Nachricht | Partizipation / Bürgerrechte - Grundgesetz Wehrhafte Demokratie

Ein kurzer Abriss ihrer historischen Entwicklung

Information

Demonstranten halten ein Schild, darauf eine Justizia-Figur mit einem Grundgesetz unter dem Arm und einem Schriftzug "Für eine wehrhafte Demokratie"
Demonstration «Demokratie verteidigen – Zusammen gegen Rechts» am 21.1.2024 in Berlin. Die Demos in Berlin und vielen anderen Orten fanden statt, nachdem die Beteiligung von AfD-Politikern an einem rechtsextremen Treffen in Potsdam bekannt geworden war. Dort wurden unter anderem Deportationspläne diskutiert. Foto: IMAGO / Middle East Images

75 Jahre nach Verabschiedung des Grundgesetzes scheint die darauf begründete Demokratie in Deutschland so bedroht wie lange nicht mehr. Herausgegeben von Bielefelder Professor für öffentliches Recht und Rechtstheorie Andreas Fisahn erscheint Mai 2024 im Hamburger VSA:Verlag und der Reihe AttacBasisTexte ein Band, in dem auch mögliche Interventionen gegen die AfD im Kontext der «wehrhaften Demokratie» diskutiert werden. Nachfolgend publizieren wir daraus einen Auszug, in dem sich die Autor*innen kritisch jedoch mit der Geschichte des Konzeptes auseinandersetzen. Wir danken Verlag und den Autor*innen ganz herzlich für die Erlaubnis, ihren Text hier dokumentieren zu dürfen!

Wehrhafte Demokratie

Andreas Fisahn ist Professor für öffentliches Recht und Rechtstheorie an der Universität Bielefeld. Hânde Yazıcıoğlu und Melanie Engels sind wissenschaftliche Mitarbeiterinnen und Doktorandinnen an der Universität Bielefeld.

Das Grundgesetz enthielt schon bei seinem Inkrafttreten Vorkehrungen gegen die Abschaffung der Demokratie und des Rechtsstaates. Diese Artikel seien, so wurden sie zusammengefasst, Ausdruck einer «wehrhaften Demokratie», einer Demokratie, die sich gegen ihre Feinde zu wehren weiß und diesen Feinden keine Chance gibt, die politische Macht zu erobern. Dabei wurden die Mechanismen der wehrhaften Demokratie in der Geschichte der BRD vor allem gegen links eingesetzt. Die Begriffsbildung selbst erfolgte in der Auseinandersetzung um repressive Maßnahmen gegen Linke. Mit dem Aufstieg der AfD könnte sich das ändern. Gefragt wird deshalb, mit welchen rechtlichen Instrumenten der Aufstieg dieser rechtsextremen Partei und der antidemokratische Umbau der Gesellschaft mitsamt des politischen Systems gestoppt werden können.

Die Überzeugung, dass die Verfassung einen Schutz gegen die Abschaffung der Demokratie braucht, entsprang den Erfahrungen aus dem Scheitern der Weimarer Republik und dem Aufstieg des Nationalsozialismus. Als verfassungspolitisches Fundament staatlicher Maßnahmen gerät die wehrhafte Demokratie jedoch zwangsläufig zu einem Balanceakt zwischen dem Schutz vor vermeintlichen «Feinden» der Demokratie und dem Erhalt demokratischer Grundprinzipien.

Die Praxis war dabei bisher von einer gewissen Einseitigkeit geprägt, da sich die in ihrem Namen angewandten Maßnahmen in der Regel ausschließlich gegen politische Gegner aus dem linken Lager richteten. In der Rückschau stellen sich Fragen hinsichtlich der Verhältnismäßigkeit der Mittel und der Gefahr, dass die wehrhafte Demokratie selbst zu einem Instrument der Beschränkung von politischen Meinungen werden könnte.

Aber der Rechtsstaat sieht sich angesichts der steigenden Stimmenzahl der AfD mit neuen Herausforderungen konfrontiert. Der zunehmende Erfolg der Partei sowie der erneute Aufstieg rechtspopulistischer und nationalistischer Strömungen wirft Fragen nach heute möglichen rechtlichen Maßnahmen gegen ein erneutes Erstarken rechter Parteien und Ideologien auf.

Begriff und Geschichte der wehrhaften Demokratie

Bei der Bezeichnung «wehrhafte Demokratie» handelt es sich zunächst um ein Normensystem, mit dem sich die Verfassung gegen Bedrohungen von innen und außen verteidigt und die demokratische Ordnung gegen antidemokratische Ideologien und autoritäre Tendenzen geschützt werden soll. Die wehrhafte Demokratie umfasst einen Instrumentenkoffer aus sowohl strafrechtlichen als auch verfassungsrechtlichen Vorkehrungen. Die invasivsten sind in der Verfassung geregelt, wie zum Beispiel die Verwirkung von Grundrechten gemäß Art. 18 GG oder das Parteiverbotsverfahren gemäß Art. 21 Abs. 2 GG. Seit 2017 existiert zudem in Art. 21 Abs. 3 GG die Möglichkeit, eine Partei von der staatlichen Finanzierung auszuschließen. Auch das Strafgesetzbuch enthält zwischen § 80 StGB und § 130 StGB einen Abschnitt, der sich auf politische Straftaten bezieht.

Diese Normen ahnden Straftaten wie den Hochverrat, den Landesverrat, Terrorismus sowie die Verbreitung verfassungswidriger Propaganda. All dies sind Maßnahmen, die auch als Mittel des präventiven Verfassungsschutzes bezeichnet werden. Und wie der Name es schon vermuten lässt, sind und waren an der Umsetzung der wehrhaften Demokratie stets auch die Verfassungsschutzbehörden beteiligt, welche von den Innenministerien beauftragt sind, potenzielle «Feinde der Demokratie» zu beobachten und Informationen über sie zu sammeln. Im Verfassungsschutzbericht wird der Verfassungsschutz als «unverzichtbares Mittel der wehrhaften Demokratie» bezeichnet.[1]

Um dieser von der Regierung übertragenen Aufgabe gerecht zu werden, treffen die Ämter Entscheidungen darüber, welche politischen Akteure im Einklang mit den Grundsätzen der freiheitlichen demokratischen Grundordnung agieren und welche nicht. Es hängt dabei auch von der personellen Besetzung der Ämter ab, auf welches politische Spektrum der Fokus der Überwachung gelegt wird – dies zeigte sich eindrücklich an der Zeit des Amtes unter dem Präsidenten Hans-Georg Maaßen und den Versäumnissen hinsichtlich des «Nationalsozialistischen Untergrunds (NSU). Maaßen äußerte sich nach seiner Ablösung mehrfach in einer Weise, die selbst Zweifel an seiner demokratischen Gesinnung aufkommen ließ; die CDU beantragte ein Parteiausschlussverfahren gegen ihn, der schließlich eine neue Partei rechts von der CDU gründete. Für Maaßen galt: Der Feind steht links.

Die wehrhafte Demokratie erfuhr im Laufe der Geschichte und gerade in der noch jungen Bundesrepublik eine immer stärkere ideologische Aufladung, was sich unter anderem mit den Auswirkungen des Kalten Kriegs begründen lässt. Denn letztlich wurden die Maßnahmen nicht vorwiegend gegen Neo- und Altnazis angewandt. Vielmehr richteten sich die staatlichen Repressionen im Namen der wehrhaften Demokratie in der Regel gegen Kommunisten und Linke. Es lohnt ein Blick in die Geschichte und auf die Anwendungsseite der wehrhaften Demokratie, um das Potenzial sowie die Risiken für den Rechtsstaat zu skizzieren.

Die Notstandsgesetze

Die Notstandsgesetze wurden am 30. Mai 1968 vom Bundestag unter dem CDU geführten Kabinett von Kurt Georg Kiesinger verabschiedet. Sie sollten dem Staat erweiterte Befugnisse zur Bewältigung innerer Notstände verleihen, um demokratische Institutionen schützen zu können. Die Regierung soll zur Abwendung einer Staatskrise für eine Zeit von maximal sechs Monaten auch ohne die Beteiligung des Bundestages handlungsfähig sein. Im Falle eines «inneren Notstandes» - wozu neben Naturkatastrophen unter anderem auch die Bedrohung der Grundordnung durch militärische Aufstände zählt – erhielt die Bundesregierung durch die Gesetzesänderungen weite Befugnisse. Sie kann ohne Beteiligung des Parlaments unterschiedlichste Maßnahmen ergreifen, um die öffentliche Sicherheit und Ordnung wiederherzustellen.

Sie kann Grundrechte suspendieren und die Bundeswehr im Inland einsetzen. Grund- und Bürgerrechte, insbesondere die Freiheit der Person, die Freizügigkeit, das Briefgeheimnis und das Versammlungsrecht können eingeschränkt werden. Das heißt, die Regierung kann Versammlungen – und damit die kollektive Meinungsfreiheit – einschränken, ohne dafür die sonst im Rahmen der Verhältnismäßigkeit notwendige Gesetzesgrundlage für diese Eingriffe zu schaffen und einzuhalten.

Es existierten schon damals unterschiedliche Vorschriften, die politisch motivierte Taten unter Strafe stellten. Im Entwurf der Notstandsgesetze hieß es jedoch, dass das politische Strafrecht für einen «wirksamen Schutz des Staatswesens vor Angriffen gegen seinen Bestand, seine Sicherheit oder seine freiheitliche demokratische Grundordnung» nicht ausreiche.[2]

Die öffentliche Reaktion auf die Einführung der Notstandsverfassung war groß. Die Außerparlamentarische Opposition (APO) und die Studentenbewegung organisierten Protestmärsche in ganz Deutschland. Die Gegner der Gesetze befürchteten eine repressive Praxis, die Grundrechte leerlaufen lässt, was an die Zeit des Nationalsozialismus erinnerte. Gedacht wurde nicht zuletzt auch an die Erfahrungen mit der Weimarer Verfassung. In dieser wurde dem Reichspräsidenten die Kompetenz eingeräumt, bei Gefährdungen der öffentlichen Sicherheit und Ordnung sogenannte Notstandsverordnungen zu erlassen, was die Außerkraftsetzung von Grundrechten ermöglichte. Unter Anwendung dieser Instrumente wurde auf Initiative der Nationalsozialisten die Reichstagsbrandverordnung durch den Reichspräsidenten von Hindenburg erlassen. Dies leitete die Verfolgung politischer Gegner sowie Andersdenkender ein.

Vor diesem Hintergrund wurden die Notstandsgesetze von einigen linken Gruppen auch als Symbol für eine (wieder-)kommende Unterdrückung durch den Staat betrachtet. Die Notstandsgesetze sind zwar bisher nicht angewandt worden, können aber in den Händen einer rechts-nationalistischen Regierung, die sich nicht den demokratischen Grundwerten verpflichtet sieht, zu einer Gefahr für die Demokratie, den Rechtsstaat und politische Gegner werden.

Die Berufsverbote der 1970er-Jahre

Die wehrhafte Demokratie diente dann als Rechtfertigung, um zusätzliche Maßnahmen gegen die «Feinde» der Demokratie einzuführen. In den 1970er- und 1980er-Jahren war die Regierung der Meinung, man müsse Staatsdiener stärker auf ihre Staats- bzw. Verfassungstreue überprüfen und dürfe nur verfassungstreue Personen in den öffentlichen Dienst einstellen. Zu diesem Zweck wurde 1972 der «Radikalenerlass» verabschiedet,[3] auf den die Berufsverbotspraxis – so beurteilten Kritiker die Maßnahmen – folgen sollte.

Der Ausschluss von politisch unliebsamen Personen aus dem öffentlichen Dienst war kein völlig neuartiges Phänomen. In der Geschichte gab es bereits derartige Maßnahmen gegen vermeintliche Staatsfeinde. Am 7. April 1933 erließ die nationalsozialistische Reichsregierung das «Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums».[4] Die politische Ausrichtung des Gesetzes wurde vier Tage später klar, als die erste Durchführungsverordnung unteranderem bestimmte: «Ungeeignet sind alle Beamten, die der Kommunistischen Partei oder kommunistischen Hilfs- oder Ersatzorganisation angehören. Sie sind daher zu entlassen.»[5]

Zu erwähnen ist auch der «Adenauer-Erlass», mit dem Personen aus dem Staatsdienst ausgeschlossen werden konnten, die die Regierung als verfassungsfeindlich einstufte. «Mit dem sogenannten Adenauer-Erlass vom 19. September 1950 begann die Strafverfolgung von Mitgliedern einer von der Bundesregierung als verfassungsfeindlich eingestuften Organisation. Der Erlass richtete sich offiziell sowohl gegen rechts- als auch gegen linksextreme Gruppen. Hauptziel des Erlasses waren jedoch kommunistische oder kommunistisch geprägte Vereinigungen.»[6] Schon vor dem KPD-Verbot im Jahr 1956 und verstärkt danach wurden 125.000 Ermittlungsverfahren wegen politischer Delikte, einschließlich Spionage für die DDR, eingeleitet. Es kam zu ca. 7.000 Verurteilungen. Nach den Recherchen von Alexander von Brünneck waren über 90% der Betroffenen Kommunisten.[7]

Der Blick gen Osten, mit dem sich der Westen im Kalten Krieg befand, versperrte die Sicht auf die Ex-Nazis, die sich in den eigenen Reihen breitmachten. Die Fokussierung auf eine vermeintliche Gefahr durch die KPD und später DKP entsprach nie der Realität. Ehemalige Nazi-Funktionäre wurden nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs nach und nach in amtlichen Positionen reinstalliert. In diesem Prozess wurden auch Sicherheitsbehörden wie der Verfassungsschutz mit ehemaligen Nazis besetzt.

Ein bekanntes Beispiel ist Hubert Schrübbers (1907–1979), der zwischen 1955 und 1972 das Amt des Präsidenten des Verfassungsschutzes bekleidete. Schrübbers war ehemaliger SA-Mann und gehörte dem Nationalsozialistischen Rechtswahrerbund und der Nationalsozialistischen Volkswohlfahrt an.[8] Es ist nicht verwunderlich, dass sich unter dieser Führung die Überwachung unliebsamer politischer Gegner vorwiegend gegen Kommunisten richtete und die Berufsverbote dieser Tradition folgend dann auch fast ausschließlich Linke betraf.

Im Januar 1972 stimmte die Ministerpräsidentenkonferenz zusammen mit Bundeskanzler Willy Brandt überein, eine Überprüfung der Verfassungstreue von allen Bewerbern und Mitarbeitern im öffentlichen Dienst einzuführen. Der «Radikalenerlass» ermöglichte es, Menschen, die als politisch radikal eingestuft wurden, den Zugang zu öffentlichen Ämtern zu verwehren. Insbesondere die Verfassungsschutzämter waren aufgerufen, Informationen zu sammeln und an die Regierung weiterzugeben. Mit dem Beschluss wurde zwar kein neues Recht geschaffen, die Anwendungsmöglichkeiten des bestehenden Rechts wurden allerdings in fragwürdigem Umfang erweitert. Jede Behörde musste fortan den damals noch geltenden § 35 BRRG (Bundesbeamtenrahmengesetz)[9] konsequent entsprechend dem Inhalt des «Radikalenerlasses» anwenden.

Die Bewerber mussten danach zu jeder Zeit sicherstellen, für die freiheitliche demokratische Grundordnung im Sinne des Grundgesetzes einzutreten. Diese Vorschrift galt nicht nur für den Fall einer Verbeamtung, sondern auch bereits für die Ausbildungs- und Studienzeit. Der Wortlaut des «Radikalenerlasses» liest sich entsprechend eindeutig: «Gehört ein Bewerber einer Organisation an, die verfassungsfeindliche Ziele verfolgt, so begründet die Mitgliedschaft Zweifel daran, ob er jederzeit für die freiheitliche demokratische Grundordnung eintreten wird. Diese Zweifel rechtfertigen in der Regel eine Ablehnung des Einstellungsantrages.»[10] «Zweifel» sind keine hohe juristische Hürde. Das heißt, dass es lediglich der Veränderung einer Stellschraube im Wortlaut einer Norm bedarf, um tief in die alltägliche Lebensführung von Menschen eingreifen zu können – und das nur aufgrund ihrer politischen Ansichten.

Im Ergebnis führte der Erlass zur Einleitung von 11.000 Berufsverbotsverfahren und der Verhängung von 1.500 Berufsverboten. Ein Großteil davon waren Lehrer, Juristen und Referendare.[11] Aber es wurden selbst Postbeamte, Eisenbahner und Sozialwissenschaftler ihrer Ämter enthoben.[12] 1.500 Fälle klingt nach keiner großen Zahl, allerdings war der Einfluss der Berufsverbote auf das politische Klima nicht unerheblich. Bis 1976 allein gab es fast eine halbe Million Überprüfungen von Bewerbern durch den Verfassungsschutz – zum Großteil ohne deren Wissen. Auch wenn Einzelne nichts von ihrer Überwachung wussten, die Tatsache, dass es geschah, war doch jedem präsent. All dies fand unter dem schützenden Argument der Demokratiebewahrung statt.

Kritisch an den Berufsverboten war, dass sich die Repressionen vor allem an der politischen Treuepflicht orientierten. Damit verschwammen die Grenzen zwischen einer gerichtlich feststellbaren Verfassungswidrigkeit und der begrifflich sehr weiteren Verfassungsfeindlichkeit, die als Maßstab für die geforderte Beurteilung als Radikaler herangezogen wurde. Die Mitgliedschaft in der DKP oder einer ihrer «Vorfeldorganisationen» wurde durch den Verfassungsschutz in der Regel als verfassungsfeindlich eingestuft. Die KPD war bereits verboten und galt folglich als verfassungswidrig. Die DKP hatte sich 1968 neu gegründet und besteht bis heute ohne nennenswerten Einfluss. Ein Verbotsverfahren gegen die Partei, die sich stark an der DDR orientierte, wurde niemals eingeleitet.

Im Zentrum linker Diskurse stand auch damals eine Kritik des kapitalistischen Wirtschaftssystems und nicht der Demokratie. Eine bestimmte Wirtschaftsordnung ist im Grundgesetz nicht festgeschrieben, geschweige denn Teil der freiheitlichen demokratischen Grundordnung. Das Grundgesetz sei wirtschaftspolitisch neutral, entschied das Bundesverfassungsgericht mehrfach.[13] Das bedeutet, dass die Forderung nach einer alternativen Wirtschaftsordnung dem Grundgesetz nicht zuwiderläuft.

Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte bescheinigte der BRD, dass der Radikalenerlass und seine Umsetzung mit der europäischen Menschenrechtskonvention nicht vereinbar waren. Eine Lehrerin, die im Jahr 1986 aufgrund ihrer DKP-Mitgliedschaft ihres Amtes enthoben wurde, klagte gegen ihre Entlassung bis zum Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte – und bekam Recht.[14] Dieses Urteil lässt sich sicher auf zahlreiche andere Berufsverbotsfälle übertragen.[15] Die Argumentation mit der «wehrhaften Demokratie» konnte die europäischen Richter nicht überzeugen. Eine – auch rechtliche – Aufarbeitung der Praxis fand bisher nicht statt.

Die Rote-Armee-Fraktion (RAF)

Die Rote-Armee-Fraktion oder auch die Baader-Meinhof-Gruppe war eine linksradikale Gruppierung, die in den 1970er-Jahren in der Bundesrepublik Deutschland aktiv war. Ihre Mitglieder begingen zwischen den 1970er- und 1990er-Jahren mehrere politisch motivierte Gewalttaten, bei denen sie 34 Menschen ermordeten. Bekannt wurde sie durch die Entführung des Arbeitgeberpräsidenten Hans Martin Schleyer (1915–1977) im Jahr 1977 und die Flugzeugentführung der «Landshut» im selben Jahr. Diese Ereignisse prägten eine Zeit des tiefen gesellschaftlichen und politischen Unfriedens in Deutschland, auch bekannt als «Deutscher Herbst».

Die RAF entstand aus der Studentenbewegung der 1968er-Jahre und der APO. Die APO bestand aus einer neuen Generation junger Menschen, die die Eltern aufgrund deren Verhaltens in der Zeit des Nationalsozialismus kritisierte und nun durch die Notstandsgesetze eine Wende zum autoritären Staat befürchtete. Nach einem Attentat auf den Wortführer Rudi Dutschke (1940–1979), zerfiel die Bewegung in kleine Splittergruppen. Eine dieser Gruppen war die RAF – diese verstand sich als Teil des internationalen Antiimperialismus.

Die RAF nutzte die politischen Unruhen, insbesondere den Widerstand gegen die Beteiligung Deutschlands am Vietnam-Krieg als Rechtfertigung der begangenen Gewalttaten und ihrer ideologischen Auseinandersetzung mit dem Staat. Der Vietnam-Krieg wurde von den USA in Fortsetzung eines der letzten kolonialistischen Kriege Frankreichs gegen antikolonialistische, kommunistische Rebellen in Vietnam mit ungeheurer Brutalität nicht nur gegen die Kombattanten, sondern gegen die gesamte vietnamesische Bevölkerung geführt. Das rechtfertigte selbstverständlich nicht die Terror-Strategie der RAF, die sich am Ende nicht nur gegen «Repräsentanten des Systems» richtete, sondern auch die «normale» Bevölkerung traf.

Die Gewalt der RAF und die Reaktionen des Staates, der mit unnachgiebiger Härte reagierte, schaukelten sich gegenseitig hoch. Es entstand ein Klima einer gefühlten ständigen Bedrohung und Empörung über die RAF einerseits und der Ausgrenzung von Kritik andrerseits. Wer sich falsch äußerte wurde als «Sympathisant» denunziert. Das traf selbst Berühmtheiten wie den Schriftsteller Heinrich Böll (1917–1985), der schrieb: «Überhaupt diese Gruppenbenennung, Sympathisanten, Helfershelfer, Humus, auf dem alles gewachsen ist. Damit wird ein Klima der Denunziation geschaffen, in dem kein Intellektueller mehr arbeiten kann. Ich kann in diesem gegenwärtigen Hetzklima nicht arbeiten.»[16] Die Ermittlungsmethoden wurden ausgeweitet, Strafvorschriften verschärft und das Strafprozessrecht einschneidend verändert. Der Bundestag verabschiedete eine Reihe von Anti-Terror-Gesetzen, das Bundeskriminalamt erfand die Rasterfahndung.

Ein Ergebnis aus der damaligen Reihe von Antiterror-Gesetzgebungen ist der § 129a StGB. Danach werden die Gründung und Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung unter Strafe gestellt. Letztlich fand eine Vorverlagerung der strafrechtlichen Verantwortung statt, da es für den § 129a StGB nicht notwendig ist, dass bereits eine Straftat durch eine Gruppe oder deren Mitglieder begangen wurde. Die Strafbarkeit orientiert sich eher an ideologischen und politischen Kriterien, denn wie will man eine «Mitgliedschaft» nachweisen, sind Terrorgruppen doch regelmäßig eher nicht als eingetragener Verein organisiert.

Anknüpfend an die Vorschrift wurden die Ermächtigungen der Sicherheitsbehörden zur Überwachung und Ausforschung erweitert, was immer auch Unbeteiligte trifft und als Grundrechtsbeschränkung zu werten ist. Eine ausschließliche Fokussierung auf Sicherheitsmaßnahmen allein kann die Demokratie nicht schützen, da Probleme in der Gesellschaft übergangen und die Folgen hinausgezögert werden. Nach dem Ende des RAF-Terrors hätte man den § 129a StGB und andere Vorschriften, die mit dem RAF-Terror gerechtfertigt wurden, evaluieren und möglicherweise auch streichen müssen. Stattdessen wurde die Norm mit dem § 129b StGB erweitert, der auch die Mitgliedschaft in ausländischen terroristischen Vereinigungen unter Strafe stellt.

Es zeigt sich, dass die wehrhafte Demokratie in der Vergangenheit mehrfach instrumentalisiert wurde, insbesondere indem sie die Regierungen als Vorwand zur Diskreditierung politischer Gegner nutzte. Ihr Zweck ist jedoch nicht die Unterdrückung unliebsamer Meinungen, sondern der Schutz vor Kräften, die die Demokratie und die Menschenrechte abschaffen wollen. Dieser Schutz zielt nicht auf Bedrohungen von «unten» aus der Bevölkerung ab, sondern insbesondere auf potenzielle Gefahren «von oben» durch politische Parteien, die das demokratische System gefährden könnten. Die wehrhafte Demokratie soll besonders vor dem Wiederaufleben faschistischer Tendenzen in Politik und Gesellschaft schützen. Trotzdem bleibt die Notwendigkeit, angemessene Mittel zu finden, um den erneuten Aufstieg rechtsextremer Parteien zu verhindern, ein Problem, auf welches das Grundgesetz heute eine Antwort geben muss.


[1] Bundesministerium des Innern, für Bau und Heimat (2021): Verfassungsschutzbericht 2020, S. 15 u. 17. Online unter:

www.bmi.bund.de/SharedDocs/downloads/DE/publikationen/themen/sicherheit/vsb-2020-gesamt.pdf?__blob=publicationFile&v=2 (8.3.2024).

[2] BT-Drucksache V/1880, S. 6.

[3]  NRW (1972): Beschäftigung von rechts- und linksradikalen Personen im öffentlichen Dienst. Ministerialblatt für das Land Nordrhein-Westfalen vom 29.2., S. 342. Online unter:

www.1000dokumente.de/index.html?c=dokument_de&dokument=0113_ade&object=facsimile&pimage=2&v=100&nav=&l=de (14.3.2024)

[4]  Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums, April 1933. Bundesarchiv R 187/2187. Online unter:

www.bundesarchiv.de/DE/Content/Virtuelle-Ausstellungen/NS-Digitalisierung/Berufsbeamtentum_virtuelle_ausstellung.html (8.3.2024).

[5] Erste Verordnung zur Durchführung des Gesetzes zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums vom 11. April 1933. Online unter:

www.documentarchiv.de/ns/1933/berufsbeamtentum_vo01.html (8.3.2024).

[6] Busche, Lukkas (2016): Kommunistenverfolgung in der alten Bundesrepublik. Online unter:

www.bpb.de/themen/deutschlandarchiv/225517/kommunistenverfolgung-in-der-alten-bundesrepublik/ (25.3.2024).

[7]  Brünneck, Alexander von (1978): Politische Justiz gegen Kommunisten in der Bundesrepublik Deutschland 1949–1968. Frankfurt a. M., S. 271ff.

[8] Goschler, Constantin/Wala, Michael (2015): Keine neue Gestapo: Das Bundesamt für Verfassungsschutz und die NS-Vergangenheit. Reinbek bei Hamburg, S. 170.

[9] Siehe Justiz-Online NRW (o.J.): § 35 Beamtenrechtsrahmengesetz - BRRG. Online unter:

www.lexsoft.de/cgi-bin/lexsoft/justizportal_nrw.cgi?t=171049752204991051&xid=139037,43  (10.3.2024).

[10] NRW (1972): Beschäftigung von rechts- und linksradikalen Personen im öffentlichen Dienst, wie Anm. 3.

[11] Heinz-Jung-Stiftung (Hrsg.) (2019), Wer ist denn hier der Verfassungsfeind. Radikalenerlass, Berufsverbote und was von ihnen geblieben ist. Köln, S. 114ff.

[12]  Ebd., S. 121.

[13] Vgl. zusammenfassend: Ocak, Onur (2016): Die zivilgesellschaftliche Unternehmensmitbestimmung und ihre verfassungs- und europarechtliche Bewertung. Baden-Baden, S. 77ff.

[14] EGMR, 26.09.1995 – 17851/91, Vogt / Deutschland

[15] Frankenberg, Guenther (1980): Staatstreue. Die aktuelle Spruchpraxis zu den Berufsverboten. In: Kritische Justiz, Heft 3, S. 276–294.

[16] Zit. nach Seitz, Norbert (2022): Der Skandal um Bölls «Spiegel»-Essay im Januar 1972. Deutschlandfunk vom 10.1. Online unter: www.deutschlandfunk.de/geschichte-aktuell-heinrich-boell-spiegel-essay-raf-bild-100.html (25.3.2024)