Nachricht | Krieg / Frieden - Westeuropa - Europa2024 Schwedens NATO-Beitritt — und was dann?

Die Linke lehnt das Militärbündnis zu Recht ab, muss aber nun eine Position innerhalb dessen finden.

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Anhänger*innen der schwedischen Linkspartei marschieren durch Malmö am Internationalen Tag der Arbeit, 01.05.2023. Foto: IMAGO / TT

Ende März dieses Jahres stimmte das schwedische Parlament mit großer Mehrheit für den Beitritt zur NATO und gab damit die traditionelle Politik der militärischen Blockfreiheit des Landes auf. Nur die Linkspartei und die Grünen stimmten gegen diesen Schritt.

Jonas Sjöstedt war von 1995 bis 2006 Mitglied des Europäischen Parlaments für die schwedische Linkspartei und von 2012 bis 2020 deren Parteivorsitzender. Er lebt derzeit in Hanoi.

Auch außerhalb des Parlaments befürwortet eine Mehrheit der schwedischen Bevölkerung den NATO-Beitritt. Im Nachbarland Finnland ist die NATO-Mitgliedschaft bereits besiegelt. Der Grund für die Kehrtwende liegt auf der Hand: Überzeugende Argumente für den NATO-Beitritt liefert den NATO-Befürworter*innen Wladimir Putin. Russlands Einmarsch in die Ukraine und die Besetzung von Teilen der Ukraine haben die öffentliche Meinung nachhaltig verändert.

Die schwedische Entscheidung über den NATO-Beitritt wurde faktisch schon im Juni 2022 getroffen, als Schwedens Sozialdemokraten ihre Haltung in dieser Frage änderten. Das Thema wurde kaum in der Öffentlichkeit diskutiert, auch weil es kein Referendum gab. Die Wähler*innen konnten keinerlei Einfluss auf die kurz vor den Parlamentswahlen im September übereilt durchgeführte Abstimmung nehmen.

Ich bin gegen die NATO-Mitgliedschaft Schwedens. Bisher hat es keine kritische Prüfung der Folgen eines Beitritts gegeben, geschweige denn eine öffentliche Debatte über eine Frage, die durch ein Referendum hätte entschieden werden müssen. Schwedens Politik der Neutralität und Blockfreiheit hat sich bewährt. Wir haben uns mehr als 200 Jahre lang aus Kriegen herausgehalten. Auf Grundlage der Blockfreiheit konnten wir eine glaubwürdige Außenpolitik der Abrüstung und der Menschenrechte verfolgen.

Ich glaube auch, dass wir NATO-Kritiker*innen in entscheidenden Punkten bereits Recht bekommen haben.

Schauen wir dazu zunächst auf die Türkei. Die unterwürfige Haltung sowohl der Sozialdemokraten als auch der neuen, rechten schwedischen Regierung gegenüber Erdoğan war geradezu peinlich. Mit ihrem Schweigen angesichts der Einschränkungen der Demokratie in der Türkei gefährden sie die Rechtsstaatlichkeit in Schweden und lassen die Kurd*innen sowohl in der Türkei als auch in Syrien im Stich.

Unsere Einschätzung, dass Schwedens engagierte und unabhängige Außenpolitik in der NATO weniger Raum haben wird, hat sich bestätigt. Das Einknicken vor der Türkei zeigt, dass unsere Außenpolitik bereits der Linie des transatlantischen Militärbündnisses folgt.

Auch in Bezug auf die Atomwaffen lagen wir richtig. Schwedens Stimme für eine nukleare Abrüstung ist verstummt. Stattdessen folgt das Land dem Kurs des Militärbündnisses, das den potenziellen Einsatz von Atomwaffen als zentrales Element in seine Militärstrategie aufgenommen hat.

Doch es ist eine Sache, Recht zu behalten, und eine andere, zu erreichen, was man sich vorstellt. Die Befürworter*innen der NATO-Mitgliedschaft zeigen keinerlei Interesse daran, die davon erhofften Vorteile auf den Prüfstand zu stellen oder sich gar auf eine Diskussion mit ihren Gegner*innen einzulassen. Sie haben sich bereits festgelegt und die bislang bewährte Politik der Blockfreiheit verworfen.

Alles deutet auf Schwedens baldigen NATO-Beitritt hin. Der Wahlsieg Erdoğans und der AKP bei den türkischen Wahlen könnte ihn etwas verzögern. Doch die schwedische Regierung hat bereits unter Beweis gestellt, dass sie bereit ist, dem Autokraten in Ankara jedes notwendige Zugeständnis zu machen, sei es der Verrat an den Kurd*innen, die ISIS besiegt haben, die Abschiebung politischer Geflüchteter zurück in die Türkei, Verhaftungen oder der Verkauf von Waffen, die gegen Zivilist*innen in Syrien, im Irak oder der Türkei selbst eingesetzt werden können. Der schwedische Premierminister Ulf Kristersson konnte Erdoğan in der Wahlnacht nicht schnell genug gratulieren und erklärte: «Unsere gemeinsame Sicherheit ist eine zukünftige Priorität».

Wie geht es weiter?

Auf dem politischen Spielfeld ist es üblich, dass man sich mit Situationen auseinandersetzen muss, in denen man lieber erst gar nicht gelandet wäre. Die Linke in Schweden – und in Europa – muss sich langsam fragen, wie sie mit dem NATO-Beitritt Schwedens und Finnlands umgehen soll. Der politische Spielraum für eine eigenständige schwedische Außen-, Sicherheits- und Verteidigungspolitik schrumpft zwar, aber er verschwindet nicht. So könnte Schweden Allianzen mit gleichgesinnten NATO-Kritikern in anderen nordischen und europäischen Ländern bilden.

Im Folgenden mache ich Vorschläge, welche Schritte Schweden meiner Einschätzung nach im Anschluss an den NATO-Beitritt unternehmen und welche Positionen die Linkspartei im Hinblick auf Schweden als neues NATO-Mitglied vertreten sollte.

  1. Fortgesetzte Unterstützung für die Ukraine

    Die Unterstützung für die Ukraine muss unvermindert fortgesetzt werden. Wir müssen der Ukraine helfen, sich zu befreien und Frieden zu Bedingungen zu erreichen, die sie akzeptieren kann. Russlands Angriffe auf das Nachbarland, Kriegsverbrechen und Verstöße gegen das Völkerrecht dürfen sich nicht auszahlen.

    Letztlich geht es auch um die europäische Sicherheitsordnung und unsere eigene Sicherheit. Schweden und Finnland haben als blockfreie Staaten die Ukraine umfassend unterstützt. Die Linkspartei hat diese Politik vorbehaltlos unterstützt. Diese Unterstützung muss fortgesetzt werden, auch wenn NATO-Länder wie Ungarn und die Türkei in dieser Frage ein doppeltes Spiel spielen. Und selbst wenn die Unterstützung der USA für die Ukraine nach den nächsten Präsidentschaftswahlen enden sollte, müssen wir an unserem Kurs festhalten.
  2. Keine NATO-Truppen und keine Atomwaffen in Schweden

    Der NATO-Beitritt von Schweden und Finnland geht mit dem Risiko einher, dass er langfristig zur Aufrüstung und zu verstärkten Spannungen im Ostseeraum beitragen wird. Derzeit ist das russische Militär infolge seiner Verluste in der Ukraine stark geschwächt. Russische Militäreinheiten, die normalerweise in der Nähe der Ostsee stationiert sind, wurden im Ukraine-Krieg eingesetzt und haben zum Teil schwere Verluste erlitten.

    Im Gegensatz zu dem, was einige Befürworter*innen einer NATO-Mitgliedschaft glauben, gibt es keine Anzeichen dafür, dass Russland einen Angriff auf Schweden geplant hat, und die Fähigkeit des Landes, derartige Operationen durchzuführen, ist inzwischen stark eingeschränkt. Längerfristig wird Russland jedoch wieder aufrüsten, wenn es seinen politischen Kurs nicht ändert. Ein Nein zur Stationierung von ausländischen NATO-Truppen und zu Atomwaffen auf schwedischem Boden trägt dazu bei, den Aufrüstungsprozess zu verlangsamen und die Spannungen in unserer unmittelbaren Umgebung zu verringern.
  3. Schweden muss sich klar zur nuklearen Abrüstung bekennen

    Schweden muss seine Rolle als Verfechter der nuklearen Abrüstung und der weltweiten Abschaffung von Atomwaffen wieder aufnehmen. Das Engagement hin zur nuklearen Abrüstung innerhalb der UNO braucht starke Unterstützung.
  4. Schweden muss sich auf der internationalen Bühne für Demokratie und Menschenrechte einsetzen

    Schwedens beschämendes Schweigen und seine Beschwichtigungspolitik im Hinblick auf die Unterdrückung in der Türkei hat unserem außenpolitischen Ruf bereits geschadet. Wir müssen wieder zu einer vertrauenswürdigen Politik zurückkehren, die Demokratie und Menschenrechte schützt, und unsere Stimme erheben, unabhängig davon, ob die Kritik Russland, China, die Türkei oder die USA betrifft.

    In diesem Jahr jährt sich zum 20. Mal der völkerrechtswidrige und verbrecherische Einmarsch der USA in den Irak mit seinen verheerenden Folgen für Millionen von Menschen in der gesamten Region. Schweden und Finnland haben sich nicht an der US-Invasion beteiligt. Als NATO-Mitglied musste sich Dänemark jedoch dem politischen Druck beugen und der amerikanischen Außenpolitik folgen. Andere NATO-Länder reagierten hingegen anders auf die Invasion. Schweden sollte weiterhin das Völkerrecht verteidigen, die Vereinten Nationen stärken und militärische Interventionen ablehnen.
  5. Eine breitere sicherheitspolitische Perspektive einnehmen und die Abhängigkeit von Russland beenden

    Russlands Militärbudget beträgt weniger als ein Zehntel des NATO-Budgets. Alles deutet darauf hin, dass Russland aus dem Ukraine-Krieg militärisch, wirtschaftlich und politisch in einer wesentlich schwächeren Position hervorgehen wird. Solange Putin jedoch an der Macht bleibt, wird Russland eine Bedrohung für die Sicherheit seiner Nachbarländer wie der Republik Moldau, , Georgien und der Ukraine darstellen.

    Schwedens und Europas Schwachstelle gegenüber Russland ist die Abhängigkeit von russischem Öl, Gas und Uran. Dieser Abhängigkeit müssen wir ein Ende setzen. Mit einer entsprechenden Politik können wir gleichzeitig den Übergang zu erneuerbaren Energieträgern vorantreiben und die Treibhausgasemissionen reduzieren.

    Der Krieg hat für eine starke antirussische Stimmung gesorgt. Das mag verständlich sein, aber die Linkspartei muss klar zwischen der russischen Bevölkerung, die sich diesen Krieg nicht ausgesucht hat, und dem russischen Regime unterscheiden. Trotz aller Schwierigkeiten müssen wir versuchen, mit den fortschrittlichen Kräften in der russischen Gesellschaft verbunden zu bleiben. Wir sollten russische Oppositionelle und Kriegsverweigerer, die in unsere Länder fliehen, willkommen heißen und darüber hinaus unsere Zusammenarbeit mit der Linken in der Ukraine verstärken.

    Eines Tages wird Putins Herrschaft enden. Wir sollten eine Politik verfolgen, die es wahrscheinlicher macht, dass sich Russland dann in eine demokratische Richtung entwickelt und bessere Beziehungen zu seinen Nachbarn aufbaut. Russophobie ist in Schweden und Finnland historisch tief verwurzelt, aber sie kann dem Aufbau neuer Beziehungen nicht zuträglich sein.
  6. Am langfristigen Ziel der Abrüstung festhalten

    Nach dem russischen Angriff auf die Ukraine haben sich die nordischen Linksparteien für eine Stärkung der militärischen Kapazitäten unserer Länder und eine Erhöhung der Verteidigungsausgaben ausgesprochen. Gleichzeitig hegt die Linke eine gesunde Skepsis gegenüber Militarismus, Rüstung und dem militärisch-industriellen Komplex. In den meisten europäischen Ländern findet derzeit eine massive Aufrüstung statt, bei der Ressourcen, die für soziale und ökologische Investitionen verwendet werden könnten, in Waffen und das Militär fließen.

    Nach der Befreiung der Ukraine muss es unser langfristiges Ziel sein, in ganz Europa gemeinsam für Sicherheit und Abrüstung zu sorgen. Der Tag wird kommen, an dem Putin Geschichte ist und Russland sich in eine demokratische Richtung entwickeln kann. Wir müssen langfristig gemeinsame Strukturen der Sicherheit und Abrüstung aufbauen, die ein demokratisches und nicht-imperialistisches Russland mit einbeziehen. Auch Russland selbst muss dringend in soziale Entwicklung, moderne Infrastruktur und Alternativen zu fossilen Brennstoffen investieren, anstatt aufzurüsten.

Gemeinsam ein sicheres Europa aufbauen

Die Debatte über unsere Außen- und Sicherheitspolitik wird auch nach Schwedens NATO-Beitritt weitergehen. In dieser Debatte sind kritische und vernünftige Stimmen gefragt. Es ist schwer vorherzusagen, wie sich Russland nach einer Niederlage im Krieg mit der Ukraine verändern wird. Die Niederlage im Krieg gegen Japan im Jahr 1905, die Niederlage im Ersten Weltkrieg und die Niederlage der Sowjetunion in Afghanistan haben allesamt große Veränderungen in Russland hervorgebracht. Dies kann sich wiederholen – eine Möglichkeit, die sowohl Risiken als auch Chancen birgt.

Der russische Angriff auf die Ukraine hat die NATO und die Unterstützung für das Militärbündnis gestärkt. Dies könnte sich in Zukunft ändern, insbesondere für den Fall, dass das Schlimmste eintritt und Trump erneut zum Präsidenten der Vereinigten Staaten gewählt wird. Die Befürworter*innen der NATO scheinen diese Gefahr außer Acht lassen zu wollen, aber wir als NATO-Kritiker*innen sollten darüber nachdenken. Denn Trumps Wahlsieg würde eine neue Debatte über alternative außen- und sicherheitspolitische Vereinbarungen und eine mögliche Verteidigungszusammenarbeit in Europa und zwischen den nordischen Ländern auslösen.

Der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine hat auch dazu beigetragen, die NATO zu einen und dem Bündnis einen neuen Sinn zu geben. Dennoch bleiben die internen Differenzen eklatant. Ungarn unter Orbán ist für Putin ein trojanisches Pferd. Erdoğans Türkei ist ein autoritäres, repressives, illoyales und aggressives NATO-Mitglied. Und wahrscheinlich werden die USA und Europa nicht die gleichen Interessen und die gleiche Politik verfolgen, wenn es um die künftigen Beziehungen zu China geht.

Die überwiegende Mehrheit der linken Kräfte in Europa hat den illegalen und ungerechtfertigten Angriff Russlands auf die Ukraine klar verurteilt und die finanzielle Unterstützung zur Stärkung der ukrainischen Verteidigung unterstützt. Es gab aber auch Stimmen, die eher pro-russische Positionen vertraten. Rechtfertigungen für Russlands Aggression in der Ukraine sind für die Linksparteien in den nordischen Ländern und Parteien wie Razem in Polen äußerst schwer zu akzeptieren und zu verstehen. Wir betrachten das heutige Russland als autoritär, imperialistisch und rechtslastig – eine von Putin und seinen Oligarch*innen angeführte Kleptokratie. Die Verurteilung des US-amerikanischen Imperialismus ist kaum glaubwürdig, wenn sie von diejenigen kommt, die den russischen Imperialismus gutheißen.

Die jeweilige Haltung zu Russlands Krieg in der Ukraine ist von erheblicher Bedeutung und könnte linke Parteien in Europa spalten und ihre künftige Zusammenarbeit beeinflussen. Ich hoffe, dass wir uns darauf einigen können, die russische Invasion scharf zu verurteilen und die Ukraine weiter zu unterstützen, und dass wir bessere Lösungen für unsere gemeinsame Sicherheit anstreben als die heutige NATO.

Aus dem Englischen für Gegensatz Translation Collective von Conny Gritzner und Camilla Elle.