomas aufgerufen hatte, kam es nach Auseinandersetzungen mit der Polizei zu über 100 Festnahmen. Unter den Teilnehmern befand sich auch Nicholas Tenconi, Interimsvorsitzender der UK Independence Party und Geschäftsführer von Turning Point UK. In Manchester und Aldershot, beides Orte, an denen die PA in der Vergangenheit Spannungen gegen Migranten geschürt und an der Organisation von Protesten mitgewirkt hat, kam es zu Protesten gegen ein Hotel für Migranten. In Manchester wurden zwei Demonstranten wegen gewalttätiger Ausschreitungen festgenommen. In Hartlepool artete ein Anti-Migranten-Protest in einen Aufruhr aus.

Allan Jones, ein Sprecher der antifaschistischen Rechercheure von Red Flare, sagt: «Es gibt keine einzelne Gruppe, die hinter den Krawallen steckt, obwohl mehrere rechtsextreme Gruppen daran beteiligt waren. Yaxley-Lennon und Thomas' Anhänger sind Teil der post-organisierten extremen Rechten, wo Menschen, die rechtsextreme Inhalte im Internet konsumieren, Netzwerke um Personen wie Yaxley-Lennon und andere migrationsfeindliche Meinungsmacher bilden. Die EDL gibt es nicht mehr. Was wir jetzt haben, ist eine Reihe von sich überschneidenden Netzwerken, in denen sich Botschaften wie die von Thomas viral verbreiten können.»

Jones fügt hinzu: «In Hartlepool glauben wir, dass dieselben sich überschneidenden Netzwerke von organisierten und post-organisierten rechtsextremen Aktivisten sich mit lokalen Rassisten zusammengetan haben, um Unruhen gegen Migranten auszulösen. Wir haben gesehen, dass Proteste in bestehenden migrantenfeindlichen und rechtsextremen Hooligan-Facebook-Gruppen und in großen WhatsApp-Gruppen organisiert und beworben wurden. Dieses Muster, bei dem Menschen Sharepics erstellen, die zu Protesten aufrufen, und diese dann online über diese verschiedenen Netzwerke teilen, hat es ermöglicht, dass sich die Krawalle organisch im ganzen Land ausbreiten konnten.»

Zwei Tage später, am Freitagabend (2. August), weiteten sich die Krawalle auf Sunderland aus, wo eine Polizeistation in Brand gesetzt, ein Uber-Taxi angezündet und Geschäfte geplündert wurden. Vier Polizeibeamte wurden ins Krankenhaus eingeliefert und 12 Personen verhaftet. Dies gab den Ton für das Wochenende an. In Liverpool versammelten sich rund 200 Antifaschisten vor einer Moschee und übertrafen damit die kleine rechtsextreme Demonstration, die auf der anderen Straßenseite stattfand.

Am Samstag fanden Anti-Migranten-Proteste in Leeds, Manchester, Nottingham, Liverpool, Stoke-on-Trent, Leicester, Blackpool, Blackburn, Preston, Bristol, Hull und Belfast statt. In Leeds, Manchester, Nottingham und Liverpool wurden mehrere dieser Demonstrationen von antifaschistischen Gegenprotesten begleitet. In Blackpool griffen Punks des Rebellion-Festivals die Anti-Migranten-Demonstration an. In Stoke-on-Trent wurde ein migrantenfeindlicher Demonstrant nach Zusammenstößen mit Muslimen, die eine Moschee verteidigten, blutüberströmt zurückgelassen. Clips von ihm gingen in der extremen Rechten als Beispiel für muslimische Gewalt gegen weiße Männer viral. Später stellte sich heraus, dass der blutende Mann ein Neonazi und Besucher von Blood & Honour-Konzerten war.

Am Samstagabend kam es in Liverpool zu Ausschreitungen, bei denen Geschäfte geplündert, eine Bibliothek niedergebrannt und die Polizei angegriffen wurde. In Hull wurde die Polizei mit Steinen und Feuerwerkskörpern angegriffen, Geschäfte wurden geplündert und ein Hotel, in dem Geflüchtete untergebracht waren, angegriffen. In Bristol gelang es mehreren hundert Antifaschisten, eine kleine Anti-Migranten-Demonstration der rechten Fußball-Hooligans der Stadt aus einem zentralen Park zu vertreiben. Anschließend kam es zu Zusammenstößen vor einem Hotel für Geflüchtete.

In Belfast, im Norden Irlands, griffen loyalistische Randalierer Geschäfte von Einwanderern an und zündeten Autos an. Es scheint, dass sie randalierten, um der Welt zu zeigen, wie britisch sie sind.

Am Sonntag, dem 4. August, kam es wohl zu den schlimmsten Ausschreitungen. In Middlesbrough kam es zu einem Pogrom, bei dem ein Mob weißer Randalierer Häuser und Autos in einem asiatischen Viertel der Stadt angriff. In Rotherham und Tamworth wurden Hotels, in denen Geflüchtete untergebracht waren, von randalierenden Mobs in Brand gesteckt. Ein antifaschistischer Gegenprotest musste sich unter Polizeischutz aus dem Hotel in Rotherham zurückziehen, nachdem er von einem randalierenden rechtsextremen Mob, der Wurfgeschosse auf Antifaschisten und die Polizei warf, im Verhältnis 10:1 unterlegen war. Auch in Solihull und Lancaster kam es zu Unruhen.

Proteste gegen Migranten fanden in Bolton, Birmingham, Hull, Weymouth und Sheffield statt. In Bolton nahmen mehrere hundert Männer der Muslim Defence League an einer Gegendemonstration teil und mussten von der Polizei zurückgehalten werden. In Sheffield und Weymouth kam es zu kleineren Ausbrüchen von Gewalt. In Cardiff, Wales, gab es eine kleine Anti-Migranten-Demonstration, die von Antifaschisten zahlenmäßig deutlich übertroffen wurde. In Wales kam es bisher zu keinen Ausschreitungen.

Das Blatt beginnt sich zu wenden

Am darauffolgenden Montag schienen die Ausschreitungen in England abzuflauen. In Darlington kam es zu kleineren Ausschreitungen und in Plymouth zu einem relativ großen Protest gegen Migranten und einem antifaschistischen Gegenprotest. Die Bereitschaftspolizei musste die beiden Seiten auseinanderhalten, und es kam zu Zusammenstößen zwischen beiden Seiten. Der UKIP-Anführer  Tenconi war ebenfalls anwesend und berichtete in den sozialen Medien über den Protest. In Belfast kam es zu schweren Ausschreitungen und rassistischer Gewalt, an denen laut Polizei loyalistische Paramilitärs beteiligt waren.

Während die Unruhen abzuflauen schienen, wurde im Chat der Gruppe «Southport Wake Up», die inzwischen 13.000 Mitglieder hatte, eine Liste mit 39 Anwälten und Wohlfahrtsverbänden für Einwanderungsfragen aus dem ganzen Land veröffentlicht. Der für die Liste verantwortliche Chat-Administrator forderte die Migrationsgegner auf, am Mittwochabend um 20:00 Uhr gleichzeitig Brandanschläge auf die 39 Orte zu verüben. Über die Drohung wurde in den Medien ausführlich berichtet und sie verbreitete sich viral in den sozialen Medien, was zu Dutzenden von antifaschistischen Mobilisierungen an den bedrohten Orten führte.

Die Unruhen mögen zwar abgeflaut sein, aber die Feindseligkeit gegenüber Migranten und der gewalttätige Rassismus sind nach wie vor tief in der britischen Gesellschaft verwurzelt.

Am Dienstagabend kam es in Belfast zu weiteren Ausschreitungen und rassistischen Gewalttaten, nicht aber in England. Zu diesem Zeitpunkt war die Welle der polizeilichen Repression in vollem Gange, und es gab fast 400 Festnahmen. Premierminister Keir Starmer hatte versprochen, die Krawallmacher würden «die volle Härte des Gesetzes zu spüren bekommen». Damit wollte er an die Reaktion des britischen Staates auf die Unruhen im August 2011 anknüpfen, als Starmer Chef der Staatsanwaltschaft war. 2011 reagierte der Staat auf eine Welle von Anti-Polizei-Krawallen nach der Ermordung eines jungen schwarzen Vaters, indem er alle Festgenommenen in Untersuchungshaft nahm und Schnellgerichte etablierte, die lange Haftstrafen verhängten.

Am Mittwoch, dem 7. August, gingen Tausende von Antifaschisten an 30 verschiedenen Orten auf die Straße. Es gab große Proteste in London, Bristol, Birmingham, Sheffield und Liverpool, und nur eine Handvoll rechtsextremer Proteste fand an Orten statt, die auf der Liste für Brandanschläge standen. Brandanschläge gab es keine - den britischen Neonazi-Terroristen fehlt es offenbar an Militanz.

Langfristige Ziele

Die britische Linke war zunächst von den Unruhen schockiert, wurde aber schnell aktiv. Die Diskussionen in der Linken drehten sich vor allem um die Frage, wie darauf zu reagieren sei, und es wurde eine Reihe neuer Projekte und Bündnisse gegründet. Antifaschisten sind nach der Größe der antirassistischen Proteste am Mittwochabend besonders ermutigt, und die Demonstrationen sollen am Wochenende fortgesetzt werden.

Es ist jedoch von entscheidender Bedeutung, dass die Reaktion der Linken tiefer geht, da diese Krawalle in einem Kontext des Bruchs und der Instabilität nach Jahrzehnten der Stagnation, des politischen Aufruhrs und der sozialen Katastrophe der Pandemie stattfinden, so Michael Richmond, Mitautor von «Fractured: Ethnie, Klasse, Geschlecht und der Hass der Identitätspolitik».

Richmond sagt: «Die Ursachen liegen auf der Hand: Beide großen Parteien und die Medien haben seit den 1960er Jahren abwechselnd rassistische Einwanderungsgesetze entworfen und moralische Panik vor Geflüchteten und Asylbewerbern, vor ‚schwarzer Kriminalität‘, ‚asiatischen Kinderbanden‘ und ‚muslimischen Terroristen‘ geschürt. Die rassistische Gewalt, die wir jetzt erleben, ist eigentlich eine Konstante in der britischen Gesellschaft. Diese Pogrome sind mit der Gewalt des britischen Kolonialismus verbunden und haben nicht nur 1919, sondern auch 1948/49, 1958 und 2001 stattgefunden. Nach jeder dieser Wellen rassistischer Gewalt hat der britische Staat in ähnlicher Weise reagiert: Er hat die Grenzgesetze verschärft und neue Polizeibefugnisse eingeführt, die oft zur Unterdrückung rassistischer Minderheiten und der Linken führen.»

Richmond weist darauf hin, dass die ethnischen Unruhen von 1919 im Januar in Glasgow begannen und die landesweite Welle der Unruhen erst im August abebbte. Die Unruhen mögen zwar abgeflaut sein, aber die Feindseligkeit gegenüber Migranten und der gewalttätige Rassismus sind nach wie vor tief in der britischen Gesellschaft verwurzelt.